Unterdrückung von Protest in der Türkei

Tear Gas and Rubber Bullets Disrupt Istanbul Gay Pride Parade
(VICE News, Juli 2015, english)

Turkish police officers disrupted this year’s Istanbul gay pride march, violently dispersing peaceful crowds as they gathered at the city’s iconic Taksim Square. Istanbul’s annual march has been taking place in the city for over a decade, and the numbers of those attending have increased throughout the years. The police actions on Sunday were an apparent response to the sudden banning of the event by Istanbul governor’s office, which reportedly decided to outlaw the march as it coincided with the holy month of Ramadan. Undeterred, crowds began congregating on nearby streets, only to be fired upon with tear gas, rubber bullets, and water cannons by the police. Marchers told VICE News how they were attacked and injured by the heavy-handed police actions. Despite this, pride marchers continued to gather on the streets until the early hours of Monday morning.

Repression der Türkei gegen Kurd*innen

Norman Paech : Krieg der Türkei gegen die Kurden
(weltnetzTV, Dez 2018)

Die Kritik hierzulande gegen Recep Erdoğan und den türkischen Staat konzentriert sich hauptsächlich auf die Unterdrückung der Pressefreiheit und Massenverhaftungen von politischen Gegnern. Übersehen wird dabei zumeist der Krieg gegen die Kurden. Seit der Beendigung des Dialoges mit Abdullah Öcalan im Jahre 2015 bekämpft Erdoğan die Kurden wieder militärisch. Norman Paech, Jurist und emeritierter Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht, kommentiert auf weltnetz.tv die Unterdrückung der Kurden durch die Türkei und das Zuschauen der Bundesregierung sowie der NATO-Staaten.

Der türkische Faschismus als politische Strategie


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle:
Civaka Azad – Faschismus als Strategie

Wer heute Türkei sagt, muss auch Faschismus sagen. Auf den tiefgreifenden Wandel des Mittleren Ostens reagiert der türkische Staat mit der Bündelung all seiner Kräfte. Denn seine Ideologen und Staatseliten haben „Großes“ vor. Sie möchten den Zerfall von Ländern wie Syrien, dem Irak oder Libyen nutzen, um
den eigenen Einfluss – im Falle Nordsyriens und des Nordiraks sogar das
eigene Staatsgebiet – auszuweiten.

Mit dem seit 2017 eingeführten Präsidialsystem hat sich die Türkei ganz
offiziell eine autoritäre Ordnung gegeben, die alle verfügbaren Kräfte in Büro-
kratie, Militär, Medien und Wirtschaft bündeln soll. Was in deutschen Medien
gern als schwer zu verstehender Wahnsinn des verrückten Autokraten Erdoğan dargestellt wird, ist jedoch eine wohl überlegte strategische Ausrichtung des türkischen Staatsapparates.

Der deutsch-türkischen strategischen Partnerschaft hat all das keinen Abbruch getan. Ganz im Gegenteil scheinen Bundesregierung und Staatsbürokratie in Deutschland entschlossen zu sein, der Türkei mit aller Kraft beizustehen. Immer wenn der türkische Partner gefährlich ins Straucheln gerät, springt man ihm mit Flüchtlingsabkommen oder pompösen Staatsbesuchen bei.


Präsidialsystem statt Republik in der Türkei

Wer die tagespolitischen Manöver eines Akteurs verstehen möchte, muss sich mit dem Charakter des Akteurs selbst beschäftigen. In unserem Falle also mit dem türkischen Staat und der AKP-MHP-Regierung. In seiner fünften Verteidigungs-schrift setzt sich Abdullah Öcalan sehr ausführlich mit den historischen Wurzeln, den Gründungsumständen und verschiedenen Machtzirkeln des türkischen Staates auseinander. In Bezug auf die Machtergreifung der AKP im Jahr 2002 und die seit dem andauernde Strategie des türkischen Staates macht Öcalan in dem Buch u.a. folgende Beobachtungen:

