Dreimonatsbilanz der Besatzung von Girê Spî


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 30.Januar 2020

Die Nachrichtenagentur ANHA veröffentlichte eine Dreimonatsbilanz der Besatzung von Girê Spî durch die türkische Armee und Söldner der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA). Aufgrund der am 9. Oktober 2019 einsetzenden Invasion sind mindestens 300.000 Menschen in Nord- und Ostsyrien in die Flucht getrieben worden. Berichte aus der Region zeugen von alltäglichen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Dschihadisten in besetzen Gebieten in Rojava


Vertreibung und „ethnische Säuberung“

Das türkische Regime hat tausende Menschen aus Girê Spî vertrieben und verfolgt das Ziel, die Bevölkerungsstruktur nachhaltig zu verändern. Anstelle der Vertrie-benen wurden Dschihadisten und ihre Familien angesiedelt. Der türkische Staat bezeichnet diese Dschihadisten immer wieder als die ursprünglichen Besitzer der Stadt. Es handelt sich jedoch um Personen aus Azaz, Cerablus, al-Bab und Idlib. Laut ANHA wurden alleine in den Vierteln Leyl und Djawish 180 Familien von Dschihadisten angesiedelt. Außerdem wurden etwa 500 aus dem Gewahrsam der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in die Türkei entflohene IS-Dschihadisten durch den türkischen Staat als SNA-Söldner in Girê Spî eingesetzt. Nach der Bombardierung des Camps Ain Issa durch die türkische Luftwaffe entkommene
IS-Frauen wurden in den Orten Ain Erus, Leyl, Ermen und Cisir angesiedelt.

Türkisierung der Stadt

Die Besatzungstruppen richteten sich zunächst gegen die historischen Strukturen und die wichtigen Institutionen der Stadt. So wurde an allen Schulen Türkisch als verpflichtende Unterrichtssprache eingeführt und muttersprachlicher Unterricht verboten. Straßen, Plätze, Schulen, Krankenhäuser und Dienstleistungs-einrichtungen wurden systematisch nach Dschihadisten oder auch mit militaristischen türkischen Namen umbenannt und vielerorts türkische
Fahnen gehisst. Darüber hinaus wurden türkische Ausweise verteilt,
während Personen mit syrischen Ausweisen festgenommen werden.

Hungersnot in der Stadt

In der Stadt herrscht Hunger und es kommt immer wieder zu Protesten gegen die sich kontinuierlich verschlechternde wirtschaftliche Lage. Die Lebensbedingungen sind katastrophal. Die Versorgung mit Strom und Brennstoff ist nicht gegeben. Insbesondere das Fehlen von Trinkwasser und Brot macht das Leben schwer. Die Menschen müssen Stunden anstehen, um Brot zu erhalten. Die Silos und Lager-stätten der Dorfbevölkerung wurden von den SNA-Söldnern geplündert. So wurden aus dem Lager Dihêz 50.000 Tonnen Getreide gestohlen. Das Qizelî-Depot ist durch die Angriffe unbenutzbar. Diese Politik wird vom türkischen Staat bewusst umgesetzt, um die Menschen in Flucht zu zwingen.

Entführungen und extralegale Hinrichtungen

Immer wieder kommt es zu Entführungen im Zusammenhang mit Lösegeld-erpressungen, aber auch zu extralegalen Hinrichtungen.

So wurden die Söhne des ehemaligen Leiters des Ain-Issa-Camps, Heyen Ayaf (16) und Abdulrahman Ayaf (18), entführt. Die Dschihadisten verlangten ein hohes Lösegeld. Die jungen Männer sind bis heute verschwunden.
Aus dem arabischen Stamm der Abu Asaf wurden zehn Zivilisten verschleppt, aus dem Dorf Dadat Dutzende mehrheitlich turkmenische Jugendliche.
Ein Zivilist, der bei Sukeriye Hilfsgüter an Dorfbewohner verteilte, wurde verschleppt. In Zeydî, etwa 30 Kilometer entfernt von der Gemeinde Silûk, stürmten SNA-Söldner fünf Wohnungen und entführten 20 Personen, die meisten davon Minderjährige. Die anderen arabischen Familien aus dem Dorf wurden vertrieben. Auch im Dorf Ain Erus wurden Häuser gestürmt und eine unbekannte Zahl von Jugendlichen verschleppt. Die SNA-Dschihadisten plündern Läden und ermorden Zivilist*innen. In Erîda wurden Mahmud Zahir (60) und Berho Elo (65) aus bisher unbekanntem Grund getötet. Ein weiteres Beispiel ist der Taxi-Fahrer Ammar Haci, der entführt und von den Dschihadisten grausam ermordet wurde.

Folter und Haft für Kinder und Jugendliche

Aus dem Dorf Celkê wurde Mihemed Bozan Seyid entführt. Er wurde tagelang von den SNA-Milizionären gefoltert. Anschließend sind vier weitere Kinder im Alter von 13 bis 15 Jahren entführt worden. Obwohl das Dorf umstellt war, konnten die übrigen Familien sichere Gebiete bei Ain Issa erreichen. Von den Kindern gibt es keine Nachricht. Nach Angaben lokaler Quellen befinden sich in den Dörfern bei Girê Spî Gefängnisse, in denen Kinder und Jugendliche gefoltert werden.

