06/20: Türkei: Mord im Auftrag des Staates

Quelle: Türkei: Mord im Auftrag des Staates. Telepolis. 01.07.20 Elke Dangeleit

Mit Drohnen gegen die Zivilbevölkerung; weitere Angriffe im Nordirak. Deutsche Waffen in Libyen.

Im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei, in Nordsyrien und im Nordirak setzt die Türkei zunehmend Kampfdrohnen ein. Mit dem Argument, gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK vorzugehen, versucht sie ihre völkerrechtswidrigen Angriffe in den Nachbarländern zu legitimieren. Tatsächlich trifft es jedoch die Zivilbevölkerung: vor allem Frauen und Kinder.

Letzte Woche wurden in einem Dorf bei Kobane im Norden Syriens drei Zivilistinnen, darunter zwei Aktivistinnen der kurdischen Frauenorganisation Kongreya Star durch eine türkische Kampfdrohne der türkischen Armee getötet. Trotz der eindeutigen Täterschaft der Türkei war diese extralegale Hinrichtung syrischer Staatsbürgerinnen innerhalb Syriens fast allen deutschen Medien keine Meldung wert.
Gezielte Anschläge

Das Dorf Helince liegt drei Kilometer südöstlich von der Stadt Kobane. Hier saßen die beiden Leitungsmitglieder der kurdischen Frauenorganisation von Nord- und Ostsyrien, Zehra Berkel (30) und Hebun Mele Xelil, im Garten der 60jährigen Hausbesitzerin Amina Waysi. Berkel war Koordinatorin des feministischen Dachverbandes Kongreya Star für das Euphrat-Gebiet und Xelil gehörte der Leitung des Frauenverbandes in Kobani an.

Eine Kampfdrohne der türkischen Armee beschoss das Wohnhaus der Frau, alle drei Frauen starben. Der Frauendachverband Kongreya Star spielt in Nord- und Ostsyrien eine wichtige Rolle im Kampf um Gleichberechtigung und Frauenrechte. Diese zivilgesellschaftliche Organisation ist tief in der Gesellschaft verwurzelt, sehr viele Frauen bis hinein in die Dörfer sind in ihr organisiert.

Telepolis berichtete vor kurzem von den Bemühungen der türkischen Regierung, die demokratische Frauenbewegung in der Türkei zu zerschlagen. Dieser Mord zeigt erneut, dass das türkische Regime nicht vor territorialen Grenzen haltmacht, wenn es darum geht, linke, demokratische, oder emanzipatorische kurdische Bewegungen zu terrorisieren und zu zerschlagen.

Schon 2013 wurden drei kurdische linke Frauenrechtlerinnen in Paris durch einen türkischen Agenten ermordet, darunter die bekannte Revolutionärin Sakine Cansiz, die sich in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) engagierte. 2016 wurden drei kurdische Politikerinnen in der türkischen Grenzstadt Silopi durch türkische Soldaten ermordet. Im Oktober 2019 wurde die Vorsitzende der Syrischen Zukunftspartei, Hevrin Khalaf, während des türkischen Einmarsches in Nordsyrien von Mitgliedern einer protürkischen Miliz ermordet.

Wenige Stunden vor dem Drohnenangriff bei Kobane detonierte ein Sprengsatz vor dem Frauenzentrum in Basira in der ostsyrischen Region Deir el-Sor. Dieser Angriff wird der protürkischen Miliz Ahrar Al-Scharkija zugeordnet.
Jelpke: Drohnenangriff ist ein Kriegsverbrechen

Die Bundestagsabgeordnete und innenpolitische Sprecherin der Linkspartei, Ulla Jelpke, bezeichnete den Drohnenangriff als Kriegsverbrechen und Akt des Staatsterrorismus. Sie erinnerte daran, dass der Drohnenangriff erfolgte, „wenige Tage nachdem die türkische Luftwaffe das Flüchtlingslager Maxmur und die Siedlungsgebiete der Jesiden sowie kurdische Dörfer im Nordirak bombardiert hat“.

„Statt Erdogans neo-osmanischen Größenwahn weiterhin durch ihr Schweigen, finanzielle Hilfen und Unmengen an Waffen zu unterstützen, muss die Bundesregierung jetzt klare Kante zeigen und ihre einseitig an geopolitischen und Wirtschaftsinteressen orientierte Kollaboration mit Ankara endlich aufkündigen.“

Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker berichtet, dass die Menschen vor Ort sich sicher seien, „dass der Anschlag der kurdischen Aktivistin galt, die sich seit Jahren für die Rechte der Frauen in Syrien einsetzt“.
Angriffe auf Kobane

Die Stadt Kobane sei für die kurdische Bevölkerung und viele andere Menschen weltweit ein Symbol gegen die Tyrannei des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) geworden. Die Türkei greife nun genau diese Stadt an, um die islamistische Agenda von Erdogan zu befördern.

Kritiker weisen darauf hin, dass das Gebiet um Kobane seit Oktober 2019 zum russischen Einflussgebiet gehöre. Da dort regelmäßige russisch-türkische Militärpatroullien stattfinden, sei es unwahrscheinlich, dass Russland über die Angriffe nicht Bescheid wusste. Es wird auch darauf hingewiesen, dass dem türkischen Staatsterror durch eine Sperrung des Luftraumes für türkische Kampfflugzeuge und Kampfdrohnen ein Ende gesetzt werden könne. Anscheinend fehle aber der politische Wille Russlands dazu.

Schon länger gibt es Gerüchte, dass die Türkei das symbolträchtige Kobane ebenso annektieren wolle wie die annektierten Gebiete Afrin, Sere Kaniye (Tell Abyad) und Gire Spi (Ras al-Ain), um die kurdische Bevölkerung zu demütigen.

Wie in der Türkei geht es Erdogan darum, diejenigen Kurden zu demütigen und zu verfolgen, die sich für ihre Minderheitenrechte einsetzen. Um dies der eigenen Bevölkerung nahe zu bringen, bedient er sich des bekannten Framings, wonach alle nicht assimilierten Kurden, alle Kurden, die sich für die Anerkennung als ethnische Gruppe im Vielvölkerstaat Türkei einsetzen, zu „Terroristen“ erklärt werden und als Unterstützer der PKK.
Türkischer Drohnenkrieg eskaliert im Nahen Osten

Der Einsatz türkischer Kampfdrohnen in den Konfliktgebieten des Nahen Ostens birgt neues Konfliktpotential. In den westlichen Medien wird dieses Thema weitgehend totgeschwiegen, und dies obwohl das Nato-Mitglied Türkei auch damit zunehmend gegen Nato-Interessen agiert. Die Türkei maßt sich immer mehr an, ohne Beachtung territorialer Grenzen nicht nur Angehörige bewaffneter Gruppen, sondern auch ihr unliebsame Politiker und Zivilisten mit Drohnen „hinzurichten“.

So sterben auch im Nordirak immer wieder Zivilisten durch türkische Drohnen, Kampfhubschrauber oder Kampfbomber. Zuletzt bombardierten türkische Kampfflugzeuge den Ausflugsort Kani Masi bei Suleymania. Seit der neuen türkischen Operation „Adlerklaue“ vom 15. Juni im Nordirak sind mindestens 5 Zivilisten bei Luftangriffen getötet worden. Das türkische Verteidigungsministerium erklärte, es seien keine Zivilisten geschädigt worden, sie hätten nur „Terroristen“ im Visier.

Ein Video der irakisch-türkischen Nachrichtenagentur Rudaw, das eine Familie mit kleinen Kindern zeigt, die in einem Gewässer spielen und plantschen, bis ein Luftangriff die Situation auf den Kopf stellt, liefert allerdings ein anderes Bild.

Die Konsequenzen des Drohnenkriegs der Türkei sind noch unklar. Noch kann Erdogan seine Kampfdrohnen überall hinschicken, ohne dass die internationale Gemeinschaft oder die Nato sich dagegen wehrt. Denn bisher richtet sich der türkische Drohnenkrieg ja nur gegen Minderheiten und politische Gegner im Nahen Osten. Die Kampfdrohnen „Bayraktar“ werden von der Firma der Familie des Erdogan-Schwiegersohns produziert.

Inzwischen sind sie auch vor der EU-Haustüre stationiert – z.B. auf einem türkischen Drohnenstützpunkt in Nordzypern. Vor diesem Hintergrund der Bedrohung eines EU-Mitglieds müssten eigentlich auch die deutschen Waffenlieferungen an die Türkei in Milliardenhöhe dringend hinterfragt werden: Was ist das für ein Argument, man liefere keine Waffen für den Einsatz in Syrien, sondern nur maritime Komponenten?

Sind die maritimen Waffen der Türkei nicht gerade zum Einsatz gegen Zypern und Griechenland vorgesehen, und werden sie nicht bereits im libyschen Bürgerkrieg eingesetzt, letztlich auch, um die illegalen türkischen Waffenlieferungen nach Libyen zu eskortieren?

Mit deutscher Hilfe werden derzeit die türkischen Seestreitkräfte hochgerüstet, die im östlichen Mittelmeer türkische Gasbohrungen in der zypriotischen und griechischen Wirtschaftszone schützen und dort die Bohrschiffe anderer Staaten bedrängen.

Die Türkei betrachtet den östlichen Mittelmeerraum als türkische Wirtschaftszone, einschließlich der Gebiete um griechische Inseln östlich von Kreta, die laut internationalem Seerecht zu Griechenland, Zypern und Ägypten gehören.

Türkei bricht Waffenembargo gegen Libyen
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Türkei: Mord im Auftrag des Staates
Türkei bricht Waffenembargo gegen Libyen
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Auch in Libyen hat die Türkei größere Begehren. Um ihren Einfluss in diesem Teil des Mittelmeeres zu sichern, verhandelt sie im Moment mit der libyschen Regierung über zwei permanente Militärbasen, eine Marinebasis bei Misrata und einen Militärflughafen bei al-Watija.

Über diese Wege könnten dann deutsche Waffen auch nach Libyen gelangen. Schon jetzt gelangt über die Türkei deutsches Kriegsgerät nach Libyen, berichtete die Tagesschau am 26. Juni. Report München und dem Stern liegen demnach Vernehmungsprotokolle und Videoaufzeichnungen von Seeleuten im Hafen von Genua vor. Daraus geht hervor, dass das türkische Schiff Bana, das offiziell Autos an Bord nehmen sollte, tatsächlich Mercedes-Militärunimogs, bestückt mit Kanonen und Radaranlagen, und MAN-Militärfahrzeuge an Bord hatte, die dann im libyschen Hafen von Tripolis abgeladen wurden.

Belegt wird dies durch ein heimlich aufgenommenes Video im Frachtraum der Bana. Kurz darauf kursierte ein Video in den sozialen Medien, das mehrere Unimogs auf einer Straße in der Nähe des Hafens von Tripolis zeigte. Ein weiteres Video zeigt einen Militärkonvoi auf einer libyschen Schnellstraße, ebenfalls mit Militärfahrzeugen der deutschen Firma MAN.

Zwar hatte sich die Türkei, wie auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), auf der Libyen-Konferenz im Januar in Berlin verpflichtet, das 2011 verhängte Waffenembargo einzuhalten – dies wenige Tage bevor das türkische Schiff Bana Tripolis anlief. Trotzdem halten die türkischen Waffenlieferungen an. Die Türkei entsandte auch eigene Soldaten und syrische, islamistische Milizen als Söldner nach Libyen.

Das Vorgehen der Türkei stehe im direkten Widerspruch zu dem, wozu sich Präsident Recep Tayyip Erdogan auf der Berliner Konferenz verpflichtet habe, sagte der französische Präsident Macron. Es ist ein Verstoß gegen das gegebene Wort, es ist ein Angriff auf die Souveränität Libyens und es ist ein Angriff auf die Sicherheit aller Europäer und Bewohner der Sahelzone.
Tagesschau

Die Türkei und die VAE sind Großkunden der deutschen Waffenindustrie und beide halten sich nicht an das Waffenembargo. Beide versorgen in Libyen verschiedene Seiten mit deutschen Waffen. Die Türkei versorgt die Einheitsregierung des Präsidenten Fayez al-Sarraj, die auch die Bundesregierung, Italien und Katar unterstützt.

Die Emirate unterstützen wie Russland, Frankreich und Ägypten die Truppen von General Khalifa Haftar. Haftar besitzt aber auch Mörsergranaten von Rheinmetall und emiratische Luftabwehrsysteme des Typs Pantsir auf MAN-Trucks.