„Die AKP wurde vom amerikanisch-englisch-israelischen Dreiergespann aufge-baut, um der Hegemonie dieser drei Länder im Mittleren Osten zu dienen. Die AKP fordert als Gegenleistung für ihre Dienste, einen größeren Anteil zu erhalten. Dafür sollen der Druck der Armee auf sie abgeschwächt, in Zukunft von Putschen gegen sie abgesehen und ihr ein größerer Anteil an der Ausbeutung des Mittleren Ostens zugesprochen werden. Israel hält die noch in ihren Jugendjahren begriffene anato-lische Bourgeoise für etwas exzentrisch und erwartet daher, dass sie demütigere Forderungen stellt. Das türkische Mantra, man sei eine `regionale bzw. globale Macht`, betrachtet Israel als überzogen und fordert von der Türkei realistisch anzu-erkennen, wer in der Region und weltweit wirklich eine hegemoniale Position ein-nimmt. Die der AKP zugesprochene Rolle ist es, den schiitischen Nationalismus des Iran, den arabischen radikalen Islamismus und den laizistischen Nationalismus abzuschwächen und in das hegemoniale System zu integrieren. Es ist offensicht-lich, dass der Türkei auf Ebene von Armee und Außenpolitik eine derartige Rolle gegeben wurde. Die AKP wird dieser Rolle auch gerecht. Während in Verbindung mit diesen Themen öffentlich der Eindruck erweckt wird, man befinde sich im Konflikt miteinander, handelt es sich um ein abgekartetes Spiel. Die Widersprüche in der Frage nach dem Anteil an der Ausbeutung des Mittleren Ostens sind jedoch real. Es handelt sich aber auch hier um Widersprüche, die innerhalb des Systems gelöst werden können. Mittel- und langfristig betrachtet wird es unausweichlich sein, dass die AKP eine vollständige Synthese mit dem hegemonialen System eingeht. Sollte sie eigensinnig werden und ein Bündnis mit dem Iran und dem radikalen Islam, gar mit dem aufgeklärten Islam eingehen und dadurch dem hegemonialen System Schwierigkeiten bereiten, wird es ihr nicht anders
ergehen, als ihren Vorgängern oder der CHP.“

Demonstration „STOP ERDOGAN“ in Geneva, Dezember 2016

Die Worte Öcalans aus dem Jahr 2011 helfen uns die Türkei im Jahr 2020 besser zu verstehen. Mit der Machtergreifung der AKP hat die Türkei eine neue strategi-sche Ausrichtung übernommen. Sie positioniert sich damit innerhalb des grund-legenden Umbruchs, der im Mittleren Osten unter der Führung der USA angesto-ßen wurde. In einem Interview mit dem kurdischen Fernsehsender STERK TV vom 27. Dezember 2019 Jahres charakterisiert Murat Karayilan, Mitglied im Leitungs-komitee der PKK, die strategische Mission des AKP-MHP-Regimes folgenderma-ßen: „Der türkische Staat folgt heute einem neuen Konzept. Erdoğan ist stark geschwächt. Die AKP und die MHP sind ein Bündnis miteinander eingegangen, doch ist es ihnen dadurch nicht gelungen, die Situation wirklich zu stabilisieren. Was also haben sie daraufhin getan? Sie haben Erdoğan in die Doppelfunktion von Parteichef und Präsident des Landes erhoben – und zwar mithilfe eines an beiden Ohren herbeigezogenen Systems, für das es auf der Welt kein vergleichbares Beispiel gibt. Das faschistische Regime der AKP und MHP macht ihre Zukunft von dem Erfolg dieses Projekts abhängig. Wenn es dem AKP-MHP-Regime gelingt dieses Projekt erfolgreich in die Tat umzusetzen – also die Kurdinnen und Kurden auszulöschen und die Macht der Türkei zu vergrößern – dann ist seine Zukunft gesichert. Schafft das Regime es nicht, wird es verschwinden. Deshalb ist Erdoğan nicht mehr der alte Erdoğan. Dessen sollte sich jeder bewusst sein. Die Mentalität Erdoğans stand auch früher schon diesen Kräften nah, doch heute steht er voll-ständig unter ihrer Kontrolle. Denn er ist zu 100% eins geworden mit der Staatsrä-son.“ Spätestens seitdem die Türkei im Sommer 2015 wieder einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und die PKK begonnen hat, wurde dem Land eine faschistische Staatsordnung verliehen. Erdoğan als Staatspräsident, die AKP und die MHP als Regierungsparteien, die türkische Staatsbürokratie, Militär, Medien und Wirtschaft – die Großzahl der entscheidenden Akteure haben sich auf eine gemeinsame Linie zur kompromisslosen Durchsetzung ihrer Interessen geeinigt. Im Rahmen der NATO werden ihnen dafür die notwendigen militärischen, wirt-schaftlichen, geheimdienstlichen oder politischen Mittel zur Verfügung gestellt.