Frauen zur Verschleierung gezwungen

Mit der Rückkehr der IS-Dschihadisten hat auch die Gewalt gegen Frauen zugenommen. Frauen werden wieder gezwungen, sich zu verschleiern. So kam es beispielsweise im Cisir-Viertel zu einem sexualisierten Angriff durch SNA-Milizionäre. Auf protestierende Anwohner*innen wurde das Feuer eröffnet. Aus dem Dorf Hiwecaye wurden drei Frauen entführt. Yara Ahmed aus der Gemeinde Ain Erus wurde entführt und gefoltert.

Fadiya Şerîf Xelîl aus der Leitung eines Camps für Binnenflüchtlinge aus Girê Spî berichtet ebenfalls, dass sich die Situation für Frauen in den besetzten Gebieten massiv verschlechtert habe. Frauen, die noch in den besetzten Gebieten leben, seien systematischer Gewalt ausgesetzt und keine Menschenrechtsorganisation helfe ihnen.

ANF, Serêkaniyê: Sexualisierte Gewalt durch Besatzungstruppen, 29.01.20

Aufstände unter der Parole „Besatzer raus“

Nach brutalen Angriffen des türkischen Staates haben insbesondere auch arabische Stämme die Region verlassen. Verbliebene Mitglieder des Begare-Stammes waren Angriffen der SNA-Milizionäre ausgesetzt. Nach mehreren Morden haben auch dessen Angehörige die Region verlassen. Dennoch taucht den Wänden der Stadt die Parole „Tod Erdoğan“ und „Besatzer raus“ auf. In Silûk, Ain Erus, Ali Baciliye und im Zentrum von Girê Spî fanden trotz der oft tödlichen Repression Protestaktionen statt. Fawad Ali aus Girê Spî erklärt: „Die arabischen Stämme lehnen die türkische Besatzung ab. Niemand darf gegenüber den Verbrechen des türkischen Staats schweigen. Durch die Entschlossenheit der Völker und ihren Aufstand werden die Besatzer besiegt werden. Die Stämme in Girê Spî müssen ihren Protest gegen die Türkei aufrechterhalten.“

Milizionäre werden nach Libyen geschickt

Ein Teil der SNA-Söldner wird von der Türkei zur Unterstützung des dortigen Muslimbruderregimes nach Libyen geschickt. Nach Angaben aus der Region wurden fast 1.000 Söldner von Girê Spî nach Libyen verlegt. Den islamistischen Truppen wird dafür ein Sold von 2.000 Dollar monatlich versprochen.

Jahresbilanz der YPJ 2019


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 01.01.2020, Jahresrückblick:
Die Rolle der YPJ im Widerstand von Rojava

Die Journalistin Avrîn Masûm vom kurdischen Fernsehkanal Ronahî TV sprach mit Kurdistan Waşokanî, der YPJ-Kommandantin der Euphrat-Region, über die Entwicklungen im Jahr 2019, die Ziele der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien sowie die Pläne der Frauenverteidigungseinheiten YPJ für 2020.

Was waren die wichtigsten Entwicklungen
im vergangenen Jahr in Nord- und Ostsyrien?

Vom Winter 2018 bis zum Frühjahr 2019 haben die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), darunter die YPG und die YPJ sowie alle regionalen Kräfte, am großen Widerstand in der Wüstenregion Deir ez-Zor teilgenommen. Im Frühjahr wurde Daesh („Islamischer Staat“) in der Region al-Bagouz besiegt. Deshalb brachte die Feier des Newroz-Tages die schönste Botschaft an die kurdische Bevölkerung, den Sieg der Freiheitskämpfer*innen. Die Niederlage von Daesh zwang ihre Förderer wie den türkischen Staat, Katar und die imperialistischen Kräfte, neue Pläne zu entwickeln, um Daesh zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen. Der türkische Staat wurde zum Repräsentanten von Daesh, indem er drohte, Rojava und die Regionen Nord- und Ostsyriens anzugreifen. Mit diesen Drohungen sollte Angst in den Herzen der Menschen geschürt sowie die Stabilität und Freundschaft, die sich in dieser Region zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, zerstört werden. Daesh hat durch brutale Enthauptungen Angst verbreitet, der türkische Staat tat dies mit seinen Drohungen und Angriffen.

Mit der Feier von Newroz trafen wir uns als Verteidigungskräfte mit der Bevölkerung in der ganzen Euphrat-Region, um ein neues Leben mit zivilen und militärischen Volksräten aufzubauen. Auf diese Weise wollten wir als militärische Kraft unsere Bevölkerung mobilisieren, sich dem Widerstand anzuschließen und unseren Erfolg gegen Daesh zu sichern. Auf dieser Grundlage begannen wir in allen Bezirken der Euphrat-Region Räte aufzubauen, wie in Tabqa, Raqqa, Minbic, Kobanê und Girê Spî. Unser Ziel war es, die Gesellschaft wieder aufzubauen und zu reorganisieren, die Menschen zu informieren und ihnen das System und die Ideen Rebêr Apos [Abdullah Öcalans] näher zu bringen. Die arabische, kurdische und turkmenische Bevölkerung hat diese Arbeiten mit Freude aufgenommen. Sie sahen darin eine Möglichkeit, in Frieden und auf einer selbst geschaffenen Basis leben zu können.