Der Tagesschaubericht ist peinlich für die Bundesregierung, denn das Außenministerium teilte auf Anfrage mit, „man habe keine gesicherte Kenntnis, ob Rüstungsgüter aus deutscher Produktion in Libyen im Einsatz seien“. Trotz aller Beweise, dass die Türkei und die VAE das UN-Embargo nicht einhalten, genehmigte die Bundesregierung seit der Libyen-Konferenz neue Rüstungsexporte für die VAE und die Türkei im Wert von mehr als 20 Millionen Euro.

08/20: Der nächste Angriff auf Rojava steht unmittelbar bevor

Quelle: ANF: Analyse: Der nächste Angriff auf Rojava steht unmittelbar bevor

Freitag, 14 Aug 2020

„Einer Klärung der Situation in Heftanîn wird der nächste Invasionsangriff auf Rojava folgen.“ – Die Kampagne #RiseUp4Rojava bewertet in einer umfassenden Analyse die aktuelle politische und militärische Lage in Kurdistan.

Bereits in der Bewertung der aktuellen politischen und militärischen Lage vom 21. Juli, veröffentlicht bei „RiseUp4Rojava“, wurde klargestellt, dass mit einer Klärung der Situation in Heftanîn der nächste Invasionsangriff auf Rojava folgen wird. Auf dieser Grundlage sehen wir es ein weiteres Mal für erforderlich, die aktuelle Situation im Detail, als auch in ihren allgemeinen Zusammenhängen zu bewerten. Insbesondere in Konfrontation mit einer Angriffswelle der psychologischen Spezialkriegsmaschinerie in den Social Media und den allgemeinen Medien gegen die Revolution in Rojava und Nordsyrien und die kämpfende Freiheitsbewegung Kurdistans ist es wichtig, einige Punkte zu klären und einige Entwicklungen in den Zusammenhang miteinander zu stellen, um deren Tragweite und Bedeutung zu verstehen.

Wie sieht es gerade in Heftanîn aus, wie steht es um die Operation der türkischen Armee gegen die befreiten Medya-Verteidigungsgebiete, und wie steht es um den Widerstand? Was für eine Planung der internationalen und regionalen imperialistischen Kräfte zeichnet sich gegen die befreiten Gebiete Nordostsyriens ab und wie passen unter anderem die Geschehnisse in Deir ez-Zor und das viel spekulierte Ölabkommen der Autonomieverwaltung Nordostsyriens da mit rein?

Seit Monaten ist es ein einziges „Hauptthema“, welches die Welt in der Öffentlichkeit beherrscht: Die Corona-Pandemie. In vielen Ländern wurde das öffentliche Leben komplett oder nahezu lahmgelegt, die Arbeiter*innen, Armen, Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt werden Land für Land in Verzweiflung, unbegrenzte Abhängigkeit und gefühlte Ohnmacht gestürzt und ein antisoziales System der „sozialen Distanz“ wird Schritt für Schritt etabliert. Die Entfremdung des Lebens wird auf den Gipfel getrieben. Das Leben wie wir es kennen, wird in vielerlei Hinsicht in Stillstand versetzt.

Doch die Welt, in der wir leben, hat sich nicht in Stillstand versetzt, und noch weniger haben sich die Pläne und Konzepte der Imperialisten und die Besatzungs- und Ausbeutungspolitik des türkischen Faschismus in Stillstand versetzt: Entsendung zehntausender Söldner aus Syrien nach Libyen, imperialistische Hoheitsbemühungen im Mittelmeer, aktive Beeinflussung der Konflikte im Jemen und vieler anderer Länder. Tagtäglich finden Angriffe auf die Bevölkerung und jeden Hauch der Gegenorganisierung in der Türkei und Nordkurdistan statt; täglich werden die Berge und Dörfer Südkurdistans (Nordirak) bombardiert; tagtäglich werden dutzende und aberdutzende Drohnen entsendet, um die Region zu überwachen, die Beweglichkeit des Widerstandes einzufrieren und bei Gelegenheit zuzuschlagen. Tagein und tagaus wird die gesamte Propagandamaschinerie des türkischen Staates und seiner Handlanger in Gang gesetzt, mit dem einen Ziel: den Widerstand zu zersetzen, den Willen der kämpfenden Völker zu brechen. Der Geheimdienst MIT des türkischen Staates hat sich eine Armee an Informanten und Agenten sowohl auf türkischem Staatsgebiet als auch in der Region und international aufgebaut, mit der jegliche Art von Informationsbeschaffung, psychologischer Kriegsführung, Lobbyarbeit und Provokation bis hin zur gezielten Verbreitung von Rauschmitteln innerhalb der Gesellschaft und direkten Liquidierungsoperationen durchgeführt werden. Ob Stadt oder Dorf, Berge oder Ebene, militärisch oder wenn von ihnen gewollt auch zivil, alles ist, egal wo, potenzielles Ziel der türkischen NATO-Armee.

Auf allen Ebenen, politisch, militärisch, ökonomisch, gesellschaftlich und medial, sowohl regional als auch international, wird die Revolution von den herrschenden Kräften attackiert und versucht, auf jede nur mögliche Art und Weise die Bewegung zu isolieren, zu marginalisieren, zu kriminalisieren und ihr die Unterstützung und Teilnahme der Völker zu entziehen. Für die großen imperialistischen Staaten und ihre strategischen Bündnisse, also insbesondere die USA und NATO, ist klar, dass eine demokratische, freiheitliche und antikapitalistische Revolution im Mittleren Osten nicht siegreich sein darf, und dass eine NATO-Armee im 21. Jahrhundert auf keinen Fall im Krieg gegen eine Volksarmee und eine Guerillabewegung verlieren darf. Die geopolitische und historische Bedeutung einer solchen Möglichkeit in einem Lande wie Kurdistan und einer Region wie dem Mittleren Osten und die explosionsartige Auswirkung, die diese Realität auf alle anderen Teile der Welt haben könnte, ist ihnen bewusst. Ebenso ist auch dem Besatzerstaat Türkei und seiner faschistischen AKP/MHP-Regierung klar, dass sie mit der Revolution jegliche Existenzberechtigung verlieren. Sowohl historisch als auch aktuell ist deshalb die kurdische Frage für den faschistischen türkischen Staat eine Frage des Seins oder Nicht-Seins. Es ist auch keine Frage, die nur Rojava betrifft oder nur die Berge betreffen würde; es ist sowohl eine Frage, die alle Teile Kurdistans und ihre jeweiligen Besatzerstaaten betrifft, als auch eine Frage, die welthistorische Bedeutung und ein ebenso großes Potential hat.

Das umfangreiche Liquidationskonzept, welches gegen die PKK und die Freiheitsbewegung gefahren wird, ist dementsprechend nicht erst seit Neuem in die Wege geleitet worden. Nachdem der CIA-Gladio unterstützte und gesteuerte Militärputsch vom 12. September 1980 in der Türkei schlussendlich die sich selbstgesetzten Ziele nicht erfüllen konnte – also die Eliminierung jeglicher linker, sozialistischer und revolutionärer Potentiale -, mussten neue Mittel und Wege gefunden werden, um das wiedererwachte kurdische Volk erneut in Grabesstille versinken lassen zu können. Der Widerstand im Gefängnis von Amed und die Aufnahme des organisierten bewaffneten Kampfes am 15. August 1984, dessen 36. Jahrestag wir nun begehen, hatten den Putsch ins Gegenteil umgedreht: Zum ersten Mal hatte sich in dieser Form eine revolutionäre Perspektive für das kurdische Volk manifestiert.

Als 1986 der Mord an Olof Palme der PKK in die Schuhe geschoben werden sollte, was ziemlich offensichtlich der auch an anderen Orten geführten Gladio-Kriegsstrategie entsprach, wurde dies zum Anlass für eine neue internationale Offensive gegen den Befreiungskampf in Kurdistan. Schritt für Schritt wurde die gesamte Bewegung kriminalisiert, illegalisiert und mit dem Stempel „Terrorismus“ gebrandmarkt. Dabei interessierte es niemanden, dass eine solche Aktion doch jeglicher Logik und jeglichem Interesse der PKK widersprach. Erst in diesem Jahr 2020, also 34 Jahre später, wurde offiziell klargestellt, dass die ganze Geschichte, so – wie schon immer von der Befreiungsbewegung erklärt – nicht stattgefunden hatte, und doch sucht man vergeblich nach einer Entschuldigung, einer deutlicheren Aufklärung der beschriebenen Ereignisse und ihrer direkten und indirekten Folgen. Was passierte? Unter anderem im Anschluss an diesen Komplott wurden die Bewegung und das kurdische Volk trotz aller Versuche ihrerseits, einen politischen und demokratischen Lösungsprozess anzustoßen, mit einem ultimativen Vernichtungskrieg konfrontiert. Ergebnis: Zehntausende Tote, Millionen von Flüchtlingen, tausende zerstörte und verbrannte Dörfer und die totale Kriminalisierung international.

Als den US- und NATO-Strategen dann bewusst wurde, dass die Bewegung trotz alledem an Stärke und Einfluss gewann und sich dem Untergang der sozialistischen Bewegungen weltweit entgegensetzte, wurde das Internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan vorbereitet, organisiert und durchgeführt, das Isolationssystem Imrali gegen die Bewegung und das Volk eingeführt. Es ist wichtig, dieses Komplott insofern als essenziellen Teil des Greater Middle East Project der USA-NATO zu verstehen. Doch eben an diesem Punkt angekommen mit den Perspektiven aus Imrali und einem ununterbrochenen ideologischen, politischen, sozialen und militärischen Kampf lief das Komplott ins Leere und aus innerer Krise und äußerer Vernichtungspolitik stieg die Freiheitsbewegung stärker denn je hervor: Die Strategie des Revolutionären Volkskrieges wurde der Realität des 21. Jahrhunderts entsprechend entwickelt, die Revolution in Rojava entstand und gegen die faschistische Offensive des IS in der Region wurde ein historischer Widerstand organisiert, der in der militärischen Niederlage des IS und der Befreiung vieler Regionen in Nordsyrien und dem Şengal mündete.

Gegen diese Entwicklungen begann der türkische Staat ab 2014 mit der Beschließung des Konzepts „In die Knie zwingen“ (tr.: „Diz çöktürme planı”). Ein weiteres Mal verlor er sich in dem Wunschtraum, es wie Sri Lanka zu machen (tamilische Lösung): Das heißt absolute Vernichtungsstrategie auf allen Ebenen, also totale Eskalation. Am 24. Juli 2015, dem Jahrestag des Vertrages von Lausanne, begann der türkische Staat eine umfassende Operation gegen die Guerilla und seither ist der Krieg in drei Teilen Kurdistans – Süden, Norden und Westen – auf seinem Höhepunkt. Im Vorhinein dessen wurde bereits seit April 2015 Abdullah Öcalan erneut die totale Isolation aufgezwungen. Spätestens mit der Besatzung des Kantons Efrîn im Frühjahr 2018 können wir klar und deutlich von einem zweiten internationalen Komplott gegen die kurdische Freiheitsbewegung sprechen. Dabei geht es darum, dem Volk die Errungenschaften des Kampfes ein weiteres Mal zu entziehen, die PKK mit militärischem Zwang und der langwierigen Isolations- und Kriminalisierungsstrategie entweder komplett auszuschalten oder wenigstens in die Unbedeutsamkeit zu schicken, und das, was überbleibt, nach eigenen Interessen zu assimilieren. Da würde es den USA gefallen, wenn Rojava doch einfach zum einem zweiten Südkurdistan (KRG) verkommen würde, also jeglichen eigenen Willen abgeben und sich seinem „Schicksal“ ergeben würde.

Die Operation vom 9. Oktober letzten Jahres und die folgende Besatzung der Regionen Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) sind weiterer Teil dieses internationalen Konzepts gegen die Revolution und natürliche Konsequenz des türkischen Faschismus. Dass die USA ausgerechnet 2018 hohe Kopfgelder auf einige Führungsmitglieder der PKK ausschreiben ließen, ist kein Zufall; genauso ist es kein Zufall, dass, trotz aller Dreistigkeit, die Türkei immer wieder mit Kapitalspritzen auf den Beinen gehalten wird und pausenlos die modernsten Waffensysteme an die Türkei verkauft werden, sowohl von Seiten der NATO-Mitgliedsstaaten als auch von Seiten Russlands. Dies sind dann die Waffen, die in Efrîn, Serêkaniyê und Heftanîn eingesetzt werden: u.a. deutsche, italienische, US-amerikanische und israelische Waffen. Die imperialistischen Mächte profitieren von diesem Krieg! Außerdem können sie die Existenz eines selbstbewussten kurdischen Volkes, eines Projekts der ernsthaften Geschwisterlichkeit der Völker im Mittleren Osten nicht akzeptieren und die Gefahr des Sieges einer Guerillabewegung im 21. Jahrhundert nicht riskieren. Deswegen wird der türkische Staat auf den Beinen gehalten und kann in der Region mehr oder weniger lassen und tun, was er will.

