Die Kriegsverbrechen des deutschen Staates in Kurdistan

In Deutschland hergestellte Giftgase und chemische Waffen wurden im Laufe des letzten Jahrhunderts in Kriegen in Kurdistan eingesetzt, nicht nur beim Massaker von Dersim 1938. Die Beteiligung wurde immer wieder belegt.

Neue Dokumente ergaben, dass beim Völkermord von Dersim zwischen 1937 und 1938 deutsches Giftgas verwendet wurde. Die Bundesregierung behauptete dennoch, keine Kenntnisse über die Geschehnisse zu haben. Die Dersim-Zeitung und die Zeitung Yeni Özgur Politika veröffentlichten jedoch Dokumente, wonach Mustafa Kemal „Atatürk“ von Nazideutschland Giftgas für den Dersim Genozid gekauft hat.

Die Bundesregierung nahm keine Stellung zu den Dokumenten. Die Bundestagsabgeordnete und innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, erklärte gegenüber ANF, in Deutschland hergestellte Giftgase würden von Dersim bis Halabdscha wiederholt bei Verbrechen gegen Kurd*innen eingesetzt. Deutsche Waffen in den Händen türkischer Soldaten, aber auch des Saddam-Regimes, haben schwere Schäden in Kurdistan angerichtet. Das irakische Baath-Regime kaufte von Deutschland Waffen, die es gegen Kurd*innen in Südkurdistan einsetzte. Die deutsche Firma Züblin, schon aus der Nazizeit wegen Zwangsarbeit berüchtigt, stellte Infrastruktur für die Herstellung des beim Massenmord in Halabscha eingesetzten Giftgases her. Auch beim schmutzigen Krieg in Nordkurdistan in den 90er Jahren waren es deutsche Panzer, Leopard und BTR-60, die aus NVA-Beständen stammten, welche Menschen zu Tode schleiften und über 4.000 kurdische Dörfer zerstörten. Deutsche Panzer rollten auch 2016 bei der Zerstörung der Städte Cizîr (Cizre), Sûr, Şirnex (Şırnak) und vielen anderen Orten durch die Straßen. Hunderte Zivilist*innen wurden bei den Ausgangssperren durch mit deutscher Lizenz produzierten G-36-Gewehren ermordet.

Die Türkei setzte wiederholt chemische Waffen sowohl gegen die Zivilbevölkerung als auch gegen die Guerilla in Kurdistan ein. Dieses Giftgas stammt auch aus Deutschland. Einige Beispiele sollten folgen:

Der Massenmord von Halabdscha

Am 16. März 1988 wurden in Halabdscha mindestens 5.000 kurdische Zivilist*innen vom Regime Saddam Husseins mit Giftgas ermordet. Das Gas wurde in einer Fabrik in Samarra vom Regime hergestellt. Aber an vielen Phasen der Produktion waren deutsche Unternehmen beteiligt. So beteiligte sich Züblin am Bau der Fabrik. Water Engineering Trading GmbH aus Hamburg lieferte die Verschraubungstechnik zur Herstellung des Gases. Andere Profiteure sind unter anderem die hessische Karl Kolb AG in Hessen, die Ausgangsstoffe und Laborgeräte lieferte. Die Firmen aus Deutschland, wie Karl Kolb / Pilot Plant und WET, die die Ausgangsprodukte für die Giftgasproduktion geliefert hatten, behaupteten, dass es sich um Unkrautvernichtungsmittel gehandelt habe. Mindestens 52 Prozent aller Giftgasanlagen im Irak kamen von deutschen Firmen, andere Quellen sprechen sogar von 70 Prozent. Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten, die Bundesregierung scheint die Aufrüstung des Saddam-Regimes mit Giftgas nicht gestört zu haben. Insbesondere die Kohl-Regierung unterstützte die Waffenhändler, von denen nur drei belangt wurden. Sie erhielten geringe Bewährungsstrafen.