Rebêr Apo sagte: „Jede Pflanze wächst auf ihren eigenen Wurzeln.” Seit acht Jahren haben sich die Menschen in dieser Region dem enormen Widerstand gegen Daesh angeschlossen und schließlich haben wir Daesh besiegt. Das war eine große Freude für die Menschen in der Region. Deshalb wollen wir dieses Glück in ein System des Lebens, eine Philosophie, eine Idee verwandeln, die wir mit allen Menschen teilen. Alle wollten Lösungen für ihre Probleme in der Region finden und einen neuen Willen als Menschen dieser Region entwickeln.

Welche Rolle haben die Frauen beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und den Selbstverteidigungsräten gespielt?

Wenn du die Frau befreien kannst, kannst du die Gesellschaft befreien. Wenn eine Gesellschaft um Frauen herum aufgebaut wird, entsteht auch eine gewisse Ethik. Das erschreckt die reaktionären Kräfte des dominanten männlichen Systems am meisten. Viele Menschen schauen mit Zweifel auf diese Versammlungen und Räte und fragen sich, ob die Menschen der Region in der Lage sein werden, sich selbst zu verwalten, zu schützen und zu organisieren. Wir, als Kinder und Kämpferinnen dieses Landes, glauben an uns selbst, weil wir eine achtjährige Prüfungsphase bestanden haben. Unsere Prüfung war eine Revolution. Das hat den Wandel unseres Kampfes in eine soziale, kulturelle und politische Revolution ermöglicht. Diese Realität hat Frauen dazu gebracht, an sich selbst zu glauben. Die kurdischen Frauen und auch die arabischen Frauen haben an Moral und Mut gewonnen. Dies ermöglichte es Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen der Region, diese Philosophie besser kennen und verstehen zu lernen und Teil dieses Widerstandes zu werden. Damit gaben sie ihren eigenen Völkern eine Antwort. Das hatte auch großen Einfluss auf die Männer und die arabische Gesellschaft.

In Minbic, Kobanê, Tebqa und Girê Spî sind 50 Prozent der Frauen in den YPJ-Einheiten junge arabische Frauen. Wir wissen, dass in der kurdischen und arabischen Gesellschaft Frauen seit langer Zeit nur als Hausfrauen gesehen wurden, die Kinder aufziehen, Essen zubereiten und die Bedürfnisse der Männer erfüllen. Aber heute haben der Wille der Frauen und ihr Einsatz in den Verteidigungseinheiten eine Angst im Herzen des reaktionären und staatstragenden Mannes ausgelöst. Das schafft großen Mut in den Herzen aller Frauen, die in den Räten die Stimme der eigenen Bevölkerung werden wollen. Der Stolz über ihre Teilnahme bringt ihren natürlichen Willen zum Vorschein. So werden sie zu einem Vorbild für alle Frauen in der Region.

Die Teilnahme der syrisch-arabischen Frauen bei den QSD wurde zu einem Thema, das die Welt interessiert. Der Widerstand dieser Frauen gibt auch den Frauen in anderen Teilen der Welt großen Mut. Die Frauenarmee der YPJ hat das materielle und moralische Erbe der Gesellschaft zurückgewonnen, das der Gesellschaft vorenthalten worden war.

Das Engagement von Führern der arabischen Stammesgemeinschaften hat zu einem größeren Respekt gegenüber den politischen und militärischen Räten geführt. Alle Frauen, sowohl kurdische als auch arabische, spielen eine wichtige Rolle in diesen Räten. Auch die Suryoye-Frauen haben eigene Räte aufgebaut. Sie haben auch anderen Frauen des Mittleren Ostens vorgeschlagen, diese Erfahrungen zu nutzen und sie als Basis für den Widerstand in ihren eigenen Ländern zu nehmen.

Im Jahr 2019 haben sich viele Menschen den Verteidigungskräften angeschlossen, besonders den YPJ. In den Regionen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung arabisch ist, gab es anfangs eine Art Angst vor der Beteiligung von Frauen, weil dadurch meist eine Revolution in der eigenen Familie ausgelöst wird. Die Teilnahme von Frauen an den YPJ findet nicht nur auf militärischer Ebene statt, sondern schafft eine soziale, politische, kulturelle und moralische Revolution. Besonders in feudalen arabischen Gesellschaften, in denen Frauen ans Haus gefesselt sind und ohne Erlaubnis des Mannes nirgendwo hingehen können, bedeutet dies eine grundlegende Veränderung. Heute diskutieren Frauen in ihren Räten soziale und familiäre Fragen. Dass sie politische Fragen diskutieren, um eine Lösung für die Region und für Syrien zu finden, ist eine Revolution an sich. Dies ist der Erfolg der sozialen Revolution, die einen politischen und kulturellen Wandel in der arabischen Gesellschaft ermöglicht hat.

Welche Auswirkungen hat die Beteiligung von Frauen
auf die verschiedenen Teile der Gesellschaft?

Frauen haben mehr an Einfluss gewonnen. Aus der Sicht des Mittleren Ostens findet ein Mann, der in die Armee eintritt, nicht viel Interesse, weil es als Arbeit für Männer angesehen wird. Alle Armeen werden von Männern aufgebaut und Männer haben die Pflicht, zum Militär zu gehen. Aber die Teilnahme von Frauen an den militärischen Verteidigungskräften, insbesondere von arabischen Frauen, ist keine gewöhnliche Sache. Das trägt dazu bei, dass in allen Köpfen eine Revolution ausgelöst wird. Denn die Frauen hatten Augen, konnten aber nicht sehen. Sie hatten eine Zunge, konnten aber nicht sprechen. Diese Situation hat sich nun geändert. Die Frauen sind jetzt zu Vorreiterinnen der Revolution und der Zukunft einer ethischen und politischen Gesellschaft geworden.