Imperialistische Ambitionen und Völkermord

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion werden die Grenzen im Mittleren Osten neu gezogen. Die amerikanische Intervention im Irak 1991 läutete diese Phase mit Nachdruck ein. Staaten wie der Irak, Syrien, Libyen, Libanon, Jemen, aber auch Ägypten, Tunesien und Algerien sind seither entweder größtenteils zerfallen oder können nur unter massivem Druck zusammen gehalten werden. Nur den beiden Regionalmächten Iran und Türkei ist es bisher gelungen, das Chaos im Mittleren Osten in gewissem Maße für sich zu nutzen. Die Zerschlagung ganzer Länder durch die Interventionen von NATO-Staaten oder Russland sieht die Türkei als Gelegenheit für die Umsetzung historisch weit zurückreichender eigener imperia-listischer Pläne. Murat Karayilan bringt die dahinter stehende Logik in dem oben erwähnten Interview folgendermaßen auf den Punkt:

„Die aktuelle türkische Staatsräson verfolgt in etwas diese Linie: `In den kommen-den zehn Jahren wird es im Mittleren Osten zu bedeutenden Veränderungen kom-men. Die politische Landkarte der Region wird neu gestaltet werden. Die USA und andere Staaten werden auf dieser Grundlage Veränderungen vornehmen. In die-sem Rahmen wird man den Kurd*innen einen Platz gewähren. Kurdis-tan wird gegründet werden. Die Gründung Kurdistans bedeutet die Verkleinerung der Türkei. Ein Drittel des türkischen Staatsgebietes wird verloren gehen. Um das zu verhin-dern, müssen wir die Dramatik der Lage anerkennen und eine Bewegung zur Neugründung der Türkei anstoßen.“ Die Machthabenden der Türkei haben den aktuellen Krieg wiederholt als neuen türkischen Befreiungskrieg und Überlebens-kampf des Landes bezeichnet. […] Das grundlegende Ziel dieser Logik ist die Vernichtung der kurdischen Errungenschaften. Dafür muss zu jedem Preis verhindert werden, dass sich die Kurdinnen und Kurden in Rojava einen Status erkämpfen. In der syrischen Verfassung soll das Wort „Kurdin bzw. Kurde“ nicht einmal erwähnt werden. „Wenn so etwas geschieht, werden wir eingreifen“, drohen sie. Indem sie ihre Position in Syrien derart stark ausbauen, möchten sie dafür sorgen, dass die syrische Verfassung unter ihrer Kontrolle neu geschrieben wird. […] Die neue faschistische Mentalität unter Führung Erdoğans betrachtet den Vertrag von Lausanne als eine Beleidigung. Ihr Ziel ist die Umsetzung des Misak-ı Milli. Genau mit diesem Ziel möchte Erdoğan jetzt Soldaten nach Libyen schicken. Die Pläne der Türkei bezüglich dem östlichen Mittelmeer, Libyen, Syrien, Irak und den anderen Bereichen des Misak-Milli beruhen alle darauf.“