Die deutschen Journalisten Hans Leyendecker und Richard Rickelmann haben ein Buch mit dem Titel „Exporting Death: Deutscher Waffenskandal im Nahen Osten“ veröffentlicht. In dem Buch beschreiben sie ausführlich, wie deutsche Unternehmen mit Saddam Hussein kooperierten und wie Deutschland sich am Halabdscha-Genozid beteiligte.

Chemiewaffen gegen die Guerilla

Obwohl völkerrechtlich verboten, wurde in den 30 Jahren Krieg der türkischen Armee gegen die PKK immer wieder Giftgas eingesetzt. Auch dieses Gas stammte oftmals aus Deutschland. Ein Beispiel ist der Mord an 20 PKK-Guerillas in einer Höhle in Şirnex am 11. Mai 1999.

Videomaterial, das während der Zusammenstöße an diesem Tag von der türkischen Armee aufgenommen wurde, wurde 2011 von Roj TV und ANF veröffentlicht. Ein Soldat sagte in dem Video: „Unsere Soldaten sind gerade mit der Gefahr einer Vergiftung konfrontiert. Aber sie marschieren weiter, wie Bestien, wie Helden. Wir haben uns einen Tag frei genommen, aber das Gas ist immer noch wirksam.“ Türkische Soldaten sind zu sehen, wie sie unter dem Kommandanten Necdet Özel, späterer Generalstabschef, in die Höhle vorrückten.

Giftgaseinsatz gegen kurdische Guerillakämpfer
(kurdistannuce, Nov 2011, german subtitles)

Einige Bombenfragmente aus der Ballikaya-Region wurden von einem Reporter nach Deutschland gebracht und durch ein Labor untersucht. Die Inspektion im Forensic Science Institute der Universität München ergab Spuren des im Krieg verbotenen CS-Gases an den Fragmenten. Im ZDF wurde am 27. Oktober 1999 im Fernsehmagazin „Kennzeichen D“ gezeigt, dass das Gas RP707 seit 1995 von der Firma Buck & Depyfag mit Zustimmung der Bundesregierung an die Türkei verkauft wurde.

Insbesondere in der jüngeren Vergangenheit gab es immer wieder Giftgaseinsätze der türkischen Armee. Die effektive Untersuchung sowohl der Leichen als auch genommener Proben wurde jedoch vom deutschen Staat verhindert und Anzeigen nach dem Völkerstrafrecht verschleppt und eingestellt.

Quelle: ANF – Die Kriegsverbrechen des deutschen Staates in Kurdistan

Atatürk und die Nationalsozialisten

Quelle: ANF – Atatürk und die Nazis

Türkische Handelskammer in Berlin am 26. Februar 1943


Eine blutige Operation

Schätzungsweise 50.000 kurdische Alevit*innen wurden in den Jahren 1937/38 im Zuge des Massakers in Dersim getötet – zuvor hatte die kemalistische Türkei 1937 bei den Nazis in Deutschland Giftgas eingekauft, um es gegen die rebellischen kurdischen Alevit*innen in Dersim einzusetzen. Ein geheimes Dekret über die Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas und Chloracetophenon nebst einer automatischen Abfüllanlage vom 7. August 1937 trägt die Unterschrift Atatürks. Die Bestellung erfolgte, nachdem die türkische Regierung in einem Geheimbeschluss eine „Endlösung“ für die Bergprovinz Dersim beschlossen hatten, deren kurdisch-alevitische Bewohner sich der von Ankara erzwungenen Türkisierung widersetzten und auf althergebrachten Autonomierechten bestanden. Schätzungsweise 50.000 kurdische Aleviten wurden in den Jahren 1937/38 in Dersim, das von der Regierung in den türkischen Namen Tunceli (Bronzefaust) umbenannt worden war, von der türkischen Armee ermordet. Dass damals auch Giftgas zum Einsatz kam, hatten Zeitzeug*innen berichtet. Auch der ehemalige türkische Außenminister Ihsan Sabri Caglayangil bestätigte in einem Tondokument den Einsatz solcher Waffen. „Sie hatten in Höhlen Zuflucht gefunden. Die Armee hat Giftgas benutzt – durch Eingänge der Höhlen. Sie wurden vergiftet wie die Ratten. Sieben- bis siebzigjährige Dersimer Kurd*innen wurden geschlachtet. Es war eine blutige Operation.“