In Koordination mit den USA und weiteren NATO-Staaten sowie teilweise auch mit Russland geht die Türkei gegen die Revolution vor: In diesem Rahmen finden weitgehende Luft- und Bodenoperationen in der Türkei, in Syrien und im Irak statt, Drohnenangriffe und Bombardements werden geplant und durchgeführt, nachrichtendienstliche Erkenntnisse werden geteilt. Im Zusammenhang mit diesem im Allgemeinen einheitlichen Konzept wird versucht, die Bewegung selbst und die Völker um jeden Preis zu spalten, ganz nach dem Motto: Teile und herrsche! Die Religionen und Konfessionen werden aufeinandergehetzt, die Nationen werden gegeneinander ausgespielt, das kurdische Volk unter sich in unzählige Teile gespalten: geografisch, politisch, gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell. Es wird zwischen dem „guten Kurden“, der also das macht, was ihm gesagt wird, und der „schlechten Kurdin“, die auf ihren Willen vertraut und selbstbewusst ist, unterschieden und dementsprechend wird entweder hart zugeschlagen oder weich Assimilierung vorangetrieben. Allein die Tatsache, dass der Krieg mit unterschiedlichsten Methoden auf Höchstform in den Bergen und in der Ebene, in den Dörfern und in der Metropole weitergeht, beweist die Vergeblichkeit dieser Politik. In Heftanîn hat sich ein weiteres Mal gezeigt, dass die türkische Armee, aller moderner Technik zum Trotz, unfähig ist, im Kampf gegen die Guerilla zu bestehen und ganz im Gegenteil schwerste Schläge einzustecken hat.

Seit dem lauten Trommelwirbel am Anfang der Operation schweigt die türkische Medienlandschaft mehr oder weniger über die doch eigentlich so vorlaut angekündigte Offensive. Sie ist zu einer Offensive geworden, die die türkischen Streitkräfte, ihre Söldner und Dorfschützer in eine passive Position gedrängt und sie der Guerilla quasi ausgeliefert hat. Gleichzeitig befindet sich die Jugend in Nordkurdistan und in der Türkei selbstverständlich nicht im Tiefschlaf, sondern von Osten bis Westen der Türkei finden täglich Aktionen gegen die Besatzer, Faschisten und ihrer Handlanger durch sogenannte Racheeinheiten, die YPS und YPS-Jin und die Initiative „Kinder des Feuers“, statt. In Südkurdistan befindet sich von Şîladizê bis Silêmanî die Bevölkerung gegen die Besatzung auf der Straße und Gruppe für Gruppe schließen sich Jugendliche dem Widerstand an. Und auch in Rojava geht der Widerstand weiter. Sosehr auch die Besatzung Serêkaniyês und Girê Spîs ein schwerer Schlag für die Revolution war, ist die Entschlossenheit, die türkischen Soldaten und ihre islamistischen Proxys aus dem Land zu jagen, überall zu spüren.

Es zeichnet sich ab, dass die nächste Eskalation kurz bevorsteht. In gemeinsamer Koordination versuchen sowohl der syrische als auch der türkische Geheimdienst für Durcheinander in den befreiten Gebieten zu sorgen und mit verschiedensten Mitteln die Bevölkerung gegen die Autonomieverwaltung auf die Straße zu bringen. Das zeigte sich in der letzten Woche insbesondere in Deir ez-Zor. In diesem Gebiet, in dem sowieso viele Schläferzellen des IS aktiv sind, werden gezielt von den erwähnten Geheimdiensten einflussreiche Persönlichkeiten, die hinter dem Projekt der demokratischen Nation stehen, ermordet und Probleme zwischen den verschiedenen Stämmen, den QSD und der zivilen Selbstverwaltung geschaffen. Auch das Ölabkommen, welches zuletzt von Seiten der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens unterzeichnet wurde, wird als Anlass dafür genutzt, verschiedenste Anti-Propaganda zu verbreiten und somit Antipathie vor Ort und international zu erzeugen. Dabei ist es doch offensichtlich, dass dem Projekt Rojava nicht wirklich Alternativen zur Verfügung stehen. Denn wenn es seine Selbstständigkeit und politische Unabhängigkeit nicht verlieren will und in der Lage sein möchte, der ökonomischen Krise, dem Embargo und dem Krieg etwas entgegenzusetzen, braucht es verständlicherweise Auswege wie diese. Es ist eines der Grundprinzipien der Föderation Nordostsyriens, dass alle Ressourcen dieses Landes allen Völkern Syriens gehören und vor diesem Hintergrund wurde ein Abkommen mit begrenzter Förderung und auf begrenzte Zeit mit einem US-amerikanischen Unternehmen abgeschlossen. Dies ist auch nebenbei bemerkt direkte Folge der jahrelangen Weigerung des syrischen Staates, sich an den Tisch zu setzen, um gemeinsam ein neues Syrien aufzubauen. Stattdessen gibt es für den syrischen Staat weiterhin nur eine Perspektive, und zwar alles wieder genauso wie vorher zu machen. Im Angesicht der Tatsache, dass das Land quasi ausgeblutet ist, stellt sich das als relativ realitätsfern dar. Man sollte doch meinen, nach so viel Krieg, Leid und Blutvergießen sollte auch eine Regierung wie die des Baath-Regimes mal darüber nachdenken, Dinge zu verändern, aber nein, sie beharrt wie auch der türkische Staat auf ihrer Ideologie: Ein Staat, eine Nation, eine Sprache, usw. – da bleibt kein Platz für Demokratie, Vielfältigkeit und Selbstbestimmung.

Als Teil ihrer speziellen Kriegsführung und der Vorbereitung der weiteren Eskalation hat die Türkei die natürliche Wasserzufuhr in die Region abgeschnitten. Der Euphrat in Syrien steht davor auszutrocknen und auch der Tigris im Irak verliert Schritt für Schritt an Masse. Die Hauptquelle der Wasserversorgung der Region Hesekê liegt im Dorf Allouk östlich von Serêkaniyê und befindet sich in der Hand der faschistischen Schergen. Vor diesem Hintergrund sollte man sich vielleicht nochmal fragen, wer hier eigentlich die natürlichen Ressourcen ausbeutet und seinem eigentlichen Eigentümer, nämlich dem Volk und der Natur, vorenthält.

Im Angesicht von Corona-Pandemie und einem damit zusammenhängenden globalen Angriff auf das Gesellschaftssein, also das Menschsein selbst, und im Angesicht der wachsenden Aggression des türkischen Faschismus in Kurdistan und in der gesamten mittelöstlichen Region heißt es, im Sinne einer internationalen antifaschistischen, antiimperialistischen und antikapitalistischen Front gemeinsam Hand in Hand den Widerstand zu organisieren und sich auf den nächsten Angriff auf Rojava vorzubereiten. Der türkische Faschismus, und das ist offensichtlich, wird weder in Libyen noch im Mittelmeer gestoppt werden, sondern in Rojava, in den Bergen Kurdistans und mit dem Aufstand in der Metropole wird er sein Ende finden.

Vom Arabischen Frühling zur Demokratischen Föderation Nordsyrien

Rojava ist die Geschichte des kurdischen Widerstands in Syrien

Mitten in den syrischen Bürgerkriegswirren hat die vor allem kurdische Bevölkerung von Rojava eine Zone des Friedens und relativer Sicherheit geschaffen. Bis zu dem berüchtigten Angriff des ›Islamischen Staats‹ (IS) auf Kobanê im Herbst 2014 und seit Januar 2018 der völkerrechtswidrigen Invasion der türkischen Armee in den Kanton Afrîn, hat die Selbstverwaltung den Bürgerkrieg bislang aus den Dörfern und Städten Rojavas heraushalten können und dort eine ausgesprochen demokratische Entwicklung eingeleitet. Durch autonome Selbstverteidigungskräfte (YPG/YPJ) und polizeiliche Sicherheitskräfte (Asayiş) war es möglich, die Grenzen der drei Kantone nach außen gegen die verschiedenen Bürgerkriegsparteien zu sichern und im Innern eine friedliche Gesellschaft auf demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien aufzubauen.

Unter Achtung der verschiedenen kulturellen und religiösen Besonderheiten sind alle Völker und sozialen wie politischen Gruppen, die sich an der Selbstverwaltung und autonomen Regierung Rojavas konstruktiv beteiligen wollen, aufgerufen, an diesem basisdemokratischen Experiment teilzunehmen und mit den alltäglichen praktischen Hürden umzugehen. Doch was ist Rojava eigentlich und warum bietet es eine demokratische und friedliche Perspektive für die ganze Region?

Rojava ist zunächst einmal der Name des mehrheitlich von KurdInnen bewohnten Landstrichs im Norden Syriens, südlich der Grenze zur Türkei. Hier leben etwa 2 Mio. Menschen, zur Zeit noch einmal knapp die gleiche Anzahl an syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Mit Beginn des syrischen Aufstands wurden dort bereits Jahre zuvor vorbereitete politische und soziale Strukturen gebildet, die eine Selbstverwaltung in politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Hinsicht ermöglichen. Es wurden Räte und provisorische Verwaltungen gebildet, Selbstverteidigungskräfte aufgestellt und Wirtschaftskooperativen gegründet.

Die Revolution in Rojava

Im Januar 2014 konstituierten die die drei noch räumlich voneinander getrennten Enklaven Afrîn, Kobanê und Cizîrê sich als unabhängige Kantone, schlossen sich in einer Föderation zusammen und gaben sich eine gemeinsame politische Verfassung: den Demokratischen Konföderalismus. Aus Demonstrationen heraus wurden Regierungs- und Verwaltungsgebäude besetzt und die militärischen Verbände des Assad-Regimes durch Blockaden vor den Kasernen gezwungen, abzuziehen.

Kurz darauf haben die drei Kantone eine schriftliche Verfassung verabschiedet, den sogenannten ›Gesellschaftsvertrag‹, der Frieden, Freiheit, Menschenwürde und Demokratie garantiert und die BürgerInnen vor Nationalismus, Militarismus und religiösem Fundamentalismus schützt. Dieser Gesellschaftsvertrag garantiert die grundlegenden Menschenrechte, die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht auf Arbeit und Wohnen, das Recht auf (kostenlose) Bildung und Gesundheitsversorgung, ein Asylrecht, Pressefreiheit, Religionsfreiheit u.v.m. Er erklärt Kinderarbeit und Kinderheiraten, Folter und Todesstrafe sowie den Missbrauch von Religion für politische Zwecke als verfassungswidrig. Alle diese Praktiken sind in Syrien und die meisten davon auch in den Nachbarstaaten gang und gäbe! Selbst im demokratischen Israel wird Folter toleriert (vgl. AI-Report 2016/2017) und es gibt die Todesstrafe, auch wenn sie zur Zeit nicht vollstreckt wird. Insofern ist der Gesellschaftsvertrag von Rojava bereits eine kleine Menschenrechts-Revolution für sich. Er garantiert darüber hinaus den nachhaltigen Umgang mit der Natur und das Recht auf ein Leben in einer intakten ökologischen Umwelt als Verfassungsrecht. Das ist in der Tat weltweit einmalig!

Vom Widerstand in Kobanê zur Demokratischen Föderation Nordsyrien

Das freiheitliche Projekt Rojava musste notwendigerweise die Feindschaft aller Despoten um sich herum auf sich ziehen. Während man mit dem an allen Fronten unter Druck geratenen Assad-Regime eine Stillhaltevereinbarung treffen konnte, schwang sich der Despot im Norden, der türkische Präsident Erdoğan, zum aggressivsten Gegner auf. Heute ist bekannt, dass der türkische Geheimdienst den IS massiv finanziert und aufgerüstet hat, unter der Absprache dass er Rojava angreift. Der fundamentalistische IS war Ankaras natürlicher Bündnispartner, denn insbesondere die Erfolge hinsichtlich der Frauenbefreiung und die säkulare Haltung Rojavas sind mit dem Fundamentalismus des IS unvereinbar.