Der Preis, den die Türkei bereit ist dafür zu zahlen, ist ein Völkermord an den Kurd*innen. Unterstützt von den NATO-Partnern, ohne deren Unterstützung der kriselnde türkische Staat nicht dazu in der Lage wäre, vertreibt, assimiliert und ermordet die Türkei aktuell die Dorfbevölkerung Südkurdistans (Nordirak), Hunderttausende in den nordsyrischen Regionen Efrîn, Girê Spî oder Serêkanîyê und die kurdische Bevölkerung auf türkischem Staatsgebiet. Seit 2015 führt die Türkei dafür erneut einen Krieg, der das Land mittlerweile militärisch, wirtschaftlich und politisch in eine schwerwiegende Krise geführt hat. Mit der Invasion in Efrîn im Januar 2018 begann die Phase der offenen Kooperation mit radikalislamistischen Gruppen, die bis heute andauert. Die Kriegs- und Menschen-rechtsverbrechen, die türkische Soldaten gemeinsam mit ihren dschihadistischen Verbündeten in Efrîn, Girê Spî und Serêkanîyê tagtäglich begehen, sind umfassend dokumentiert. Weniger bekannt ist, dass die türkische Armee dschihadistische Söldner aktuell auch in ihrem Krieg gegen die Guerilla in den Bergen Südkurdistans (Nordirak) einsetzt. In einem Interview vom 28. Dezember 2019 äußert sich ein Mitglied der Frauenguerilla YJA-STAR, die in Südkurdistan gegen die türkische Besatzung kämpft, dazu: „Der faschistische türkische Staat meint mithilfe der Söldner des Islamischen Staates (IS) die PKK vernichten zu können. Derzeit führen wir in Haftanin [Region in Südkurdistan bzw. Nordirak; hauptsächlich unter Kontrolle
der Guerilla] einen Krieg gegen Söldner des IS, anstatt gegen die Soldaten des türkischen Staates. Weil der türkische Staat sich vor dem Krieg fürchtet, bringt
er IS-Söldner in die Berge Kurdistans.“


Links between Turkish State and jihadist groups (english)


Chaos mit deutscher Unterstützung

Krieg und Völkermord im Mittleren Osten werden nicht allein von der Türkei be-trieben. Es ist die Unterstützung strategischer Partner wie Deutschland, die all das in diesem Umfang erst möglich macht. Die mediale Auseinandersetzung mit den deutsch-türkischen Beziehungen bleibt leider oft oberflächig und greift Vorkomm-nisse isoliert voneinander auf. Besonders gerne wird der europäisch-türkische Flüchtlingsdeal diskutiert, wobei die deutschen Medienvertreter immer wieder zu dem Schluss kommen, er sei sinnvoll und müsse fortgesetzt werden. In einem ausführlichen Interview durfte das zuletzt noch einmal Gerald Knaus darlegen, der als „Architekt des Flüchtlingsdeals“ bezeichnet wird: „Das zu finanzieren ist im Interesse dieser Menschen [der Geflüchteten aus Syrien], der Türkei, der EU, und im Interesse Deutschlands. Es wäre verantwortungslos, das nicht weiter zu tun.“