Von türkischen Soldaten gefangen genommene Zivilist*innen in Dersim, 1937


CHP: Reflexartig Gewehr bei Fuß

Die in der ARD-Sendung („Das vergessene Massaker – Wie Kemal Atatürk Aleviten ermorden ließ„) präsentierten Dokumente mit Atatürks Unterschrift waren im Frühjahr 2019 erstmals in der Dersim Gazetesi und anschließend u.a. von Arti Gercek und Yeni Özgür Politika veröffentlicht worden, ohne aber außerhalb linker, kurdischer und alevitischer Kreise größere Wogen zu schlagen. Damals war Oberbürgermeisterwahlkampf in Istanbul und der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu war auf die Stimmen der kurdischen und alevitischen Wähler angewiesen. Über die Vergangenheit wurde daher von Seiten der Kemalist*innen lieber geschwiegen, um diese Wählergruppen nicht wieder zu entfremden. Derartige Rücksichtnahme ist heute, wo ein Großteil der Kemalist*innen einschließlich Imamoglu angesichts des türkischen Angriffskrieges auf die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien wieder reflexartig Gewehr bei Fuß an der Seite des Staates steht, nicht mehr nötig. Stattdessen wird jetzt der antikurdische Schulterschluss zwischen Kemalist*innen aus CHP und Dogu Perinceks Vaterlandspartei, AKP-, MHP- und IYI-Anhänger*innen geprobt.

Hakenkreuze gegen Halbmond ausgetauscht

Hitler selbst war ein großer Bewunderer Atatürks und unter den Nazis gab es ein regelrechtes „Türkenfieber“. In einem Interview mit der türkischen Zeitung „Milliyet“ erklärte Hitler im Juli 1933, Atatürk sei für ihn in seiner Münchner „Kampfzeit“ ein „leuchtender Stern“ gewesen. Eine Atatürk-Büste des NS-Bildhauers Jose Thorak soll eine von Hitlers liebsten Besitztümern gewesen sein. Und 1933 veranstaltete die SA in Berlin eine Feierstunde zum zehnjährigen Bestehen der türkischen Republik.

Türkischer Armeegeneral Cemil Cahit Toydemir (Mitte) mit Adolf Hitler und Wilhelm Keitel im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“, Juni 1943

Umgekehrt beklagte Atatürk nach Aussagen seiner Adoptivtochter Sabiha Gökcen im Jahr 1937, dass Hitler ein „Rassist“ sei. „Er ist ein Wahnsinniger, der die Deutschen als eine besondere, gehobene Rasse betrachtet“ erklärte Atatürk. Da Atatürk schon die Türken als eine solche besondere gehobene Rasse ansah, mussten die Weltanschauungen der Nazis und der Kemalisten in diesem Punkt zwangsläufig kollidieren. Es ist zwar richtig, dass die Regierung in Ankara von den Nazis politisch oder rassisch als Juden verfolgten deutschen Wissenschaftlern Zuflucht bot, um deren Fähigkeiten für den Aufbau des türkischen Staates zu nutzen. Doch gleichzeitig zeigte die kemalistische Führung offene Sympathie mit zentralen Elementen der faschistischen Ideologie, was die Nazis zur Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Türkei nutzten. Der deutsche Botschafter in Ankara, Franz von Papen, beeinflusste die Panturkisten-Bewegung um Alparslan Türkeş – den späteren Führer der Grauen Wölfe – im Sinne der völkischen Weltanschauung der Nazis. Und deutsche Berater bauten damals den Militärgeheimdienst der Türkei auf. Auch Flugzeuge, die zum Abwurf von Gasbomben über Dersim eingesetzt wurden, kamen zum Teil aus Deutschland. So orderte Ankara 24 zweimotorige Bomber vom Typ He 111 J. Die in den Heinkel-Werken Oranienburg (HWO) gefertigten Flugzeuge wurden ab Oktober 1937 über Bulgarien nach Istanbul geliefert. Es gibt noch Bilder, die zeigen, wie türkische Soldaten die Hakenkreuze an den Flugzeugen gegen den türkischen Halbmond austauschen.