Wir wissen alle noch, wie diese Intrige ausgegangen ist: Die zunächst überlegenen islamistischen Banden konnten unter fürchterlichen Kriegsgräueln bis in das Stadtzentrum von Kobanê vordringen, wo sie dann von den letzten verbliebenen Selbstverteidigungskräften (YPG & YPJ) in einem aufopferungsvollen Kampf aufgehalten wurden. Der weltweite Aufschrei der Zivilgesellschaften gegen den drohenden Genozid und die massiven Unterstützungsaktionen der internationalen Solidaritätsbewegungen hatten schließlich die USA so weit unter Druck setzen können, dass sie – in sprichwörtlich letzter Sekunde – zugunsten der YPG/YPJ eingriffen. Im Februar 2015 war die Stadt Kobanê von den Schergen des IS schließlich befreit.

Weil die Menschen in Rojava verstanden hatten, dass die Integrität der Region und somit ihre Sicherheit nur gewährleistet werden kann, wenn der IS vollständig aus Syrien vertrieben sein würde, hatte die Selbstverwaltung den Entschluss gefasst, von nun an weitere Regionen Syriens vom Joch des IS zu befreien. Da diese Regionen aber nicht alle mehrheitlich kurdisch besiedelt sind, aber auch weil die Freiheitsbewegung sich gar nicht als national kurdisch versteht, wurde das bereits während des Abwehrkampfes von Kobanê gestrickte Bündnis mit arabischen, assyrisch-christlichen, ezidischen und turkmenischen Bewegungen, die alle ebenfalls ein föderatives basisdemokratisches Politikmodell für Syrien anstreben, intensiviert und gemeinsam die „Demokratische Föderation Nordsyrien“ ins Leben gerufen.

Ein erstes wichtiges Ziel war die territoriale Verbindung der drei Kantone, was bisher nur zwischen Kobanê und Cizîrê gelingen konnte. Als das gemeinsame Militärbündnis der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) den Euphrat Richtung Afrîn überquerte und die IS-Verbände entlang der türkisch-syrischen Grenze bereits so gut wie vertrieben waren, intervenierte zum ersten Mal türkisches Militär direkt auf syrischem Boden und marschierte genau in der Region ein, die Kobanê und Afrîn miteinander hätte verbinden sollen. Afrîn blieb somit ein völlig isolierter Kanton in der Föderation, was den Menschen dort im Frühjahr 2018 durch die erneute türkisch-islamistische Aggression zum Verhängnis geworden ist.

Im Süden von Rojava hingegen gelang es den SDF unter größtmöglichem Einsatz bis zur ehemaligen IS-Hauptstadt Raqqa vorzudringen und die Bevölkerung dort von der Terrorherrschaft der Islamisten zu befreien.

Heute ist die Demokratische Föderation Nordsyrien in drei föderale Regionen gegliedert, in denen sich jeweils zwei Kantone zusammengeschlossen haben: Cizîrê (mit den Kantonen Hesekê und Qamişlo), Firat (Kobanê und Girê Spî) und Afrîn (Afrîn und Şehba). Auch wenn der Kanton Afrîn zur Zeit von türkischen und dschihadistischen Truppen besetzt ist, so zählt er weiterhin zu Rojava. Die Selbstverteidigungskräfte haben sich nach Wochen des Widerstands entschieden, die Bevölkerung in Richtung Aleppo und nach Şehba zu evakuieren und fortan in einem Guerillakampf um die Befreiung Afrîns einzutreten. Die Zukunft wird zeigen, wie lange sich die fremden Mächte dort halten können. Vieles hängt auch von den Interessen Russlands, Syriens, der EU und der USA ab.

Umso wichtiger ist es für die internationale Solidarität, Zuhause immer wieder auf die Zustände in Afrîn aufmerksam zu machen, wo neuerdings Kopftuchzwang herrscht, wo geplündert, gemordet und vergewaltigt wird, wo Frauen und Mädchen entführt werden, entweder um Lösegelder zu erpressen oder sie sexuell zu versklaven. Am dramatischsten ist die Situation für die EzidInnen in Afrîn, die von massenhaften Zwangskonvertierungen zum Islam berichten. Dem gegenüber steht das auf humanistischen Werten, auf Gleichberechtigung und Solidarität fußende Gesellschaftsmodell des Demokratischen Konföderalismus, das in Rojava und neuerdings auch in den vom IS befreiten arabisch besiedelten Gebieten rund um Raqqa im Osten Syriens praktiziert wird.

Unterdrückung von Protest in der Türkei

Tear Gas and Rubber Bullets Disrupt Istanbul Gay Pride Parade
(VICE News, Juli 2015, english)

Turkish police officers disrupted this year’s Istanbul gay pride march, violently dispersing peaceful crowds as they gathered at the city’s iconic Taksim Square. Istanbul’s annual march has been taking place in the city for over a decade, and the numbers of those attending have increased throughout the years. The police actions on Sunday were an apparent response to the sudden banning of the event by Istanbul governor’s office, which reportedly decided to outlaw the march as it coincided with the holy month of Ramadan. Undeterred, crowds began congregating on nearby streets, only to be fired upon with tear gas, rubber bullets, and water cannons by the police. Marchers told VICE News how they were attacked and injured by the heavy-handed police actions. Despite this, pride marchers continued to gather on the streets until the early hours of Monday morning.

Jugendbewegung in der Türkei

„Wir haben jung angefangen und werden jung siegen.“
– Abdullah Öcalan –

Die Jugend nimmt in gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen einen bedeutenden Platz ein. Auf dem Weg zu einer Revolution müssen wir uns die Geschichte linker und revolutionärer Bewegungen bewusst sein, um die Gegenwart analysieren zu können. Das braucht es, um ein sinnvolles Leben zu führen und eine Identität zu entwickeln. Der Aufbau eines sinnvollen Lebens hängt davon ab, wie tief unser Geschichtsbewusstsein ist und ob wir den Verlauf der
gesellschaftlichen Entwicklungen verstehen. Die Geschichte, die wir in der Schule gelehrt bekommen, ist geprägt durch eine kriegerische, macht-orientierte, unterdrückende und kolonialistische Geschichtserzählung. Das herrschende System versucht die Gesellschaft von einem eigenen, alternativen Geschichtsbewusstsein fernzuhalten und eine Gesellschaft mit sinn- und identitätslosen Leben zu erschaffen.

Was ist die „Jugend“?

Die Jugend versteht sich als innere Einstellung, ohne Alterszuschreibung. Sie repräsentiert die Lebendigkeit der gesellschaftlichen Natur. Sie ist beweglich, ihre Energie ist unerschöpflich und sie ist offen für Veränderung. Sie tritt ein für die Entwicklung und Verteidigung der Gesellschaft. Deshalb wird sie staatlich indoktriniert und instrumentalisiert. Ein Bewusstsein für die Jugend als
eigenständige gesellschaftliche Kraft gelingt über das Verständnis der jugendlichen Merkmale: wie zum Beispiel Mut zum Andersdenken, Lebhaftigkeit, Altruismus, Ehrlichkeit, Opferbereitschaft und Solidarität. Trotz der biologischen Überschreitung des Jugendalters kann die Jugend vertreten werden, wenn die jugendlichen Merkmale verinnerlicht sind.

Die Bedeutung der Jugend als revolutionäre Kraft

Die Jugend hatte eine wichtige Rolle in vergangenen Rebellionen und Revolutionen. In der 68er-Bewegung erfolgte der erste große historische Moment des Widerstands der Jugend. Sie reagierte gegen das vom System der kapitalistischen Moderne des nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten neokolonialistischen Systems. Gegen die Bestrebung des Kapitalismus, die Ausbeutung auf globaler Ebene zu forcieren, hat die Jugend in den Metropolen ein frühes Bewusstsein entwickelt und eine Haltung gezeigt. Des Weiteren drückte die Jugendrevolution die Widersprüche der Jugend mit den etatistischen Systemen aus. Es war im Wesentlichen eine Mentalitäts- und Kulturrevolution. Sie hat, im den machtbasierten und staatlichen Charakter der vorherigen großen Revolution überwunden. Die Französische Revolution verhalf der kapitalistischen Moderne zu ihrer globalen Hegemonie, die Oktoberrevolution schuf den Realsozialismus. Die 68er-Jugendrevolution hat eine Neuerung hervorgebracht. Unter dem Slogan „Eine andere Welt ist möglich!“ äußerten die Jugend als einziger Teil der Gesellschaft lautstark Kritik. Ziel war es den Staat aus dem Bewusstsein der Bevölkerung zu verdrängen. Auf dieser Grundlage wurde eine große gesellschaftliche Bewegung entfesselt, die nicht auf die Jugend beschränkt blieb. Sie hat schnell Verbreitung in der gesamten Gesellschaft gefunden. Sie ist zu einer Hoffnung der Gesellschaft geworden und hat eine große Hoffnung auf Freiheit geschaffen.

Rudi Dutschke im Februar 1968 bei einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg in Berlin

Die Kräfte der kapitalistischen Moderne wollten die Jugendbewegung mit Gewalt ersticken. Massaker, Hinrichtungen und Repressionen gegen die Jugendlichen fanden statt. Sie wurden denuziert, und als Terrorist*innen, Bandit*innen und Räuber*innen etikettiert. Medial und wissenschaftlich wurde die 68er-Bewegung verklärt und die revolutionäre Geschichte verleumdet. Der Widerstand wurde nicht global betrachtet.

Die Anfänge der 68er Bewegung

Die Jugendrevolution von 1968 war eine Widerspiegelung der Wut gegen das Geldsystem, welches über die Welt und über das Leben herrschte. In jedem Bereich des Lebens wurde der Einflussspürbar: Es wurde begonnen an vielen Orten Universitäten zu eröffnen mit dem Ziel, Jugendliche vermehrt in den Werkstätten und Laboratorien innerhalb der Universitäten arbeiten zu lassen und Profit zu machen, anstatt die Studierenden zu bilden. Für Kantinen und Universitätskliniken musste Geld ausgegeben werden. Studienkredite wurden zusammen mit Zinsen um ein vielfaches zurückgefordert. Die studierende Jugend wurde Schritt für Schritt abhängiger von finanziellen Ressourcen. Das Finanzkapital erhöhte die Arbeitslosigkeit erheblich. Die arbeitende Jugend wurde in die Arbeitslosigkeit gedrängt. Jugendliche mussten in die Vororte der Städte ziehen.

Im Mai 1968 begannen an den Universitäten von Paris, allen voran Sarbonne, unter Führung der Studierenden Demonstrationen und Boykotte. Das war der ausschlaggebende Funke der weltweiten 68er-Bewegung. Als die Jugendrevolte 1968 in Paris explodierte, war das Echo in der Columbia Universität, in den USA, in Prag, Mexico City, Tokyo und in den italienischen Städten zu hören. Die USA wurden durch zahlreiche Demonstrationen von Afroamerikaner*innen erschüttert. Proteste, die sich im Kern als Reaktion auf das kapitalistische Leben in der Hippie- und Beatnik-Szene¹ entwickelten, wurden von Seiten der studierenden Jugend politisiert. Eine Vielzahl von Kultur- und Musikgruppen haben an den Demonstrationen teilgenommen. In kürzester Zeit wurden in zahlreichen Ländern andere Widerstände vereint und sich in einen giganischen Geist des globalen Aktivismus verwandelt.

March 29, Memphis, Tennessee: National guardsmen brandishing bayonets block civil rights activists trying to stage a protest on Beale Street. The marching demonstrators, wearing signs which read ‚I Am A Man‘, were also flanked by tanks

Zusammen mit den 68-Bewegungen wurden von Seiten der Jugend immer mehr revolutionäre, radikale Organisationen gegründet. Seit den 68ern entwickelten sich Organisationen und Avantgardebewegungen wie die RAF in Deutschland unter der Führung von Ulrike Meinhof, sowie zahlreiche antifaschistische Organisierungen, wie etwa die „Roten Brigaden“ in Italien oder die „Action Directe“ in Frankreich. In Guinea entstanden unter Führung von Amilcar Cabral eine antikoloniale Befreiungsbewegung. In den USA führte die größte Protestbewegung der Zeit zur Abschaffung von Apartheidsgesetzen. Die Auswirkungen der 68er Bewegung auf den Mittleren Osten waren begrenzt. Die Bewegungen dort waren jedoch radikaler und oftmals militärischer Natur. Zusammengefasst hat der gesellschaftliche und politische Kampf der Jugend im Zuge der der 68er-Revolution zusammen weltweit neue Fahrt aufgenommen.