Es ist wichtig zu verstehen, dass hier nicht nur über einen Flüchtlingsdeal geurteilt wird, sondern über die strategischen Dimensionen der deutsch-türkischen Partner-schaft. Dieses Abkommen zwischen der EU und der Türkei, das unter Leitung deutscher staatlicher Stellen ausgearbeitet und verhandelt wurde, sorgt nicht nur
für den Transfer von sechs Milliarden Euro in die Türkei. Es verschafft dem AKP-MHP-Regime und dem türkischen Präsidenten Erdoğan dringend notwendige politi-sche Anerkennung, präsentiert ihn als einen vertrauenswürdigen Gesprächspart-ner und hält dem türkischen Regime die Tür zu allerlei diplomatischen Foren offen. Der Flüchtlingsdeal wird insbesondere von der deutschen Regierung dafür genutzt, über etwas zu diskutieren und zu entscheiden, dass bei der Gesellschaft Deutsch-lands überhaupt nicht gut ankommt: die umfassende Zusammenarbeit Deutsch-lands mit der Türkei. Die geschürten Ängste vor einer erneuten Ankunft von Ge-flüchteten im Stil des Sommers 2015 nutzen Regierung, Staatsbürokratie und Medien in Deutschland, um die Auseinandersetzung mit der deutschen Beteiligung an türkischen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen zu verhindern und Proteste zu unterdrücken. Am 29. Dezember 2019 fand Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), dafür deutliche Worte: „All die Länder, die behaupten, sie seien gegen die Politik der Türkei, wollen die kurdische und die europäische Bevölkerung täuschen. Mit ihrem scheinheiligen Protest möchten sie den gesellschaftlichen Unmut und Widerstand behindern. Unter der Hand unterstützen sie Erdoğan auf jegliche erdenkliche Weise. Erdoğan wird dadurch ermutigt. Er benutzt die Beziehungen zur Europa und zur NATO. Merkel unterstützt Erdoğans Politik besonders stark. Sie macht sich dadurch mitverantwortlich für den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden. Das muss eindeutig verurteilt werden.“

Warum führt die Türkei einen Krieg gegen Rojava ?


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


HINTERGRÜNDE DES TÜRKISCHEN ANGRIFFSKRIEGES AUF DIE DEMOKRATISCHE FÖDERATION NORD- UND OSTSYRIEN / ROJAVA


1. Zunehmende Destabilisierung der türkischen Innenpolitik

Die türkische Regierungspartei AKP (türk. für „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) und deren Vorsitzender Recep Tayyip Erdoğan stehen vor großen innenpolitischen Herausforderungen. Seit den Protesten um den Gezi-Park in Istanbul im Sommer 2013 und spätestens dem sog. Putschversuch des türkischen Militärs am 15./16. Juli 2016 schlägt die zunächst wirtschaftsliberale und national-konservative AKP einen zunehmend nationalistischen, autoritären und autokratischen Kurs ein. In der gesamten Zeit seit Juli 2016 gehen die türkischen Behörden willkürlich und mit brutaler Härte gegen Regimekritiker*innen und Oppositionelle vor. Alleine in den ersten Monaten wurden unzählige Menschenrechtsverleungen durch türkische und internatinaie NGOS dokumentiert. Im Zuge seiner politischen Säuberungsaktionen ließ Erdoğan tausende Menschenrechtler*innen, Akademiker*innen und Journalist*innen suspendieren und viele von ihnen inhaftieren. Auch gegen Polizeikräfte, Richter*innen sowie Staatsanwält*innen wurde gleichermaßen vorgegangen. An deren Stelle setzte Erdoğan AKP-treue Funktionäre und Mitarbeiter*innen ein, die weitreichende Zensur öffentlicher Medien und hohe Kontrolle über die politische Meinungsbildung, Legislative und Exekutive ermöglichten. Erdoğan gelang es also mittels eines faktisch 2 Jahre lang andauernden politischen Ausnahmezustands in der Türkei die Gewaltenteilung des Staates aufzuheben und an sich zu reißen. Das wurde mittels der verfassungsändernden Reform zur Einführung des sog. Präsidialsystems im Jahr 2018 post factum legalisiert und gesetzlich verankert.

2. Wirtschaftliche Krise der Türkei

Zudem befindet sich die Türkei seit 2018 in einer tiefen Wirtschaftskrise, die zur Entwertung der türkischen Lira und hoher Staatsverschuldung führte. Aufgrund nicht absehbarer Entwicklung der wirtschaftlichen Lage hat Erdoğan die für das Jahr 2019 anstehenden Präsidentschaftswahlen auf das Jahr 2018 vorverlegt. Dabei hat sich die AKP auf eine Koalition mit der ultranationalistischen MHP (türk. für „Partei der Nationalistischen Bewegung“) eingelassen.