1937: Türkischer Soldat ersetzt Hakenkreuz an einem Heinkel-Bomber durch einen türkischen Halbmond


Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt

Das Deutsche Reich wurde zwischen 1933 und 1938 zum größten Rohstoffimporteur und wichtigsten Partner beim Aufbau der türkischen Industrie. Die Beziehungen beider Länder erreichten einen ähnlichen Stand wie vor dem Ersten Weltkrieg. Die offiziell neutrale Türkei hielt unter Atatürks Nachfolger Ismet Inönü dem Deutschen Reich mit Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes vier Tage vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 militärisch den Rücken frei.

Am 18. Juni 1941 unterzeichneten der deutsche Botschafter Franz von Papen und der türkische Außenminister Şükrü Saracoğlu in Ankara den deutsch-türkischen Freundschaftsvertrag und den Nichtangriffspakt.

Dazu kamen umfangreiche Rohstofflieferungen für die deutsche Rüstungsproduktion. „Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt, sind die Deutschen und die Türkei gezwungen, in einem sich ergänzenden Wirtschaftsraum zu leben. Die Welt muss der Realität entsprechend gesehen werden“, rechtfertigte Yunus Nadi, Chefredakteur der kemalistische Zeitung Cumhuriyet, 1941 diese Politik. Die Cumhuriyet schmückte ihre Titelseite mit den Bildern Inönüs und des „Führers“. Lediglich von symbolischer Bedeutung war am 23. Februar 1945 die Kriegserklärung Ankaras an das bereits besiegte Deutsche Reich.

„Innige Gratulationen zwischen unserem Nationalen Oberhaupt („Millî Şef“) und dem Führer” , Titeilseite der Cumhuriyet am 21. Juni 1941

Ethnische Säuberung zur Lösung der „Flüchtlingsfrage“

Quelle: Civaka Azad: Ethnische Säuberung zur Lösung der „Flüchtlingsfrage“?

„Erdogan plant neuen Flüchtlings-Gipfel mit Merkel“, „Erdogan trifft Putin und Rohani“, „Turkey’s Erdogan attends Trump reception“ – diese Schlagzeilen machen deutlich: In diesen Tagen mischt der türkische Staatspräsident auf der ganz großen Bühne der internationalen Diplomatie mit. Erdogan hat Gesprächsbedarf. Er will mit den internationalen Machthabern über Syrien sprechen, insbesondere über den Norden Syriens. Damit zusammenhängend geht es auch um Idlib, dem syrischen al-Kaida Ableger Tahrir al-Sham, um die Frage der Geflüchteten und natürlich um die Demokratische Föderation Nordsyriens, das eigentliche Anliegen des türkischen Staatspräsidenten.

Denn der türkische Staatspräsident macht keinen Hehl daraus, dass er die Errungenschaften der Bevölkerung im Norden Syriens zunichtemachen will. Seine Interventionsdrohungen konnten nur durch anstrengende Verhandlungen mit den USA unterbunden werden. Doch kurz nach der Einigung zwischen beiden Parteien zeigte sich der türkische Staatspräsident erneut unzufrieden und begann von Neuem seine Kriegsdrohungen lautwerden zu lassen. Und um diese Pläne wahr werden zu lassen dreht Erdogan nun gleich an mehreren Schaltern.