Ein kurzer Exkurs in die Entstehung und Entwicklung der Türkei

Im Osmanischen Reich gab es immer wieder vereinzelte Widerstände, aber keine Massenbewegungen. Die Widerstände orientierten sich am nationalistisch-liberalen Westen. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs wurde 1923 unter Führung von Mustafa Kemal Atatürk, eine Republik gegründet. Die Reformjahre unter Atatürk 1923 bis 1938 brachten eine kemalistische Elite hervor. Diese setzte sich die Durchsetzung und später die Bewahrung der kemalistischen Reformen zum Ziel. Das Regime unter Atatürk war sehr autoritär. Am 31. März 1923 erließ die türkische Regierung eine allgemeine Amnesie für alle im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armernier*innen von 1915/16 stehenden Angeklagten. 1925, 1930 und 1937/38 kam es zu kurdischen Aufständen.

Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg: Türkische Soldaten hängen junge Männer am Galgen auf

Mit dem Tod von Atatürk endete die Zeit der radikalen Veränderungen. Nach ihm übernahm Ismet Inönü das Amt des Präsidenten der Türkei. Er strebte eine stärkere Verwirklichung demokratischer Grundsätze im öffentlichen Leben an, ohne genaueres zu erwähnen. Nachdem er 1945 das Ende des Einparteiensystems verkündete, wurde die proamerikanische Demokratische Partei (DP) gegründet. Bei den Parlamentswahlen 1950 erhielt die Partei mehr als die Hälfte der Stimmen. Die Militärs befürchteten, dass die neue Regierung gegen die Prinzipien des Kemalismus handeln oder diese zu beseitigen versuchen könnte. Durch
gegenseitiges Misstrauen tauschte die DP-Regierung unmittelbar nach Amtsantritt die Armeeführung aus.

Am 18. Februar 1952 trat die Türkei zusammen mit Griechenland in die NATO ein. Aufgrund von Ausschreitungen in den 1950ern und einer immer autoritärer werdenden Regierung traten Mitglieder aus der Partei aus. Die Partei verlor bei der Bevölkerung zunehmend an Rückhalt, weil der wirtschaftliche Fortschritt nur wenigen zugute kam. Auf Kritik reagierte die Regierung sehr gereizt. Im April 1960 wurde von der Regierungspartei ein Ausschuss eingesetzt, dem es erlaubt war, die Presse zu zensieren, Zeitungen zu verbieten und Haftstrafen zu verhängen. Daraufhin begannen am 28. April 1960 in Istanbul und Ankara Proteste von Studierenden. Als Reaktion darauf wurde das Kriegsrecht verhängt, was jedoch nicht dazu führte, dass die Proteste sich beruhigten. Am 27. Mai 1960 übernahmen türkische Streitkräfte die Macht in der Türkei. Die Regierung der DP wurde gestürzt. Die Führung übernahm nun das Komitee der Nationalen Einheit (MBK). Die Ausgangssperre und das Kriegsrecht wurden aufgehoben und eine neue Verfassung wurde ausgearbeitet und verabschiedet.

Die 68er-Jugendbewegung und ihre Auswirkungen auf die Türkei

Die neuen Rechte unter der MBK-Regierung ermöglichten legale politische Arbeit, Streikrecht und die Legalisierung von Literatur. Verbotene marxistisch-leninistische Klassiker konnten ins türkische übersetzt werden und viele Jugendliche wurden durch diese Bücher beeinflusst. Das führte zur Bildung eines Bewusstseins, das eine Auseinandersetzung mit der Frage, was Freiheit und Unfreiheit bedeuten kann, erlaubt. Die Menschen radikalisierten sich und erste Jugendorganisationen entstanden. Die sozialistische Arbeiterpartei der Türkei (TIP) trat in den Wahlen 1965 und 1969 an und setzte sich die werktätige Bevölkerung als politische Zielgruppe. Die Grundlagen, die die TIP geschaffen hatte, wurden genutzt, um sich in den führenden Universitäten der Türkei zu organisieren. Diese Organisierung hat sich als Föderation der Debattierclubs konkretisiert und eine massenhafte Beteiligung der Jugend am revolutionären Kampf entwickelt. Jedoch war sie nicht in der Lage die Revolutionsträume der Jugend zu befriedigen und stellte vielmehr eine parlamentarische Linke dar. Diese wurde jedoch durch das türkische kapitalistische System aufgesogen und rückte immer mehr nach rechts. Es begann die Vorreiterschaft von Mihri Belli, der die „Theorie der Nationaldemokratischen Revolution“ begründete. Jedoch konkretisierte er nicht, wie die Demokratisierung verwirklicht werden solle.

Die Jugend schlussfolgerte aus der Geschichte von Demokratisierungen, dass diese mit radikal-revolutionären Widerstand erkämpft werden muss. Sie entschlossen sich 1965 in Form der Dev-Genç³ unabhängig zu organisieren. Die Dev-Genç war Ausdruck der massenhaften revolutionären Haltung und Bewegung der kurdischen und türkischen Jugend in Bewegung. In den folgenden Jahren leistete die revolutionäre Jugend gegen die faschistischen, reaktionären Angriffe des Staates Widerstand. Gemeinsam mit Arbeiter*innen wurden Fabriken besetzt und militärische Aktionen durchgeführt, wie die Hinrichtung von faschistischen Führungspersonen. In diesen Widerständen sind bekannte revolutionäre Jugendliche gefallen. Vor diesem Hintergrund kamen die Bewaffnung der Jugend zum Selbstschutz und die militärische Organisierung noch dringender auf die politische Agenda.


Der „blutige Sonntag“ in der Geschichte der Türkei beschreibt die Ereignisse am 16. Februar 1969. 76 Jugendorganisationen hatten eine Demonstration gegen das Einlaufen der 6. Flotte der USA angemel-det. Der Verein zum Kampf gegen Kommunismus hatte zu einer Gegendemonstration aufgerufen. Die unbewaffneten Demonstranten auf dem Taksim-Platz wurden von 400 bis 500 Faschisten, denen die Polizei Zutritt verschaffte, mit Messern, Ketten und Knüppeln angegriffen. Bei den Auseinanderset-zungen starben die Jugendlichen Ali Turgut Aytaç und Duran Erdoğan durch Messerstiche.

Die Jugendbewegung der Türkei wurde einerseits stark von der politischen Lage in der Türkei beeinflusst. Andererseits wurde sie inspiriert von den sich global und regional entwickelnden 68er-Bewegung. Mit der palästinensichen Guerilla wurden in dieser Zeit Beziehungen aufgebaut und die Unterstützung und Solidarität mit der palästinensichen Revolution verstärkt. So führten die Kader der Jugendbewegung der Türkei die Vorbereitungen für eine Guerilla an. Eine Vielzahl an Jugendlichen ist nach Palästina gegangen, erhielt dort eine Guerilla-Ausbildung und kehrte in die Türkei zurück. Es wurde damit begonnen im Geheimen Guerillaorganisationen aufzubauen.

Sehr bald stellte sich der Staat gegen die sich ausbreitende revolutionäre Jugend. Der faschistische Putsch vom 12. März 1971 markiert ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der revolutionären Jugend in der Türkei. Viele jugendliche Anführer wurden während des Putsches ermordet und die Jugend erlitt einen harten Rückschlag. Die Ermordung führender revolutionärer Personen wurde zur „Niederlage vom 12.März“. Bis in die 1974-75er Jahre erlebte der revolutionäre Kampf in der Türkei eine ernsthafte Stagnation. Nach dem Putsch wandten sich viele revolutionäre Jugendliche einem entschlossenen bewaffneten Widerstand zu.

Die Situation der Jugend in Kurdistan

Aufgrund der feudalen, patriarchalen Mentalität in Kurdistan war eine Vorreiterrolle der Jugend in der kurdischen Widerstandstgeschichte der Türkei über eine lange Zeit nicht möglich. Die Jugend trat in der Geschichte Kurdistans zuerst in Form der Studierenden im Westen des Landes auf, nachdem 1959 ein politisches Verfahren gegen kurdische Studierende wegen eines Protestbriefes eröffnet wurde. Dadurch fand jedoch keine starke Identitätsbildung der kurdischen Jugendlichen statt. Einige der angeklagten Jugendlichen gründeten später die KDP-Türkei. Diese entwickelte sich in zwei Linien statt: Die erste war nationalistisch ausgerichtet und ist ein Ableger des nationalistischen Barzani-Clans aus Südkurdistan (Irak). Die zweite richtete sich nach den Bedürfnissen der Arbeiter*innen. In beiden Lagern hatte die Jugend keine Bedeutung. Die 68er-Bewegung, die weltweiten Einfluss hatte, erzeugte in Kurdistan zunächst nur kleine Funken, die innerhalb dieser Bewegungen zum Erlöschen kamen. Der Effekt war begrenzt und indirekt. 1969 wurde der marxistische Kulturverein (DDKO) gegründet, der sich für die Gleichberechtigung aller Völker einsetzte.

Die Vorgeschichte der PKK und die Entstehung der Führung

In der 68er-Generation schlossen sich einige kurdische Jugendliche in der Türkei der Dev-Genç an. Ihnen gelang es allerdings nicht, eine nationale Rolle zu spielen. Jeder Aufstand in der kurdischen Widerstandsgeschichte endete in Massakern, wodurch die Hoffnungslosigkeit in der kurdischen Gesellschaft weiter verstärkt wurde. Selbst unter Kurd*innen bedeutete allein der Gedanke an den Namen Kurdistans bereit zu sein, den Tod in Kauf zu nehmen. Angst und Hoffnungslosigkeit wurden hinterlassen. Nach der Niederlage am 12. März 1971 wurden die Bedingungen für den revolutionären Kampf in der Türkei noch härter. Eine große Plan- und Ziellosigkeit machte sich breit. Innerhalb der Linken entwickelten sich viele Diskussionen, die jedoch aus Streitigkeiten zwischen Gruppen herrührten und was dazu führte, dass die türkische Linke aus ihrer Niederlage nicht lernen konnte. Begangene Fehler und Unzulänglichkeiten wurden nicht kritisiert und nicht selbstkritisch die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen.

Mit der letzten Niederlage Barzanis in Südkurdistan ist die Frage nach der richtigen Führung im Kampf um Kurdistan auf die Tagesordnung getreten. Abdullah Öcalan hat als Antwort auf diese Frage passende Analysen geliefert und wurde zum ideologischen und organisatorischen Wegweiser. Mit der Feststellung, dass Kurdistan eine Kolonie ist, nannte er das Problem beim Namen und bekräftigte, dass dies innerhalb einer demokratischen und klassenbasierten Einheit zu lösen ist. Er betonte die Bedeutung der Schaffung einer neuen Persönlichkeit durch die Revolution Kurdistans. Die Befreiung der kolonialisierten Persönlichkeit sollte zur größten gesellschaftlichen Revolution werden. Nachdem er die Revolution der kurdischen Persönlichkeit bei sich selbst vollzog, übertrug er dies auch in die aufgebaute Gruppe und später in die Bewegung. Dadurch wurde in der Gesellschaft ein demokratischer Mentalitätswandel vorangetrieben. Er zog Lehren aus den Fehlern in der Widerstandsgeschichte Kurdistans und der Geschichte des Kampfes der Linken in der Türkei. In den 1970er Jahren hat er mit zwei grundlegenden Unterschieden seine eigene, originelle politische Identität aufgebaut. Zuerst grenzte er sich von den nationalistisch-kurdischen Strömungen ab. Als Zweites trennte er sich von der chauvinistischen Linie der Linken in der Türkei.

Die Geburt der PKK

Die Situation der revolutionären Jugend in der Türkei beeinflusste die Gründung der PKK maßgeblich. In diesem Sinne kann die PKK als verspäteter Ausdruck und Aufflammen der 68er-Bewegung in Kurdistan definiert werden. Weitere Einflüsse waren der Aufstand in Süd-Kurdistan und die DDKO. Jugendliche, die sich von der revolutionären Jugendbewegung der Türkei und derDDKO trennten, organisierten sich um Abdullah Öcalan (Serok Apo) herum. Viele, größtenteils arme und arbeitende Jugendliche schlossen sich an und die Organisierung erlangte eine zentrale Position im nationalen Befreiungskampf Kurdistans. Die PKK ist als eine Jugendpartei geboren und als solche gewachsen.