2011 begann die Revolution im Mittleren Osten im Namen einer Revolution der Völker. Danach machte sich die Muslimbruderschaft diese zunutze und wollte die Revolution an sich reißen. Sie startete die ersten Angriffe auf Rojava. Aber die Revolution ließ sich nicht ersticken. Trotz der Angriffe des Systems verlor die Revolution hier nicht ihre Hoffnung. Nur in Rojava wurde der Wille der Bevölkerung nicht verfälscht und nicht seiner Essenz beraubt. Gegen die Angriffe Erdogans auf Rojava hat sich die Welt erhoben. Denn Daesh ist der Feind der ganzen Welt und der Menschheit. Es war die kurdische Bevölkerung, die Menschen dieser Region und besonders die Frauen, die gegen Daesh gekämpft haben.

Zur gleichen Zeit haben wir unsere Institutionen aufgebaut. Der Demokratische Syrienrat (MSD) wurde als die Generalversammlung Syriens gegründet, um ein Projekt für ein demokratisches Syrien zu entwickeln, das die Krise überwinden kann. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurden zu ihrer militärischen Kraft. Die Revolution wurde zu einer Revolution im Mittleren Osten und beeinflusste die ganze Welt. Denn generell gibt es gerade einen Mangel an ethischen und politischen Bewegungen. Die europäischen Bewegungen, die behaupten, die ethischsten zu sein, führen oft eine Politik der Täuschung mit sich. Aber Politik ist ein Weg sowie eine Methode des Lebens, die Lösung des Lebens und die Einheit des Denkens und Handelns. Aus diesem Grund hat das Beispiel der Revolution in Rojava und der Aufbau ihrer Institutionen einen großen Einfluss auf die Region gehabt. Hierdurch wurde das kurdische Volk endlich als Menschen in der globalen Gesellschaft akzeptiert.

Was ist das Ziel der Angriffe des türkischen
Staates auf Nord- und Ostsyrien?

Hinter den Angriffen des türkischen Staates auf Rojava stehen diejenigen, die Erdogan die Erlaubnis zum Angriff gegeben haben. Es sind die Kolonialmächte, die kein Lösungsprojekt für den Mittleren Osten haben und die Krise nur vertiefen wollen. Es gibt zwei Hauptkräfte in der Region, die USA und Russland. Sie erkennen die Bevölkerung nicht an. Sie erkennen ihre regionale, soziale, kulturelle und militärische Existenz nicht an. Mit dieser Revolution hat ihnen die Gesellschaft die Augen geöffnet und ist wieder zum Leben erwacht. Diese Mächte lehnen die Autonomie und Eigenständigkeit der Gesellschaft ab. Deshalb haben sie sie in eine Krise gestürzt.

Seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hat die Türkei Angst davor, weitere Gebiete zu verlieren. Die Kurd*innen, Alevit*innen und Armenier*innen fordern immer noch ihre Rechte ein. Aber die Türkei verweigert sie ihnen. Deshalb versucht die Türkei, die kurdische Bevölkerung, die Stabilität und ein autonomes System geschaffen hat, zu beseitigen.

Aber die Bevölkerung akzeptiert die Allianz zwischen Erdogan, Putin und Trump nicht. Die Angriffe gegen Serêkaniyê und Girê Spî haben die Welt dazu gebracht, sich zu erheben und zu erklären, dass dieser Angriff unmoralisch ist. Es ist ein politischer und imperialistischer Angriff. Auch die amerikanische Bevölkerung und der US-Senat haben sich gegen Trump erhoben. Was den Weg für die türkische Invasion geöffnet hat, war die russische und US-amerikanische imperialistische Politik, die keinen Respekt vor der Bevölkerung hat und ohne jegliche Moral, nur nach ihren Profitinteressen handelt. Jeden Tag werden Frauen und Kinder getötet. Sie werden zu Flüchtlingen und leben in Zelten. Der Angriff wurde von den imperialistischen Staaten gegen die Stabilität, den Widerstand und die Kultur der Menschen in unserer Region verübt.


YPJ-Kommandantin Kurdistan Waşokanî
(Foto: YPJ-Generalkommandantur)


Gegen den Einmarsch des türkischen Staates, der sich „Friedensquelle” nennt, haben Sie die Kampagne „Berxwedana Rûmetê” (Widerstand der Würde) gestartet. Welche Rolle spielen die YPJ in dieser Kampagne, besonders in der Euphrat-Region?

Der Name der türkischen Operation ist ein Schwindel. Hitler hat Millionen von jüdischen Menschen im Namen der Gewinnung von Lebensraum vergast. Jeder Diktator und jeder Tyrann benutzt den Namen der Demokratie, um eine Maske zu schaffen, um sein wahres Gesicht zu verstecken. Also nannte Erdogan diese Operation „Friedensquelle”, um sein wahres Gesicht zu verbergen.