Mit der Flüchtlingsfrage die EU erpressen

Der türkische Staatschef hat nämlich gelernt, wie leicht er die gesamte Europäische Union unter Druck setzen kann. Spätestens als in der Nacht des 17. Septembers plötzlich 791 syrische Geflüchtete auf mehreren griechischen Inseln ankamen, war die Message in Brüssel angekommen. Erdogan entsandte eine unmissverständliche Drohung: Entweder ihr unterstützt meinen Kurs in der Frage der syrischen Geflüchteten oder ihr könnt euch selbst mit ihnen rumschlagen.

Mit dieser Drohung hat Erdogan bereits mindestens sechs Milliarden Euro Hilfsgelder aus Europa erhalten. Nun tischt er dieselbe Drohung nochmals auf, um Unterstützung für seine Interventionspläne in Nordsyrien zu generieren. Denn seit wenigen Wochen hat sich die Sprachwahl in der türkischen Politik bzgl. der Interventionsbestrebungen verändert: Nun geht es weniger um die „Vernichtung eines Terrorkorridors“, sondern eher um eine „Lösung der Flüchtlingsfrage, welche die Türkei nicht länger alleine schultern kann.“

Erdogan will also, dass seine Truppen in den Norden Syriens einmarschieren und anschließend die rund drei Millionen syrischen Geflüchteten dort ansiedeln. Bei dem Vorhaben gibt es nur zwei Probleme: Einmal stammen die wenigsten syrischen Geflüchteten in der Türkei tatsächlich aus den Gebieten, welche Erdogan besetzen will. Und zum Zweiten ist die Region Nordsyriens kein menschenleeres Gebiet.

Assads arabischer Gürtel soll von Erdogan vollendet werden

Wenn wir verstehen wollen wie das Vorhaben Erdogans genau aussieht, reicht ein Blick auf die seit März 2018 von der Türkei besetzte Provinz Efrîn aus. Auch dort hat der türkische Staatschef Syrerinnen und Syrer ansiedeln lassen. Nur hat er zuvor erst einmal die eigentliche Bevölkerung der Region vertrieben. Während hunderttausende Kurdinnen und Kurden aus Efrîn ihre Heimat hinter sich lassen mussten und bis heute unter schwierigsten Bedingungen in der Region Shehba verweilen, siedelte der türkische Staat islamistische Milizen, die mit der Türkei kooperieren, und ihre Familienangehörigen, in der Provinz an. Diejenigen Einwohner Efrîns, die bis heute versuchen in ihrer Heimat zu bleiben, sind immer wieder Opfer von Entführungen, Raubüberfällen oder Vergewaltigungen. Die Urheber dieser Verbrechen sind türkeitreue Milizen, die aus Aleppo, Idlib und anderen Regionen abgezogen und in Efrîn stationiert worden sind. Ein solches Vorgehens nennt man eine ethnische Säuberung.

Sollte die Türkei ihre Drohungen hinsichtlich einer weiteren Intervention in Nordsyrien verwirklichen, so wird sie ohne Zweifel versuchen, ihr Vorgehen von Efrîn in einem größeren Maßstab zu wiederholen. Um drei Millionen Syrerinnen und Syrer in der Region anzusiedeln, sollen wohl ebenso viele Menschen aus der Region vertrieben werden. Die Opfer eines solchen Szenarios wären natürlich in erster Linie die Kurdinnen und Kurden, die in diesen Regionen beheimatet sind. Knickt also Deutschland und die EU vor Erdogans Drohungen ein, so macht sich Deutschland in der Konsequenz auch für die Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen mitverantwortlich, die der türkische Staatschef im Norden Syriens anordnen wird, um die „Flüchtlingsfrage zu lösen“.