Resümee

Eine Jugend ohne Utopien kann nicht wachsen, sie ist dazu verurteilt klein zu bleiben. Jede Revolution ist zuerst eine Utopie, ein Ideal. Erst später wandelt sie sich in die Lebensrealität und die Praxis. Dass die Gesellschaft ihre eigene Lösung nicht entwickelt, hängt damit zusammen, dass ihr verwehrt wird, etwas für ihre eigene Entwicklung zu unternehmen, sich dafür einzusetzen und dafür zu arbeiten. Mit Gleichgültigkeit oder Unentschlossenheit kann das Bestehende nicht verändert werden. Die revolutionäre Jugend ist bis zum Schluss dazu entschlossen, ihren Idealen einer freien Gesellschaft und freien Jugend zu folgen.

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¹ Beatnik = Symbole dieser Subkultur sind der Bebop, sowie Modern Jazz und die ständige Beschäftigung mit Literatur; ein eng verwandter Begriff ist der des Hipsters. Als Beat-Generation wird eine Richtung der US-amerikanischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1950er Jahren bezeichnet. Bekannte Beat-Autoren sind Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs.

Quelle: „Manifest der Jugend“ 1. Auflage März 2017. Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH

Widerstand in türkischen Metropolen

Turkey’s Civil Revolt: Istanbul Rising
(VICE, June 2013)

On Friday, May 31, Turkish riot police fired tear gas and pepper spray into a peaceful protest held to save Gezi Park, one of the last green areas in central Istanbul. This set off the biggest civil uprising in the history of the Turkish Republic, calling for Prime Minister Erdogan’s resignation. The unrest has spread like wildfire to more than 60 cities where protests are still ongoing. We landed in Istanbul the day it all kicked off.

The New Gezi Park Protesters: Istanbul’s Gentrification Wars
(VICE News, Aug 2014)

This weekend’s presidential election in Turkey is as good as decided. The mass protests surrounding Gezi Park, the corruption scandals, the Soma mining accident — none of these incidents will stop the majority of Turks from electing Recep Tayyip Erdogan as president. Among other things, this means that ambitious development projects will likely multiply — and with them, the controversies Erdogan’s AKP party aggressive policies routinely provoke. The Gezi uprising that rocked Turkey in June 2013 was sparked by a government project to transform the park in central Istanbul into a gigantic mall. And while a relentless police crackdown has led many of last year’s protesters to abandon hope, the problems at the heart of Erdogan’s vision for Turkey’s urban development have not gone away. Those directly affected by the aggressive development of their neighborhoods are often left with only one of two options: to despair, or to fight. One group that has decided to take the fight to the government is the Revolutionary People’s Liberation Front, or DKHP/C. This extreme-left party, labeled a terrorist organization by the EU, is entrenched in many of the disenfranchised neighborhoods that have become targets for ruthless urban development. To stave off the forced relocation of inhabitants, the DKHP/C militants are prepared to combat not only the police, but also violent drug gangs that terrorize their neighborhoods, which they believe are collaborating with the state. VICE News travelled to Istanbul to meet the DKHP/C on its home turf, document its fierce clashes with the police on May Day, and understand what motivates these violent, self-proclaimed champions of the poor.

From Grief Over Kobane To Chaos: Istanbul’s Kurdish Riots
(VICE News, Oct 2014)

As the battle between Kurds and Islamic State militants rages on in the Syrian border town of Kobane, Kurds in neighboring Turkey are becoming increasingly angry at the Turkish government’s failure to intervene. And so protestors have taken to the streets in cities such as Ankara and Istanbul to show their support for both the Kurds fighting in Kobane and the Kurdistan Workers‘ Party (PKK), a resistance group in Turkey classified as a terrorist organization by Turkey, the United States, and several other Western nations. VICE News traveled to Istanbul, where a memorial march for two fighters who died in Kobane devolved into a night of chaos. Amid clouds of police teargas, we spoke to members of a PKK youth wing as they threw Molotov cocktails and shouted support for Kurds in Turkey and Kobane.

Internationale Interessen im Syrienkrieg

Quelle: ANF – Syrienkrieg: Dritter Weg im Wirrwarr
internationaler Interessen
(Dez 2019)

Seit 2011 herrscht ein internationaler Bürgerkrieg in Syrien. Regionale und internationale Mächte wirken in diesem Krieg mit. Der Kampf gegen den IS hat die widersprüchlichen Interessen auf dem syrischen Schlachtfeld temporär in den Hintergrund geraten lassen. Doch spätestens seit dem militärischen Sieg über die Organisation in al-Baghuz sind die gegensätzlichen regionalen und internationalen Interessen in voller Härte wieder zum Vorschein gekommen. Wir wollen mit diesem Artikel einen Blick auf die Interessenslagen und die damit verbundenen Widersprüche in Syrien werfen. Welche regionalen und internationalen Mächte verfolgen welche Ziele in dem kriegsgebeutelten Land? Welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch für die lokalen Akteure in dem Konflikt? Und wie sieht in diesem Zusammenhang die Perspektive für einen Frieden in Syrien aus? Wir möchten versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Assad als großer Sieger des Bürgerkriegs?

Als im Jahr 2010 der arabische Frühling über die Länder Nordafrikas und des Mittleren Ostens hinwegfegte, entbrannte die Hoffnung auf einen Wandel in einer Vielzahl von autoritär geführten Staaten der Region. Die Menschen rebellierten grenzübergreifend und waren nicht mehr gewillt, die diktatorischen Regime in ihren Ländern zu akzeptieren. Der Wunsch nach einer Demokratisierung war vielerorts zu spüren. Doch der Wind sollte sich bald drehen. Denn verschiedenste Regional- und Großmächte waren nicht bereit, den Wandel in der Region den Massen zu überlassen. Sie mischten in verschiedenen Ländern mit, unterstützten dort, wo es sie gab, ihnen genehme Akteure oder erschufen sie dort, wo es sie nicht gab.

Im Zuge des „Arabischen Frühlings“ geriet bald auch Syrien ins Visier der regionalen und internationalen Akteure. Die Proteste gegen das Baath-Regime im Jahr 2011 wurden rasch vereinnahmt. Aus friedlichen Protesten entwickelte sich so schon bald ein blutiger bewaffneter Bürgerkrieg. Ausgerufenes Ziel war es, die Regierung von Bashar al-Assad zu stürzen. Doch im Jahr 2019 ist Assad weiterhin an der Macht und er hat nach dem anfänglichen Verlust weiter Territorien nun einen Großteil Syriens wieder unter seine Kontrolle gebracht. Der Sieg über die sogenannte Freie Syrische Armee in Aleppo war ein Wendepunkt im Bürgerkrieg. Das nächste Ziel der Regimekräfte ist die Provinz Idlib.

Was Assad beabsichtigt, ist die Wiederherstellung des Status quo ante bellum in Syrien. Mit der großzügigen Unterstützung Russlands, des Irans und der libanesischen Hisbollah hat er ein großes Stück auf der Strecke zu diesem Ziel genommen. Die zentrale Herausforderung zur vollständigen Umsetzung seines Vorhabens stellen neben dem Kampf um Idlib, der Umgang mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens sowie mit den von der Türkei besetzten Gebiete in Nordsyrien dar. Das Vorhaben der arabischen Golfstaaten, der Türkei und des Westens, sein Regime zu stürzen, scheint bereits jetzt erfolgreich abgewendet. In die Karten des Assad-Regimes hat in jedem Fall das zwischenzeitliche Erstarken des IS gespielt. Denn diejenigen Mächte, die ihn eigentlich stürzen wollten, mussten dadurch ihren Fokus im syrischen Bürgerkrieg neu legen. Aufgrund der internationalen Gefahr, die von dieser Organisation ausging, erschien Assad für viele seiner einstigen Gegner nun als das kleinere Übel. Das Interesse an einem Regimewechsel in Syrien rückte dadurch jedenfalls in den Hintergrund. Ob Assad aber sein Land vollständig in den Zustand vor dem Bürgerkrieg zurückführen kann, bleibt zumindest fraglich.

Die Interessenslage Russlands und des Irans

Ein vorläufiger Sieger des syrischen Bürgerkriegs scheint Russland zu sein. Mit breiter militärischer Unterstützung für Assad konnte über diesem das russische Einflussgebiet in Syrien aufrechtgehalten und ein, dem westlichen Interessen entsprechender Regime-change abgewehrt werden. Selbst die Türkei, ein eingeschworener Befürworter des Sturzes von Bashar al-Assad, wurde erfolgreich in die syrische Interessenspolitik Moskaus eingebunden. Die Türkei ist im Laufe des syrischen Bürgerkriegs zu einem besonders nützlichem Partner Russlands geworden. Denn über Ankara gelingt es, den Aktionsradius verschiedener islamistisch-gesinnter Gegner Assads unter Kontrolle zu halten. Der Rückzug der islamistischen Rebellen in Aleppo auf Geheiß der Türkei ist ein Paradebeispiel dieses Erfolgs. Auch in Idlib führt Russland eine ähnliche Diplomatie, um die Rückeroberung der Stadt durch Assad zu erleichtern.

Einen weiteren Vorteil bietet die Türkei aus russischer Perspektive im Umgang mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien. Hier fungiert die Türkei als wichtiges Drohmittel. Die Föderation wird immer wieder vor folgende Wahl gestellt: Entweder akzeptiert ihr die Hoheit des Assad-Regimes über die von euch kontrollierten Gebiete oder wir lassen die Türkei auf euch los.

Ein besonderes Interesse am Machterhalt des Assad-Regimes zeigte von Anfang an auch der iranische Staat. Gerade vor dem Hintergrund des internationalen Drucks auf das eigene Regime verfolgt Teheran eine Politik, mit der es die Konflikte in der Region vor der eigenen Haustür halten möchte. Und so mischt der Iran munter in den Bürgerkriegen im Jemen und Syrien sowie in der politischen Krise im Irak mit. In Teheran ist man sich dessen bewusst, dass der Westen und die Golfstaaten mit herbeigeführten Regimewechseln den Iran umzingeln möchte. Die Abwendung dieses Vorhabens wie derzeit in Syrien ist somit ein ernstzunehmendes Interesse des Mullah-Regimes.

Westliche Interessen: Kampf gegen den IS und der drohende Einflussverlust in Syrien

Maßgeblichen Einfluss an dem Abdriften des syrischen Aufstands in einen Bürgerkrieg haben die westlichen Interessen in der Region. Sie haben die Bewaffnung der syrischen Gegner des Assad-Regimes vorangetrieben und auch über lange Zeit von ihrem Vorhaben, das Regime zu stürzen, nicht abgelassen, als innerhalb des Assad-feindlichen Lagers islamistische Kräfte die Überhand gewannen. Erst mit dem Erstarken des IS in Syrien, das die vom Westen unterstützte Opposition im Land samt ihrer Waffen aus dem Westen und den arabische Golfstaaten förmlich überrannte, wurde dieser Kurs korrigiert. Dieselben Mächte, die alles auf einen raschen Sturz von Assad setzten, versammelten sich fortan unter der Anti-IS Koalition. Notgedrungen suchten sie die Kooperation mit einem politischen Akteur, den sie bis dato mit allen Mitteln im syrischen Bürgerkrieg zu ignorieren versuchten – der Demokratischen Föderation in Nordsyrien. Deren Selbstverteidigungskräfte, die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), galten als letzte effektive Bodentruppen, die dem IS etwas entgegen zu bieten hatten. Diese Kooperation war auch im Sinne der Demokratischen Föderation, galt doch der IS mit der Unterstützung der Türkei als ernstzunehmende Gefahr für die radikaldemokratische Revolution von Rojava. Parallel zur militärischen Kooperation, die letztlich zum militärischen Sieg über den IS führte, setzt der Westen allerdings bis heute alles daran, eine politische Anerkennung der Föderation zu unterbinden. So werden dieselben Akteure, welche die größten Opfer im Kampf gegen den IS aufgebracht haben, von allen internationalen Friedensverhandlungen für Syrien konsequent herausgehalten. Dass dieser Kurs allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, zeigen die zuletzt von der UN initiierten Verfassungsverhandlungen für Syrien in Genf (http://civaka-azad.org/die-loesung-slosigkeit-syrischer-friedensverhandlungen/).

