Atatürk und die Nationalsozialisten

Quelle: ANF – Atatürk und die Nazis

Türkische Handelskammer in Berlin am 26. Februar 1943


Eine blutige Operation

Schätzungsweise 50.000 kurdische Alevit*innen wurden in den Jahren 1937/38 im Zuge des Massakers in Dersim getötet – zuvor hatte die kemalistische Türkei 1937 bei den Nazis in Deutschland Giftgas eingekauft, um es gegen die rebellischen kurdischen Alevit*innen in Dersim einzusetzen. Ein geheimes Dekret über die Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas und Chloracetophenon nebst einer automatischen Abfüllanlage vom 7. August 1937 trägt die Unterschrift Atatürks. Die Bestellung erfolgte, nachdem die türkische Regierung in einem Geheimbeschluss eine „Endlösung“ für die Bergprovinz Dersim beschlossen hatten, deren kurdisch-alevitische Bewohner sich der von Ankara erzwungenen Türkisierung widersetzten und auf althergebrachten Autonomierechten bestanden. Schätzungsweise 50.000 kurdische Aleviten wurden in den Jahren 1937/38 in Dersim, das von der Regierung in den türkischen Namen Tunceli (Bronzefaust) umbenannt worden war, von der türkischen Armee ermordet. Dass damals auch Giftgas zum Einsatz kam, hatten Zeitzeug*innen berichtet. Auch der ehemalige türkische Außenminister Ihsan Sabri Caglayangil bestätigte in einem Tondokument den Einsatz solcher Waffen. „Sie hatten in Höhlen Zuflucht gefunden. Die Armee hat Giftgas benutzt – durch Eingänge der Höhlen. Sie wurden vergiftet wie die Ratten. Sieben- bis siebzigjährige Dersimer Kurd*innen wurden geschlachtet. Es war eine blutige Operation.“

Von türkischen Soldaten gefangen genommene Zivilist*innen in Dersim, 1937


CHP: Reflexartig Gewehr bei Fuß

Die in der ARD-Sendung („Das vergessene Massaker – Wie Kemal Atatürk Aleviten ermorden ließ„) präsentierten Dokumente mit Atatürks Unterschrift waren im Frühjahr 2019 erstmals in der Dersim Gazetesi und anschließend u.a. von Arti Gercek und Yeni Özgür Politika veröffentlicht worden, ohne aber außerhalb linker, kurdischer und alevitischer Kreise größere Wogen zu schlagen. Damals war Oberbürgermeisterwahlkampf in Istanbul und der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu war auf die Stimmen der kurdischen und alevitischen Wähler angewiesen. Über die Vergangenheit wurde daher von Seiten der Kemalist*innen lieber geschwiegen, um diese Wählergruppen nicht wieder zu entfremden. Derartige Rücksichtnahme ist heute, wo ein Großteil der Kemalist*innen einschließlich Imamoglu angesichts des türkischen Angriffskrieges auf die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien wieder reflexartig Gewehr bei Fuß an der Seite des Staates steht, nicht mehr nötig. Stattdessen wird jetzt der antikurdische Schulterschluss zwischen Kemalist*innen aus CHP und Dogu Perinceks Vaterlandspartei, AKP-, MHP- und IYI-Anhänger*innen geprobt.

Hakenkreuze gegen Halbmond ausgetauscht

Hitler selbst war ein großer Bewunderer Atatürks und unter den Nazis gab es ein regelrechtes „Türkenfieber“. In einem Interview mit der türkischen Zeitung „Milliyet“ erklärte Hitler im Juli 1933, Atatürk sei für ihn in seiner Münchner „Kampfzeit“ ein „leuchtender Stern“ gewesen. Eine Atatürk-Büste des NS-Bildhauers Jose Thorak soll eine von Hitlers liebsten Besitztümern gewesen sein. Und 1933 veranstaltete die SA in Berlin eine Feierstunde zum zehnjährigen Bestehen der türkischen Republik.

Türkischer Armeegeneral Cemil Cahit Toydemir (Mitte) mit Adolf Hitler und Wilhelm Keitel im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“, Juni 1943

Umgekehrt beklagte Atatürk nach Aussagen seiner Adoptivtochter Sabiha Gökcen im Jahr 1937, dass Hitler ein „Rassist“ sei. „Er ist ein Wahnsinniger, der die Deutschen als eine besondere, gehobene Rasse betrachtet“ erklärte Atatürk. Da Atatürk schon die Türken als eine solche besondere gehobene Rasse ansah, mussten die Weltanschauungen der Nazis und der Kemalisten in diesem Punkt zwangsläufig kollidieren. Es ist zwar richtig, dass die Regierung in Ankara von den Nazis politisch oder rassisch als Juden verfolgten deutschen Wissenschaftlern Zuflucht bot, um deren Fähigkeiten für den Aufbau des türkischen Staates zu nutzen. Doch gleichzeitig zeigte die kemalistische Führung offene Sympathie mit zentralen Elementen der faschistischen Ideologie, was die Nazis zur Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Türkei nutzten. Der deutsche Botschafter in Ankara, Franz von Papen, beeinflusste die Panturkisten-Bewegung um Alparslan Türkeş – den späteren Führer der Grauen Wölfe – im Sinne der völkischen Weltanschauung der Nazis. Und deutsche Berater bauten damals den Militärgeheimdienst der Türkei auf. Auch Flugzeuge, die zum Abwurf von Gasbomben über Dersim eingesetzt wurden, kamen zum Teil aus Deutschland. So orderte Ankara 24 zweimotorige Bomber vom Typ He 111 J. Die in den Heinkel-Werken Oranienburg (HWO) gefertigten Flugzeuge wurden ab Oktober 1937 über Bulgarien nach Istanbul geliefert. Es gibt noch Bilder, die zeigen, wie türkische Soldaten die Hakenkreuze an den Flugzeugen gegen den türkischen Halbmond austauschen.

1937: Türkischer Soldat ersetzt Hakenkreuz an einem Heinkel-Bomber durch einen türkischen Halbmond


Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt

Das Deutsche Reich wurde zwischen 1933 und 1938 zum größten Rohstoffimporteur und wichtigsten Partner beim Aufbau der türkischen Industrie. Die Beziehungen beider Länder erreichten einen ähnlichen Stand wie vor dem Ersten Weltkrieg. Die offiziell neutrale Türkei hielt unter Atatürks Nachfolger Ismet Inönü dem Deutschen Reich mit Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes vier Tage vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 militärisch den Rücken frei.

Am 18. Juni 1941 unterzeichneten der deutsche Botschafter Franz von Papen und der türkische Außenminister Şükrü Saracoğlu in Ankara den deutsch-türkischen Freundschaftsvertrag und den Nichtangriffspakt.

Dazu kamen umfangreiche Rohstofflieferungen für die deutsche Rüstungsproduktion. „Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt, sind die Deutschen und die Türkei gezwungen, in einem sich ergänzenden Wirtschaftsraum zu leben. Die Welt muss der Realität entsprechend gesehen werden“, rechtfertigte Yunus Nadi, Chefredakteur der kemalistische Zeitung Cumhuriyet, 1941 diese Politik. Die Cumhuriyet schmückte ihre Titelseite mit den Bildern Inönüs und des „Führers“. Lediglich von symbolischer Bedeutung war am 23. Februar 1945 die Kriegserklärung Ankaras an das bereits besiegte Deutsche Reich.

„Innige Gratulationen zwischen unserem Nationalen Oberhaupt („Millî Şef“) und dem Führer” , Titeilseite der Cumhuriyet am 21. Juni 1941