In unserem Land gab es keinen Krieg, für den die Türkei den Frieden bringen konnte. Alle lebten friedlich in ihrer Existenz. Es gab keine Probleme unter den Menschen. Derjenige, der das Problem erst geschaffen hat, ist der türkische Staat selbst. Unsere Aufgabe als Bevölkerung der Region und der Verteidigungskräfte war es, die Grenztruppen zu mobilisieren, die Region zu schützen und Räte zu bilden. Unser Widerstand gegen diesen Krieg, der großes Elend über die Menschen gebracht hat, wird fortgesetzt.

Junge kurdische und arabische Frauen haben sich in lebendige Schutzschilde verwandelt. Obwohl die Panzer des Feindes über die Leichen unserer Freundinnen rollten, haben sie ihre Stellungen nicht aufgegeben. Sie haben ihr Land verteidigt. Ihre Haltung war ethisch und kulturell. Das Prinzip der Welatparêzî (Liebe und Schutz des Landes) bedeutete, Widerstand zu leisten, ohne den Tod zu fürchten. Junge kurdische Frauen kämpften bis zum letzten Atemzug für die Würde dieses Landes. Sie sagten ‚Frauen sind nicht eure Ehre, unsere Ehre ist unser Land’. Hunderte von jungen Frauen wie Zin, Amara und Sara opferten sich und verließen ihre Positionen nicht. Als Freiheitskämpferinnen setzen wir unseren Widerstand bis zum Sieg fort, damit alle friedlich auf dem Land Rojavas leben können. Alle unsere Freundinnen und Freunde, Weggefährtinnen und Weggefährten, Genossinnen und Genossen stehen an der Front, um gegen diese illegitimen Angriffe Widerstand zu leisten.

Mit der Invasion des türkischen Staates soll der Willen rebellischer Frauen gebrochen werden, wie wir es bei den Angriffen auf die Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, Hevrin Xelef, und YPJ-Kämpferinnen wie Çîçek Kobanê und Amara Rênas gesehen haben. Wie sehen und bewerten Sie das?

Dieser Krieg wird gegen Frauen, Gesellschaft und Moral geführt. Um diesen Krieg zu beenden und den Sieg zu erringen, hatten wir nie einen Ansatz, der auf dem Konzept unseres Daseins als „Ehre” basiert. Denn als Frauen nehmen wir unsere Ehre als unser Land, unsere Kultur, unsere Ethik und unsere politische Identität wahr. Wir überwinden das feudale Konzept, das die Frau nur als Ehre ansieht. Mittlerweile stehen Hunderte von Frauen an der Front. Bei diesen brutalen Angriffen sind viele unserer Freundinnen gefallen, andere fielen in die Hände des Feindes. Sie wollen unseren Willen und unsere Würde brechen. Aber mit dem Mord an einer Frau geben Frauen nicht auf. Unser Körper kann gefangen genommen werden, aber sie werden niemals in der Lage sein, unsere Herzen und unseren Verstand zu erobern. Wir haben unseren Körper diesem Land geopfert. Das ist der Preis für die Freiheit, denn Freiheit kann nicht ohne einen Preis erreicht werden. Der Feind sagt: „Tötet zuerst die Frauen! Verletzt sie, nehmt sie gefangen!” Damit soll der Willen der Frauen und der Gesellschaft gebrochen werden. Denn Frauen sind die Identität der Gesellschaft und repräsentieren die Prinzipien des Lebens. Durch die Versklavung der Frauen will der Feind unsere Gesellschaft domestizieren und unsere Bevölkerung dazu bringen, den Kopf zu senken. Aber wir sagen zu den Menschen: „Geratet nicht in die Fallen des Feindes!“

Jetzt nehmen neue Kämpferinnen die Namen Hevrin und Amara an und schließen sich den Reihen der Verteidigungskräfte an. Dies ist auch eine starke Reaktion auf Erdogan, der den Willen der Bevölkerung und der freien Gesellschaft brechen will. Durch die Verstärkung der YPJ-Einheiten, die Stärkung und Ausbildung der YPJ-Kämpferinnen geben wir die stärkste Antwort auf diese Angriffe.

Wie reagiert die Bevölkerung der Euphrat-Region auf diese Angriffe?

Die Revolution in dieser Region ist noch nicht sehr alt. Minbic wurde 2016 und Tabqa 2017 befreit. Aber die arabische Bevölkerung in dieser Region wurde zu einem lebenden Schutzschild und übernahm ihre Rolle an der Seite der Freiheitskämpfer. Sie machte keinen Schritt zurück. Die arabische Bevölkerung und alle weiteren Menschen kamen zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen Erdogan zusammen.

Dieser Angriff ist das Ergebnis einer politischen Übereinkunft, denn der Vertrag von Lausanne wird damit beendet und das Staatssystem wird wieder aufgebaut. Aber wir akzeptieren diese politischen Vereinbarungen gegen uns nicht und wir werden uns auch nicht ihren Abmachungen und Geschäften unterwerfen.

Was sind Ihre Pläne für 2020?

Unser Plan für das neue Jahr ist es, unsere Ausbildungen zu stärken. Wir bereiten unsere Kräfte vor und bilden sie aus, damit sie in der Lage sind, diesen Angriffen zu widerstehen und unsere Gesellschaft politisch weiterzuentwickeln. So stärken wir unsere Kommunen und Volksräte. Wir werden tun, was notwendig ist, um uns mit einer revolutionären Philosophie schützen zu können, damit die Revolution wieder aufgebaut und verteidigt werden kann.