Der jüngste NATO-Gipfel zeigt zudem, wie der Westen einerseits zwar seinen Einfluss in Syrien nicht aufgeben will, andererseits aber auch, welche Risse innerhalb dieses Machtblocks sich aufgetan haben. Soll man auf die Türkei setzen, um einen Fuß in Syrien zu halten (Tendenz innerhalb der deutschen Bundesregierung) oder doch den Kontakt zur Föderation Nordsyriens suchen, um nicht vollständig vom unverlässlichen türkischen Partner abhängig zu sein (eher die französische Haltung). Dass sich die Großmacht USA in dieser Frage auch noch nicht vollständig entschieden hat, zeigt der von Washington vollzogene Rückzug in Syrien. Die ernstzunehmende Gefahr eines Widererstarkens des IS im Zuge des aktuellen türkischen Besatzungskriegs lässt diese Frage umso dringender erscheinen.

Türkei: Neoosmanische Träume und die „kurdische Gefahr“

Eine der Mächte, die von Anfang an am vehementesten für den Sturz Assads in Syrien eingetreten ist, war die Türkei. Hierfür hat sie mit am aktivsten an der Bewaffnung und Ausbildung der Anti-Assad-Truppen mitgewirkt. Im Gegensatz zum Westen, der ein gewisses Unbehagen am Erstarken islamistischer Kräfte in Syrien zeigte, ist dies der Türkei herzlich egal. Ankara hat, als es das Blatt in Syrien sich wenden sah, sogar mit dem Abschuss eines russischen Jets versucht, einen Krieg zwischen der NATO und Russland auf syrischem Boden zu provozieren. Als diese Rechnung allerdings nicht aufging, sah sich das Erdogan-Regime plötzlich Moskau ausgeliefert. Heute ist auch das kleinste Handeln der Türkei in Syrien ohne die Einwilligung Putins nicht denkbar.

Aktuell ist das der Türkei noch recht, hat sich doch die Syrienpolitik Ankaras mit der Entstehung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien bedeutend verändert. Vom Sturz des Assad-Regimes ist keine Rede mehr. Der einzige Fokus der türkischen Politik ist die Bekämpfung der Föderation Nordsyriens, einschließlich eines genozidalen Kurses gegen die dort lebende kurdische Bevölkerung. Dafür werden weiterhin islamistische Truppen massiv von der Türkei unterstützt. Wie bereits oben beschrieben, nutzt die kurdenfeindliche Politik Ankaras bis zu einem gewissen Grad auch der russischen Syrienpolitik.

Die Türkei hat allerdings auch ihre neoosmanischen Träume nicht aus dem Blick verloren. Ankara hat eigentlich seit der Neuordnung des Mittleren Ostens infolge des Ersten Weltkrieges nie aufgehört, Ansprüche auf die Gebiete im Norden Syriens und im Norden des Iraks zu erheben. Die Besatzungsoperationen in Nordsyrien passen da ins Konzept. Die ethnischen Säuberungen in den besetzten Gebieten sind ebenfalls Teil einer längerfristig ausgelegten Politik. Doch wie wird die Haltung Russlands zu der Besetzung dieser Gebiete aussehen, wenn die Türkei ihre Rolle als nützlicher Dienstleister der russischen Syrienpolitik ausgespielt hat? Und wie lange kann die Türkei die kostspielige Besatzung vor dem Hintergrund des anhaltenden Widerstands der Völker Nordsyriens aufrechterhalten? Diese Fragen müssen aktuell noch unbeantwortet bleiben.

Die Politik des Dritten Weges als Konstante der Föderation Nordsyriens

Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Interessen im syrischen Bürgerkrieg hält die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyriens als eine der wenigen Akteure an ihrem politischen Kurs konsequent fest. Dieser Kurs lässt sich als Politik des dritten Weges umschreiben. Erstmals deklariert wurde diese Leitlinie, als sowohl das Baath-Regime wie auch die vermeintliche syrische Opposition versuchten, die politischen Vertreter der Revolution von Rojava auf ihre Seite zu ziehen. Der dritte Weg wurde vor diesem Hintergrund als selbstbewusste Haltung deklariert, die keine Bereitschaft zeigte, sich in fremde Interessen einbinden zu lassen. Stattdessen verfolgte die Revolution von Rojava stets den Kurs, die von ihr befreiten Gebiete gegen äußere Angriffe zu verteidigen und den Aufbau einer basisdemokratischen, geschlechterbefreiten und pluralistischen Gesellschaftsordnung voranzutreiben.

Das bedeutet nicht, dass jeglicher Dialog zu anderen Akteuren rundweg abgelehnt wurde. Im Gegenteil, die Vertreter der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens suchten von Anfang an den Dialog zu allen Akteuren auf dem Feld. Eine Zusammenarbeit wurde allerdings nur dann eingegangen, wenn dies den oben genannten Eigeninteressen diente. Das geschah beispielsweise im gemeinsamen Kampf mit der internationalen Koalition gegen den IS.

Heute stellt die türkische Invasion die größte Gefahr für den Fortbestand der Föderation in Nordsyrien dar. Auch vor diesem Hintergrund bemühen sich ihre politischen Vertreter darum, mit allen Akteuren in den Dialog zu treten und auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Haltung gegen die türkische Gefahr zu drängen. Auch die militärischen Vereinbarungen mit dem Assad-Regime sind vor diesem Hintergrund zu werten.

Doch der Dialog mit dem Assad-Regime ist keiner, der allein aus einer Notsituation heraus entstanden ist. Tatsächlich bemühen sich unter dem Dach des Demokratischen Syrienrats (MSD) die Völker Nordsyriens seit geraumer Zeit, einen lösungsorientierten Dialog mit Damaskus aufzubauen. Ziel ist ein demokratischer Wandel des Landes, das dezentral strukturiert ist und somit den Raum für die demokratische Selbstverwaltung Nordsyriens und anderer Regionen eröffnet. Noch stehen die Vorstellungen Assads und der Föderation von einem zukünftigen Syrien sehr weit auseinander. Doch wenn beide Seiten einen weiteren langanhaltenden Krieg aus dem Weg gehen wollen, müssen sie einen Kompromiss finden. Wie dieser letztlich aussehen könnte, wird die Zeit zeigen. Im Kampf gegen eine längerfristige türkische Besatzung in Nordsyrien scheinen beide Seiten jedenfalls einig zu sein. Das ist ein Anfang, auf dem aufgebaut werden kann.

USA, Russland und Türkei gegen Rojava

Quelle: Civaka Azad – Die Furcht vor dem demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaftssystem (Januar 2020)

Trump, Putin und Erdogan

Die Phase des türkischen Besatzungskrieges in Cerablus, Azaz, Efrîn und später in ganz Rojava begann im Wesentlichen am 19. Dezember 2018, dem Tag, an dem US-Präsident Donald Trump den Rückzug aus Syrien ankündigte. Infolge dieser mit den US-Verantwortlichen vor Ort unabgesprochenen Erklärung trat der US-Sonderbeauftragte für die internationale Koalition gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS), Brett McGurk, zurück. An seine Stelle wurde der ehemalige US-Botschafter in Ankara, James Jeffrey, gesetzt. Jeffrey hat vom ersten Tag an mit seinen Erklärungen und Entscheidungen eine völlig andere Linie in Bezug auf Nordsyrien und Rojava gefahren als Brett McGurk, indem er die aggressive Besatzungspolitik der Türkei unterstützte.

Der klarste Ausdruck dessen ist der Plan der »Sicherheitszone«, gänzlich eine Idee von James Jeffrey. Er kam zusammen mit einer Delegation am 22. Juli 2019 zu einem dreitätigen Besuch nach Ankara, bei dem er mit türkischen Staatsvertretern das Thema der Sicherheitszone in Nordsyrien besprach. Parallel dazu führte er auch Gespräche mit den Kurden in Syrien und traf sich mit Kommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und der Selbstverteidigungskräfte von den YPG.

Im Rahmen dieser Gespräche wurde Anfang August beschlossen, einen gemeinsamen Sicherheitsmechanismus zu entwickeln, um die »sichere Zone« aufzubauen. Es wurden Vereinbarungen getroffen, denen zufolge fünf Kilometer hinter der türkischen Grenze Verteidigungsmaßnahmen wie Stellungen, Kanäle, Barrikaden und Tunnel zerstört und die dort befindlichen schweren Waffen zurückgezogen werden sollten. Dementsprechend wurden die Stellungen und Verteidigungssysteme mit Baumaschinen niedergerissen, QSD und YPG zogen ihre schweren Waffen aus Serê Kaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) zurück. Im Rahmen dieses Mechanismus unternahmen die Türkei und die USA im kurdisch kontrollierten Norden Syriens Patrouillenflüge und auf dem Land gab es gemeinsame Patrouillen entlang der Grenze.

Auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. September hielt der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan eine Rede, in der er seine Pläne der ethnischen Säuberung, die den UN zufolge als Kriegsverbrechen gilt, offen zur Sprache brachte und seinen Rojava-Besatzungsplan mithilfe einer Landkarte Syriens illustrierte.

Erdoğan erklärte, dass die Vorbereitungen zur Sicherheitszone zusammen mit den USA durchgeführt werden würden, und führte aus: »Östlich des Euphrats können wir eine sichere Zone einrichten. Dort können wir die Flüchtlinge ansiedeln. Wir können drei Millionen Syrer zurück in ihre Heimat bringen.« Diese dreiste und anmaßende Haltung Erdoğans, der von der Besetzung Syriens zum Zwecke der Ausdehnung der türkischen Grenzen so sprach, als sei es das Natürlichste auf der Welt, fand in der UN-Generalversammlung keine ernsthafte Reaktion und ist als schändliche Haltung in die Geschichte eingegangen.

Am 13. Oktober 2019 erklärte US-Präsident Trump gegenüber FoxNews: »Die Türken und Kurden bekriegen sich seit Jahrhunderten, sollen sie weitermachen. Die Kurden können den Luftangriffen der Türkei nichts entgegensetzen und müssen sich von der Grenze zurückziehen. Die Zeit unserer Rückkehr ist gekommen. Wir werden Syrien verlassen.«

Einzigartiges »Waffenstillstandsabkommen«

Das war die Entscheidung, die von den USA seit 2014 geführte Koalition gegen den IS in der Region zu beenden. Auf diese Weise haben die USA die von Erdoğan und anderen türkischen Vertretern seit Monaten geäußerte Drohung gegenüber Rojava überhört und dem Angriff den Weg geebnet. So zogen sie einen Tag vor dem Angriff ihre Soldaten aus Serê Kaniyê und Girê Spî ab und beendeten offiziell und de facto die Zusammenarbeit mit den QSD.

Das zwischen den USA und der Türkei am 16. Oktober 2019 getroffene »Waffenstillstandsabkommen« ist hierbei einmalig in der Geschichte. Es wirkt wie ein lächerlicher Taschenspielertrick, dass zwei Staaten, die sich nicht gegenseitig bekriegen und sich sowohl im gleichen Lager befinden als auch NATO-Partner sind, ein »Waffenstillstandsabkommen« abschließen.

Die USA, die die türkische Besatzung genehmigten, veröffentlichten im Rahmen des Treffens mit türkischen Staatsvertretern in Ankara einen Text, in dem in 13 Punkten die »Besatzung« legitimiert wird. Nach dem Treffen erklärte Trump, die Kurden müssten aus ihren Gebieten geschafft und nach Deira Zor gebracht werden: »Der Waffenstillstand läuft gut. Es ist Zeit, dass die Kurden in die Ölgebiete gehen. Sie gehen in neue Gebiete. Das Öl ist gesichert.«

»Waffenstillstandsabkommen« ist gleichzeitig ein Friedensvertrag mit den dschihadistischen Gruppen

Dieses Abkommen legitimiert die Besetzung Rojavas durch die Türkei und den IS. Es legt die türkische Besatzung auf syrischem Boden fest und sieht vor, dass die Kurden entlang der türkisch-syrischen Grenze in einer Tiefe von 35 Kilometern aus der Region vertrieben werden. Das zwischen den USA und der Türkei getroffene »Abkommen« zur Waffenruhe sieht für beide keinerlei Pflichten vor. Nicht der Besatzer wird dazu angehalten, sich zurückzuziehen, sondern die Gesellschaft, deren Territorium besetzt wird, und deren Selbstverteidigungskräfte werden dazu gezwungen, sich zurückzuziehen.

Das von bilden Staaten vereinbarte »Waffenstillstandsabkommen« ist gleichzeitig ein Friedensvertrag mit den dschihadistischen Gruppen, die zuvor von den USA als terroristisch erklärt worden waren. Denn abkommengemäß ziehen sich die Kurden 35 km von der Grenze zurück und Mitglieder der dschihadistischen Gruppen und deren Familienangehörige sollen dort angesiedelt werden.