3. Konstruktion von Feinbildern

Um den Machterhalt zu sichern wird neben der Diffamierung und Liquidierung oppositioneller Kräfte seites der Regierung massiv nationalistische und rassistische Stimmung gegen die vor allem im Süd-Osten der Türkei sowie in Nordsyrien lebenden Kurd innen gemacht. Die rassistischen Mobilisierungen betreffen jedoch nicht nur Kurd*innen, auch gegen syrische Geflüchtete wird massiv und offen u.a. von Erdoğan persönlich gehetzt. Die unter Erdoğan erneut entflammte völkisch-patriotische Politik des türkisch-zentralistischen Nationalstaats sieht keinen Platz für Menschen anderer ethnischer und kultureller Hintergründe vor und nutzt sie zu- gleich als Feindbild, um den Zustand und die Gründe der sozialen und ökonomischen Krise zu verschleiern.

4. Errichtung einer „Sicherheitszone“ in syrischem Grenzgebiet

Neben systematischen Bombardierungen kurdischer Gebiete im Nordirak und fortlaufender Assimilierungs-, Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik in Süd-Ost-Anstolien, legitimierte Erdoğan mit dem Vorand der sog. Terrorismus-Bekämpfung im Winter 2018 einen völkerrechtswidrigengriffskrieg sowie anschließende Besetzug des hauptsächlich von Kurd*innen bevölkerten nord-syrischen Kantons Afrin. Das hat zu Vertreibung und Flucht der Zivilbevölkerung sowie Destabilisierung lokaler basisdemokratischer Strukturen geführt. Durch die Ansiedlung islamistischer Kämpfer, urkeitreuer Milizen und deren Familien in Nnn wird neben direkter Bedrohung dort dinmen auch ein Wiedererstarken des IS und weitere Hürden für den Friedensprozess in Syrien in Kauf genommen. Die Türkei nutzt die in Nordsyrien bereits besetzte Region Afrin auch um, mit Zuspruch und Subventionierung der EU, Schutzsuchende aus verschiedenen Teilen Syriens dorthin abzuschieben. Die sogenannte „Sicherheitszone“ – das neue außenpolitische Projekt Erdoğans gezielte Umgestaltng der Demografie und die Zwangsvertreibung kurdischer Bevölkerung weiterhin ermöglichen.

5. Imperialistischer Größenwahn der AKP

Die im März 2019 stattgefundenen Kommunalwahlen in der Türkei haben trotz massiver Repression gegenüber Oppositionellen gezeigt, dass die Regierung unter Führung Erdoğans weder nicht widerspruchslos hingenommen wird. Doch Erdoğan hält weiterhin an seinem Expansionismus unter nationalistischen Linie fest und hofft damit die Bevölkerung hinter sich zu einen. Mit „Vision 2023″, einer politischen Strategie der AKP-MHP Regierung, will er an das historische Erbe Atatürks anknüpfen. Im Jahr 2023 jährt sich das 100. Jubiläum des Lausanner Vertrags, demnach die nach Ende des 1. Weltkriegs verhandelten Staatsgrenzen der Türkei neu verhandelt werden könnten. Das Osmanische Reich soll also wieder auferstehen und eine Großmacht im mittleren Osten werden, wenn den Kurd*innen ihr Existenzrecht immer wieder abgesprochen wird. Um sich besser Argumentationsgrundlagen bedienen zu können, will Erdoğan mit dem Angriffkrieg weitere Teile Nordsyriens besetzen und somit auch die seit 100 Jahren andauernde Kolonisierung Kurdistans durch die Türkei aufrechterhalten und ausdehnen.

6. Rojavas Utopie als Gefahr für die Legitimation der türkischen Diktatur

Einer der ausschlaggebenden Gründe für den aktuellen Angriffskrieg auf Nordsyrien ist die dort seit der Ausrufung der Revolution 2012 bestehenden demokratischen Selbstverwaltung der lokalen Bevölkerung, die auf Prinzipien des multikulturellen, multireligiösen und multiethnischen Zusammenlebens beruht, statt auf Nationalismus zu basieren. Weder innen- noch außenpolitisch lässt sich eine solche Nachbarschaft mit Erdoğans Ideologie in Übereinstimmung bringen.