Meine letzte Botschaft an die kurdische Bevölkerung ist, dass wir uns gegenseitig stärken, wenn wir uns an dem anhaltenden Widerstand beteiligen. Wir müssen aufhören, kleine Berechnungen in Bezug auf Familien- oder Stammesinteressen anzustellen. Wir müssen unsere nationale Einheit aktiv aufbauen und uns zusammenschließen, um einen gemeinsamen politischen und militärischen Willen zu schaffen.

Wir danken den Menschen auf der ganzen Welt, dass sie uns in unserem politischen, sozialen und ethischen Widerstand gegen diesen Besatzungskrieg begleitet haben. Als kurdische Frauen und Frauen des Mittleren Ostens werden wir weiterhin Schulter an Schulter gegen den Faschismus Widerstand leisten.

Die deutsche Übersetzung des TV-Interviews erschien erstmalig bei Women Defend Rojava.

Jahresbilanz der QSD 2019


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Fahne der QSD, 2019

Quelle: ANF, QSD stellen Jahresbilanz des Widerstands vor, 03.01.2020

Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) haben ihre Jahresbilanz zum Widerstand gegen die völkerrechtswidrige Invasion der Türkei in Nord- und Ostsyrien sowie zum Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) vorgestellt. Der Bericht enthält neben einer Übersicht zu den Kriegshandlungen der türkischen Armee und ihren dschihadistischen Verbündeten im Zuge des andauernden Angriffs auf die selbstverwalteten Gebiete in Rojava seit dem 9. Oktober 2019 auch Details zur Offensive gegen den sogenannten IS, dessen Territorialherrschaft in Syrien im vergangenen März mit der Befreiung der letzten IS-Bastion al-Baghouz zerschlagen wurde.

Das gesamte Jahr 2019 war geprägt vom Widerstand der Völker Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Staat, den IS und andere Aggressoren und Invasoren, die Macht- und Territiorialansprüche stellen. Nach dem im Jahr 2011 ausgebrochenen „Bürgerkrieg“ leidet das Land heute unter einem Stellvertreterkrieg. Inmitten verworrener Konflikte angesichts der Akteurskonstellation führen die Menschen in Rojava seitdem einen unerbittlichen revolutionären Kampf, um ihre Würde und Freiheit zu verteidigen.

„Der Widerstand, den wir heute vorbringen, hat mit dem Willen der Menschheit, für gemeinsame freiheitliche Werte einzutreten, ein internationalistisches Niveau erreicht. Aufgrund dieser Haltung stellt der Angriff des Besetzerstaates Türkei ein nationales Problem dar.

Unseren Kräften ist es gelungen, die Territorialherrschaft des IS zu zerschlagen und das perfide System der Sklaverei zu beenden. Um den Frieden und die Sicherheit der Völker in der Region zu gewährleisten, haben die QSD ihre Verantwortung gegen alle Arten von Angriffen, Besetzungen und Terrorismus bedenkenlos auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung erfüllt. Der 23. März 2019 markierte den Zeitpunkt, an dem wieder Frieden einkehrte. An diesem Tag wurde al-Baghouz, die letzte Bastion der Terrororganisation IS in der ostsyrischen Region Deir ez-Zor, befreit. Damit wurde der Kampf gegen die verbleibenden IS-Schläferzellen beschleunigt“, erklären die QSD einleitend in ihrer Bilanz.

1.306 Islamisten in drei Monaten getötet

„Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten wurde die Kleinstadt Hajin sowie ihr Umland im Rahmen unserer Offensive ‚Gewittersturm Cizîrê‘ befreit. Im Zuge dessen konnte der Tod von 1.306 IS-Dschihadisten festgestellt werden. Mehr als 29.600 Mitglieder der Terrororganisation und Angehörige wurden gefangengenommen. Insgesamt ist ein etwa 7.000 km² großes Gebiet vom Terror befreit worden.

Während der Offensive sind große Mengen an militärischem Rüstungsgut und Munition, Dokumenten und Kommunikationsgeräten sichergestellt worden. Bei mehr als 40 Spezialeinsätzen unserer Antiterror-Einheiten konnten zudem zahlreiche Anschläge und Massaker vereitelt werden. Außerdem sind weitere vier Operationen gegen Schläferzellen, die vom türkischen Geheimdienst MIT koordiniert wurden, durchgeführt worden.

Eigene Verluste

Im Rahmen unseres Kampfes gegen den Terror sind insgesamt 256 unserer Freundinnen und Freunde im selbstlosen Widerstand gefallen. An der erfolgreichen Operation, die zum Tod von IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi führte, waren neben US-Truppen und Kräften der internationalen Koalition gegen den IS gleichermaßen unsere Kräfte beteiligt.“

Legitime Selbstverteidigung gegen die Invasion

Die QSD machen darauf aufmerksam, dass die Angriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien nach dem Sieg über den IS zunahmen und schließlich in der Invasion mündeten, die mit Hilfe islamistischer Proxys im Dienste Ankaras seit knapp drei Monaten andauert. Zu den Geschehnissen seit Beginn des Angriffskrieges teilen die QSD mit: „Der türkische Besatzungsstaat führt gemeinsam mit seinen Dschihadistenmilizen und unter Einsatz von Panzergeschützen, Bodenartillerie, Kampfdrohnen und Kriegsflugzeugen entlang der gesamten Grenze zu Nordsyrien und Nordostsyrien genozidale Angriffe durch. Infolge dieser Angriffe sind knapp 400.000 Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. 522 Zivilist*innen wurden getötet, weitere 2.757 verletzt.