Geht sein Plan auf, wäre Erdogan die syrischen Flüchtlinge los und hätte das Selbstverwaltungsprojekt in Nordsyrien zerschlagen. Zugleich hätte er einen Plan verwirklicht, den bereits 1963 ein gewisser Muhammad Talab al-Hilal, ein syrischer Geheimdienstchef, der syrischen Regierung vorgelegt hatte. Um die „kurdische Gefahr“ zu bändigen, bedürfe es einer umfassenden Umsiedlungspolitik. Nur so ließe sich die „Vernichtung dieses Tumors“ bewerkstelligen. Die Pläne al-Hilals sollten im Rahmen der Politik des arabischen Gürtels später vom Baath-Regime aufgegriffen werden. Auch wenn tausende kurdische Familien in den Süden Syriens deportiert und ebenso viele arabische Familien bis Mitte der 70er Jahre in Nordsyrien angesiedelt wurden, ist der Plan nie in voller Gänze umgesetzt worden.

Nun will Erdogan genau das verwirklichen, was dem Baath-Regime nie gelungen ist: Ein arabischer (Bevölkerungs-)Gürtel, der als Puffer zwischen der kurdischen Bevölkerung in Nordkurdistan und Rojava dienen soll. Ob er das verwirklichen kann, hängt aber nicht nur von seiner Durchsetzungskraft gegenüber der EU, den USA oder Russland ab. Am Ende werden die Verteidigungskräfte Nord- und Ostsyriens auch ein Wort mitzureden haben.

BRD und Türkei – eine Langzeitbeziehung


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Der kurdisch-türkische Konflikt

Im Jahr 2013 keimte in der Türkei Hoffnung auf Frieden und demokratischen Wandel. Die Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und dem kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan führten zu einem Waffenstillstand zwischen der türkischen Armee und der PKK. Dieser wurde jedoch 2015 seitens der Regierung aufgekündigt, nachdem die AKP von Präsident Erdogan anfing, im politischen Prozess an Macht zu verlieren und die Gesellschaft demokratische Strukturen nach den Ideen Abdullah Öcalans in den kurdischen Städten errichtete.
Um diesen Prozess umzukehren wurde Abdullah Öcalan unter totale Isolation gestellt und die türkische Armee begann einen brutalen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, in dem tausende ZivilistInnen ihr Leben verloren und ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht wurden.

Die Repressionen Deutschlands zu Gunsten Erdogans

Auch in Deutschland machte sich der türkische Kurswechsel bemerkbar. Durch seinen unmoralischen „Flüchtlingsdeal“, bei dem Erdogan die europäische Angst vor der Einwanderung syrischer Kriegsflüchtlinge nutzte, um seinen Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung zu finanzieren, machte sich Deutschland erpressbar. Die türkische Politik gewann zunehmend Einfluss auf die deutschen Staatsorgane und die traditionelle Zusammenarbeit in der Unterdrückung kurdischer Freiheitsbestrebungen erreichte ein neues Level. Selbst kulturelle Institutionen, die jahrzehntelang für Vielfalt und Integration in Deutschland sorgten, wurden Opfer dieser Politik. Kurdische Presse, StudentInnen- und Kulturverbände und sogar ein Buch-verlag wurden nach türkischen Vorbild mit Repressionen überzogen. Jegliche Forderungen für die Freiheit von Abdullah Öcalan und sogar sein bloßes Abbild wurden kriminalisiert.