Das am 22. Oktober 2019 in Sotschi nach dem Treffen zwischen Putin und Erdoğan verabschiedete 10-Punkte-»Abkommen« hat die »Waffenstillstandsvereinbarung« bestätigt. Russland erklärte entsprechend den türkischen Forderungen, dass sich die Kurden 35 Kilometer von der Grenze zurückziehen müssten und die Besatzung durch den türkischen Staat und die zuvor als terroristisch erklärten Gruppen in Rojava und Nordsyrien unterstützt werde.

Das in Russland unterzeichnete Sotschi-Abkommen hat die Verantwortung zum Schutz der territorialen Einheit und politischen Souveränität Syriens nicht der syrischen Armee, sondern der »Syrischen Nationalarmee« (SNA) übertragen, die aus von der Türkei abhängigen Gruppen zusammengesetzt ist. Somit bestätigte Russland die Legitimität der als Syriens Nationalarmee betitelten »Armee«, die aus Gruppen von Al-Qaida, Al-Nusra, Ahrar al-Scham und IS besteht.

Zusammenfassend ist festzustellen: Der türkische Staat hat zusammen mit seinen dschihadistischen Verbündeten mit Zustimmung und Unterstützung Russlands und der USA Rojava besetzt. Die USA haben ihre Soldaten zurückgezogen und ihre Stützpunkte aufgelöst. Die Kurden schlossen daraufhin mit Syrien und Russland eine Vereinbarung über die gemeinsame Verteidigung der Grenzen. Doch Syrien schickte seine Soldaten nicht an die Grenze und wartete auf die Realisierung der Besatzung.

Im Zuge der Angriffe der Türkei haben die USA und Russland den syrischen Luftraum für die türkischen bewaffneten Drohnen und Kampfflugzeuge geöffnet und somit der Überlegenheit der QSD und YPG/YPJ über die türkische Armee am Boden ein Ende gesetzt. Dadurch bekamen die türkische Armee und ihre dschihadistischen Verbündeten die Möglichkeit, mithilfe von Luftangriffen vorzurücken.

UNO, USA und Russland scheinen sich darüber verständigt zu haben, der Türkei eine mögliche »Sicherheitszone« an der Grenze zu übergeben. Die Besuche Erdoğans am 22. Oktober in Russland und am 13. November in den USA verfolgten das Ziel, diese Besatzungspläne auszuweiten.

Strategische Allianz zur Zerschlagung der Selbstverwaltung in Rojava

Die Besatzung der Türkei zuerst in Cerablus und Azaz, Efrîn und nun in Girê Spî und Serê Kaniyê geschah nicht trotz der USA und Russland, sondern mithilfe ihrer Zustimmung und Unterstützung. So wurde die Verbindung zwischen den Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê getrennt und das in Rojava aufgebaute System der demokratischen Selbstverwaltung physisch und de facto auseinandergerissen.

Die USA, Russland, die Türkei und Syrien stecken beim Thema der Zerschlagung der Selbstverwaltung in Rojava von Anfang an in einer strategischen Allianz. Die erneute Integration der Türkei in Syrien durch die USA und Russland hängt damit zusammen.

Während des Verfassens dieser Zeilen fand am 3. und 4. Dezember der NATO-Gipfel in London statt. Die Türkei hatte vorab erklärt, den von der NATO angesichts der Russland-Gefahr vorgesehenen Baltikum-Verteidigungsplan blockieren zu wollen. Die Türkei zielte darauf ab, vor den Diskussionen über den Baltikum-Verteidigungsplan die Differenzen innerhalb der NATO auszunutzen, um die Besatzung in Nordsyrien in eine gemeinsame »NATO-Besatzung« umwandeln zu lassen. Türkische staatliche Vertreter erklärten, die für das Baltikum und Polen vorgesehene NATO-Verteidigung müsse auch für die Türkei gewährleistet werden. Man werde den Baltikum-Plan angesichts der Gefahren an der syrischen Grenze nicht akzeptieren, wenn die YPG nicht in die Terrorliste aufgenommen werden würden. Wenn die Türkei diese Sichtweise durchsetzt und die NATO in einer gemeinsamen Entscheidung PYD und YPG in die Terrorliste aufnimmt, wird die Besatzung in Rojava und Nordsyrien als NATO-Operation an Legitimation gewinnen. Der Türkei wird so garantiert, als NATO-Partner in den besetzten Gebieten bleiben zu dürfen.

»PKK gefährlicher als der IS«

Das Projekt der ethnischen Säuberung und der Vertreibung der Kurden wird Schritt für Schritt realisiert. Aber auch der Kampf der Kurden und der Völker Nordsyriens dagegen dauert weiter an. Die Basis für diese sehr komplizierten, flexiblen und schwer verständlichen Beziehungen und Bündnisse bildet der antagonistische Widerspruch und Konflikt zwischen kapitalistischer und demokratischer Moderne.

UNO, USA und Russland sind besorgt, dass sich ein demokratisches, ökologisches und geschlechterbefreites Gesellschaftssystem – ein Projekt des kurdischen Vordenkers Öcalan und unterstützt von der PKK – in einer Region wie dem Mittleren Osten als lebendiges Beispiel und als Alternative zum bestehenden System weiter ausweitet. Die Äußerung Trumps, der hier direkte Beziehungen mit den QSD, YPG und YPJ pflegt, dass »die PKK gefährlicher als der IS« sei, ist Ausdruck dieser Furcht. So werden QSD, YPG und YPJ offen als Verbündete der Koalition anerkannt, nicht aber der Demokratische Rat Syriens (MSD) und die Räte der Kantone sowie die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) als politischer Wille.

Es ist eine gemeinsame Haltung der UNO, der USA und Russlands, dass im Rahmen der Lösungsverhandlungen für Syrien wieder kein politischer Vertreter der demokratischen Selbstverwaltung zur siebten Runde der Genfer Friedensgespräche und in die Verfassungskommission für Syrien eingeladen wurde. Diese Haltung demonstriert den strategischen und tiefen Krieg zwischen kapitalistischer und demokratischer Moderne.

Die Kriegsverbrechen des deutschen Staates in Kurdistan

In Deutschland hergestellte Giftgase und chemische Waffen wurden im Laufe des letzten Jahrhunderts in Kriegen in Kurdistan eingesetzt, nicht nur beim Massaker von Dersim 1938. Die Beteiligung wurde immer wieder belegt.

Neue Dokumente ergaben, dass beim Völkermord von Dersim zwischen 1937 und 1938 deutsches Giftgas verwendet wurde. Die Bundesregierung behauptete dennoch, keine Kenntnisse über die Geschehnisse zu haben. Die Dersim-Zeitung und die Zeitung Yeni Özgur Politika veröffentlichten jedoch Dokumente, wonach Mustafa Kemal „Atatürk“ von Nazideutschland Giftgas für den Dersim Genozid gekauft hat.

Die Bundesregierung nahm keine Stellung zu den Dokumenten. Die Bundestagsabgeordnete und innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, erklärte gegenüber ANF, in Deutschland hergestellte Giftgase würden von Dersim bis Halabdscha wiederholt bei Verbrechen gegen Kurd*innen eingesetzt. Deutsche Waffen in den Händen türkischer Soldaten, aber auch des Saddam-Regimes, haben schwere Schäden in Kurdistan angerichtet. Das irakische Baath-Regime kaufte von Deutschland Waffen, die es gegen Kurd*innen in Südkurdistan einsetzte. Die deutsche Firma Züblin, schon aus der Nazizeit wegen Zwangsarbeit berüchtigt, stellte Infrastruktur für die Herstellung des beim Massenmord in Halabscha eingesetzten Giftgases her. Auch beim schmutzigen Krieg in Nordkurdistan in den 90er Jahren waren es deutsche Panzer, Leopard und BTR-60, die aus NVA-Beständen stammten, welche Menschen zu Tode schleiften und über 4.000 kurdische Dörfer zerstörten. Deutsche Panzer rollten auch 2016 bei der Zerstörung der Städte Cizîr (Cizre), Sûr, Şirnex (Şırnak) und vielen anderen Orten durch die Straßen. Hunderte Zivilist*innen wurden bei den Ausgangssperren durch mit deutscher Lizenz produzierten G-36-Gewehren ermordet.

Die Türkei setzte wiederholt chemische Waffen sowohl gegen die Zivilbevölkerung als auch gegen die Guerilla in Kurdistan ein. Dieses Giftgas stammt auch aus Deutschland. Einige Beispiele sollten folgen:

Der Massenmord von Halabdscha

Am 16. März 1988 wurden in Halabdscha mindestens 5.000 kurdische Zivilist*innen vom Regime Saddam Husseins mit Giftgas ermordet. Das Gas wurde in einer Fabrik in Samarra vom Regime hergestellt. Aber an vielen Phasen der Produktion waren deutsche Unternehmen beteiligt. So beteiligte sich Züblin am Bau der Fabrik. Water Engineering Trading GmbH aus Hamburg lieferte die Verschraubungstechnik zur Herstellung des Gases. Andere Profiteure sind unter anderem die hessische Karl Kolb AG in Hessen, die Ausgangsstoffe und Laborgeräte lieferte. Die Firmen aus Deutschland, wie Karl Kolb / Pilot Plant und WET, die die Ausgangsprodukte für die Giftgasproduktion geliefert hatten, behaupteten, dass es sich um Unkrautvernichtungsmittel gehandelt habe. Mindestens 52 Prozent aller Giftgasanlagen im Irak kamen von deutschen Firmen, andere Quellen sprechen sogar von 70 Prozent. Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten, die Bundesregierung scheint die Aufrüstung des Saddam-Regimes mit Giftgas nicht gestört zu haben. Insbesondere die Kohl-Regierung unterstützte die Waffenhändler, von denen nur drei belangt wurden. Sie erhielten geringe Bewährungsstrafen.

Die deutschen Journalisten Hans Leyendecker und Richard Rickelmann haben ein Buch mit dem Titel „Exporting Death: Deutscher Waffenskandal im Nahen Osten“ veröffentlicht. In dem Buch beschreiben sie ausführlich, wie deutsche Unternehmen mit Saddam Hussein kooperierten und wie Deutschland sich am Halabdscha-Genozid beteiligte.

Chemiewaffen gegen die Guerilla

Obwohl völkerrechtlich verboten, wurde in den 30 Jahren Krieg der türkischen Armee gegen die PKK immer wieder Giftgas eingesetzt. Auch dieses Gas stammte oftmals aus Deutschland. Ein Beispiel ist der Mord an 20 PKK-Guerillas in einer Höhle in Şirnex am 11. Mai 1999.

Videomaterial, das während der Zusammenstöße an diesem Tag von der türkischen Armee aufgenommen wurde, wurde 2011 von Roj TV und ANF veröffentlicht. Ein Soldat sagte in dem Video: „Unsere Soldaten sind gerade mit der Gefahr einer Vergiftung konfrontiert. Aber sie marschieren weiter, wie Bestien, wie Helden. Wir haben uns einen Tag frei genommen, aber das Gas ist immer noch wirksam.“ Türkische Soldaten sind zu sehen, wie sie unter dem Kommandanten Necdet Özel, späterer Generalstabschef, in die Höhle vorrückten.

Giftgaseinsatz gegen kurdische Guerillakämpfer
(kurdistannuce, Nov 2011, german subtitles)

Einige Bombenfragmente aus der Ballikaya-Region wurden von einem Reporter nach Deutschland gebracht und durch ein Labor untersucht. Die Inspektion im Forensic Science Institute der Universität München ergab Spuren des im Krieg verbotenen CS-Gases an den Fragmenten. Im ZDF wurde am 27. Oktober 1999 im Fernsehmagazin „Kennzeichen D“ gezeigt, dass das Gas RP707 seit 1995 von der Firma Buck & Depyfag mit Zustimmung der Bundesregierung an die Türkei verkauft wurde.

Insbesondere in der jüngeren Vergangenheit gab es immer wieder Giftgaseinsätze der türkischen Armee. Die effektive Untersuchung sowohl der Leichen als auch genommener Proben wurde jedoch vom deutschen Staat verhindert und Anzeigen nach dem Völkerstrafrecht verschleppt und eingestellt.

Quelle: ANF – Die Kriegsverbrechen des deutschen Staates in Kurdistan