Die türkische Armee setzt auf unterschiedslose Kriegführung. Insbesondere entlang der Grenzlinie wurden und werden zivile Siedlungsbiete intensiv bombardiert. Die QSD erwidern jegliche Art von Angriff auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung.“

Zahlen und Fakten zum Krieg der NATO-Partners Türkei in Rojava

Nach QSD-Angaben hat die Türkei seit Beginn des Krieges gegen Nordsyrien insgesamt 379 Luftangriffe durchgeführt. Weitere 1.021 Angriffe erfolgten mit Panzern, schweren Waffen und weiterer Bodenartillerie. Im Zuge der Verteidigung wurden 1.534 türkische Soldaten und islamistische Proxys getötet. Weitere 294 Angehörige der Invasionstruppen wurden verletzt.

Bilanz über vernichtetes Rüstungsgüter

Panzer (7), gepanzerte Truppenfahrzeuge (17), Schützenpanzer vom Typ BMP-1 (11), sonstige militärische Fahrzeuge (69), Fahrzeuge mit aufmontierter Flugabwehr (11), Arbeitsmaschinen (2), Motorräder (2).

Plädoyer

Wie es abschließend in der Bilanz heißt, greifen die Besatzungstruppen trotz angeblichem Waffenstillstandsabkommen weiterhin großflächig die selbstver- walteten Gebiete in Rojava an. Infolge dieser Verstoße ist es bisher zu 508 Verlusten in den Reihen der Demokratischen Kräfte Syriens gekommen. 1.547 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt, weitere 73 Angehörige sind in Gefangenschaft geraten. Die Städte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) sind durch die Absegnung Russlands und der USA vollständig von der Türkei besetzt worden. Die QSD unterstreichen die besondere Rolle der Frauen- verteidigungseinheiten YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) beim Widerstand in Rojava.

Kritik an der CDU/CSU

Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.

1. ANMERKUNG

Es gibt viele Gründe, ein CDU-Büro zu besetzen.
Über die Komplexität der Verstrickungen der CDU/CSU in moralische Skandale und das Ausmaß der Folgen der jahrzehntelang andauernden CDU-Politik in der BRD könnten Bibliotheken gefüllt werden. Nicht erst seit Rezos Youtube-Offen-barung („Die Zerstörung der CDU“, 2019) zieht sich vom Wahlprogramm und konservativer Ideologie bis zur Genehmigung von Waffenexporten und Kriegs-technik eine autoritäre, kapitalistische, eurozentristische und diskriminierende Agenda sichtbar durch das Handeln und Wirken einer sich selbst als christlich-demokratisch inszenierenden Partei. Politisches Schauspiel, rückschrittliche Re-gierungsentscheidungen, Verbindungen von CDU/CSU-Politiker*innen in die Neo-naziszene oder zu türkischen Faschist*innen, Justizskandale und hetzerische Social Media Beiträge pflastern den steinernen Weg der Union.

Besonders aus einer Chemnitzer Perspektive ist die CDU nur auf allen Ebenen zu kritisieren, sei es aufgrund einer jahrzehntelangen Toleranzpolitik gegenüber fasch-istischen Strukturen und rechter Gewalt, einer konservativ bis rechtsradikalen Stadtratskomposition oder lokalpolitischer Apathie und Imagepolitik bei allen he-rausragenden politischen Ereignissen (NSU, Einsiedel 2016, Trauermärsche am 5. März, Chemnitz 2018..). An dieser Stelle soll jedoch weniger auf die CDU/CSU als Parteikomplex in all seinen Dimensionen eingegangen werden, sondern spezifisch widmen wir uns einer kurzen Analyse der Rolle der Union in der Bekämpfung der Kurd*innen und der Förderung des türkischen Faschismus.

Die drei aufgeführten Gründe sind im Zusammenhang mit der Befreiungsbewegung Kurdistans bedeutsame Entwicklungen in der BRD. Durch eine Jahrzehntelange Tradition der Verbrüderung zwi-schen CDU/CSU und dem türkischen Staat, sowie türkischen Organisationen in Deutschland wurden die gesellschaftlichen Rahmen-bedingungen geschaffen, um Erdogan in seiner kriegerischen Diktatur zu bestärken und Kurd*innen und der Befreiungsbewegung nahestehenden Internationalist*innen massiver Repression zu unterwerfen.


2. ZUSAMMENARBEIT DER CDU/CSU MIT DER MHP
UND DEN GRAUEN WÖLFEN

Schon in der Zeit der Dritten Reichs in Deutschland gab es enge Verbindungen zwischen türkischen Faschisten und den zu dieser Zeit herrschenden National-sozialisten. Aufgrund der vielen Überschneidungen in der Ideologie und dem spä-teren gemeinsamen Kampf gegen den Kommunismus, kam es zu einer engen Zusammenarbeit. Nachdem Deutschland den Krieg verloren hatte und kapitulieren musste, wurde innerhalb der deutschen Politik, keine konsequente Auseinander-setzung mit den faschistischen Funktionären in Institutionen des deutschen Staates durchgeführt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Zusammenarbeit zwi-schen Faschisten aus der Türkei und Funktionären der konservativen Partei CDU/ CSU weiterging.