Weiterhin setzt die Türkei alles daran, die internationale Anerkennung der Selbstverwaltungsstrukturen und in ihnen vorhandenes Potential zur Demokratisierung Syriens zu unterbinden. So konnte mit dem Veto der Türkei die Teilnahme der Vertreter*innen der nord-ost-syrischen Selbstverwaltung an der Verfassungskommission für Syrien vorerst verhindert werden.

7. Plädoyer

Diese Auflistung ist nicht annähernd in der Lage, den Umfang und die Komplexität des Verhältnisses zwischen Türkei und Kurd*innen in Nord- und Westkurdistan darzustellen. Die „Kurdische Frage“ ist seit Jahrzehnten ein bedeutender Teil der politischen Agenda in der Türkei. Rojava ist der geographische Kern der Freiheitsbewegung Kurdistans und auch im türkischen Teil Kurdistans organisiert sich die Bevölkerung nach Prinzipien des demokratischen Konföderalismus. Was in Rojava geschieht, beeinflusst die Völker in der Türkei und die aggressive Vernichtungspolitik Erdoĝans in diesem Krieg, zeigt einmal mehr seine Entschlossenheit, für imperialistische Machterhaltung und -ausweitung bis zum Äußeren zu gehen. Doch was soll das Äußere sein?

Abdullah Öcalan und die Kurden-Frage, Arte 2015

Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt sehen eine funktionierende Perspektive in dem Demokratischen Konföderalismus, der Frauenbefreiung und den ökologischen Prinzipien der Revolution und eine Möglichkeit der Organisierung von Mensch und Natur als Ausweg aus der kapitalistischen Krise. Auch westliche Demokratiesysteme können die kurdische Freiheitsbewegung als Bedrohung wahrnehmen, wenn die sozialen Konflikte in einem Staat ansteigen und die Legitimation der Regierenden infragegestellt wird. Proteste in Europa werden nieder geknüppelt, Aktivist*innen kriminalisiert und abgeschoben und die Medien schweigen. Die faschistische Motivation der Türkei hinter diesem andauernden Genozid und Feminizid in Kurdistan wird von einer handlungsunfähigen Internationalen Gemeinschaft hingenommen, deren Theorie und Praxis ebenso viele Merkmale von Faschismusdefinitionen erfüllen. Der Vorwand Erdoĝans der Terrorismusbekämpfung wird in der BRD und anderen Staaten in anderen Ausmaßen ebenso gegen Oppositionelle und Widerständische eingesetzt, deutsche V-Leute treiben Neonazistrukturen voran, um die Gesellschaft zu spalten und Graue Wölfe erschießen kurdische Aktivistinnen.

Aufgrund all dieser Parallelen, der Verstrickung von Politik- und Handelsbeziehungen mit der Türkei und dem Profit des Krieges ermöglichen die kooperierenden Staaten der zweitgrößte NATO-Armee und ihren dschihadistischen Söldnern, mit schweren Waffen und Chemiebomben Siedlungen zu attackieren, in einem Gebiet, in dem sich ein paar Millionen Menschen ein Stück Wüste erkämpft haben und ihr demokratisches Projekt aufopferungsvoll gegen den Islamischen Staat verteidigen. Der Sieg der YPG/YPJ und der HPG über Daesh [IS] in Rojava durchkreuzte die imperialistischen Pläne der Türkei als eine der Hauptsponsoren und Ankerpunkte des IS gewaltig und dürfte ein weiterer Auslöser der Vernichtungswut Erdoĝans sein. Doch noch ist Rojava nicht gefallen!

Danke YPJ/YPG für die Verteidigung dieser einzigartigen Revolution. Serkeftin!