Deutschland – Türkei: Eine Langzeitbeziehung

Diese Zusammenarbeit gipfelte im völkerrechtswidrigen Überfall der türkischen Armee auf die kurdische Region Efrîn im benachbarten Syrien. Neben islamistischen Banden bestehend aus ehemaligen Kämpfern von Al-Qaida und dem IS, wurde die türkische Armee hierbei auch von deutschen Aufklärungsflügen und massiven Waffenlieferungen aus deutscher Produktion unterstützt. Die ganze Welt schaute zu wie hunderttausende Menschen vertrieben, Dörfer und Städte geplündert und Frauen und Mädchen versklavt und vergewaltigt wurden, doch statt Erdogan vor ein Kriegsgericht zu stellen oder zumindest Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen, wurde dem mittlerweile alleinigen Herrscher der Türkei noch im gleichen Jahr in Deutschland der rote Teppich ausgerollt und Tee serviert.
Schon wieder ließ die deutsche Regierung sich erpressen und verschloss die Augen deshalb vor der Realität. Denn wie schon vor 140 Jahren der Bau der Bagdadbahn durch deutsche Unternehmen die schwächelnde Wirtschaft des Osmanischen Reiches ankurbelte, soll heute deutsches Geld und Know-How dafür sorgen, dass das innertürkische Schienennetz komplett modernisiert wird. Bei der Vergabe des attraktiven 35 Mrd. Euro schweren Auftrag buhlen derweil deutsche Unternehmen gegen chinesi-sche Industriekonzerne. Um die Wirtschaftsgiganten im eigenen Land gnädig zu stimmen, sollte die Bundesregierung also auf Maßnahmen verzichten, die den launischen Präsidenten in Ankara beim Bau seiner Schienen gen China blicken lassen würden. Diese Rechnung sichert der Türkei freie Fahrt auf dem politischen Spielfeld, doch wurde diese Rechnung ohne die freiheitlichen Kräfte der jeweiligen Länder gemacht.

Erdogans Verzweiflung gegen den Widerstand

Der heldenhafte Hungerstreik der kurdischen HDP-Abgeordneten Leyla Güven und den Tausenden, die mit ihr bereit sind sogar ihr Leben für eine freie und gerechte Gesellschaft zu geben, bewegt schon heute die Massen – in der Türkei und auch in Deutschland. Kein Wunder, denn die Umsetzung der einzigen Forderung Leyla Güvens, nämlich die Aufhebung der menschenrechtsverachtenden Totalisolation von Abdullah Öcalan, würde die Aufnahme des 2015 abgebrochenen Friedensprozesses mit der kurdischen Freiheitsbewegung bedeuten.

Quelle: YXK/ JXK Deutschland

WEITERE INFORMATIONEN:

Civaka Azad: Freunde fürs Leben – die strategische Dimension der deutschtürkischen Partnerschaft in Zeiten des Umbruchs

Der Mittlere Osten befindet sich in einer Phase tiefgreifender Umgestaltung. In diesem Zusammenhang kommt den deutsch-türkischen Beziehungen aus der Sicht beider Länder eine besondere Bedeutung bei der Sicherung ihrer jeweiligen Interessen zu. Die gemeinsame Verfolgung politischer, wirtschaftlicher, militärischer und geostrategischer Interessen fußt auf einer mehrere Jahrhunderte alten Tradition deutsch-türkischer Beziehungen. Beide Länder verbindet eine strategische Partnerschaft. Vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen Verschränkung Deutschlands und der Türkei auf politischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Ebene erscheinen die Streitigkeiten um inhaftierte Deutsche in der Türkei und Nazi-Beschimpfungen durch türkische Regierungsvertreter als kurzweilige Unannehmlichkeiten. Der strategische Bündnispartner Türkei reagiert auf die Umbrüche in seiner unmittelbaren Nachbarschaft mit der Errichtung eines autokratischen Regimes und einer zunehmenden Verwicklung in die militärischen Konflikte der Region. Dabei sieht sich die Türkei selbst mit zunehmendengesellschaftlichen Widersprüchen und einem Krieg im Südosten des Landes konfrontiert. Für die deutsche Bundesregierung stellen sich in diesem Zusammenhang zwei zentrale Fragen: In wie fern wird Deutschland auch zukünftig in der Lage bleiben eigene Interessen im Mittleren Osten über den Bündnispartner Türkei durchzusetzen? Wie weit ist Deutschland bereit mit einem türkischen Regime zusammen zu arbeiten, das offen diktatorische Züge trägt und zunehmend nationales und internationales Recht missachtet?