2.1 Anfänge der Zusammenarbeit mit der MHP und den Grauen Wölfen

Als Durchbruch für die Etablierung der „Grauen Wölfe“³ in Deutschland kann das Jahr 1978 begriffen werden. Nachdem Helmut Kohl, damaliger Fraktionschef von CDU/CSU, den türkischen Faschistenführer Türkeş das Gespräch verweigerte, beschwerte sich der über gute Kontakte zur CSU verfügende Istanbuler Unterneh-mer Murat Bayrak als Türkeş Kontaktmann in einem Brief an den bayerischen Mi-nisterpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß. Im April 1978 ge-währte Strauß in München Türkes, dem Vizevorsitzenden der MHP¹, Gün Sazak und Murat Bayrak die gewünschte Audienz. Es sei ein sehr herzliches Gespräch gewesen, berichtete Bayrak später. Übereinstimmung habe in der Beurteilung des Weltkommunismus als Gefahr für den freien Westen bestanden. „Strauß sagte dem Vernehmen nach den MHP-Politikern zu, dass in Zukunft für die MHP und die Grauen Wölfe ein günstiges psychologisches Klima in der Bundesrepublik geschaf-fen werden müsse, damit die MHP hier in einem besseren Licht erscheine. Bayern soll der Anfang sein.“

Besonders nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei wurde die Zusammenarbeit intensiviert und viele faschistische Mörder und Funktionäre aus der Türkei fanden Unterschlupf in Deutschland und den hier gebildeten Strukturen, wie der Türk Fe-derasyon². Die Mitgliederanzahl stieg in diesen Jahren massiv, weil viele Graue Wölfe aufgrund von Strafverfolgung aus der Türkei fliehen mussten.

2.2 Mord an Celattin Kesim durch Graue Wölfe 1980

In der Reihe der Gewalttaten durch Graue Wölfe erlangte der Mord an Celattin Kesim in Berlin Kreuzberg besondere Aufmerksamkeit. Er wurde am 5. Januar 1980 von Grauen Wölfen und Islamisten, welche aus der nahen Mevalana Mo-schee kamen, überfallen und ermordet. Celattin Kesim war Kommunist, Gewerk-schaftler und Sekretär des „Berliner Türkenzentrums“, dessen Aktivist*innen an diesem Tag Flugblätter am Kottbuser Tor verteilten. Kesims Genoss*innen ver-dächtigen hinter diesem geplanten Mord den türkischen Geheimdienst.

2.3 Konsolidierung der politischen Einflussnahme durch Graue Wölfe

Die MHP pflegte nicht nur gute Kontakte zu CDU/CSU sondern hatte in den 1970er und 80er Jahren gute Beziehungen zur NPD. Diese Kontakte gingen aber nach den tödlichen Brandanschlägen von Neonazis auf türkeistämmige Migrant*innen in So-lingen, Mölln und anderen deutschen Städten zu Beginn der 1990er Jahre in die Brüche. Stattdessen rief Türkeş seine Anhänger bei der Jahresversammlung der „Türkischen Föderation“ 1995 zur aktiven Politik in CDU und CSU auf. Dort, aber auch bei anderen Parteien, gelangten „Graue Wölfe“ seitdem in örtliche oder regio-nale Vorstände sowie in Ausländerbeiräte und Kommunalparlamente.

Während die kurdische PKK verboten ist und türkische Kommunisten sich von deutschen Gerichten mit Terrorklagen konfrontiert sehen, können die „Grauen Wölfe“ bis heute in der Bundesrepublik weitgehend ungestört agieren. Mit Rücken-deckung der türkischen Konsulate können sie Hetze und Drohungen gegen ver-meintliche Feinde des Türkentums wie Kurd*innen, Alevit*innen, Armenier*innen, Juden, Linke und Homosexuelle verbreiten und als verlängerter Arm der türkischen Regierung Oppositionelle im Exil belästigen. Dabei profitieren die türkischen Fa-schisten bis zum heutigen Tage von dem günstigen psychologischen Klima, das der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß seinem türkischen Gesin-nungsfreund, dem Hitler-Verehrer Alparslan Türkeş, 1978 angesichts der gemein-sam ausgemachten linken Gefahr zugesagt hatte.

Quelle: Wie die Grauen Wölfe nach Deutschland kamen,
Nick Brauns, Antifainfoblatt,2016


Die Grauen Wölfe – Türkische Faschisten in Deutschland, 2015

2.4 Neuere Ereignisse

Ein 41-jähriger Kurde, Ibrahim Demir aus Midyad in Mêrdîn (türk. Mardin), ist am 15.05.2020 in Dortmund im Zuge eines rassistisch motivierten Gewaltverbrechens ermordet worden. Auf dem Heimweg wurde der kleinwüchsige Mann mehrfach ge-treten, auch als er schon am Boden lag. Der von einem Zeugen herbeigerufene Notarzt konnte den Schwerverletzten nicht mehr retten, Demir starb noch am Tat-ort. Der Verdächtige, ein Anhänger der „Grauen Wölfe”, wurde verhaftet.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Dortmund ist der 39 Jahre alte Asir A. am 17.05.2020 durch Zeugenhinweise ermittelt worden. Im Laufe der Ermittlungen habe er sich dann selbst gestellt. Die Familie des Opfers hatte einen Aufruf in den sozialen Medien gestartet und an Zeugen appelliert, sich zu melden. Dieser Aufruf habe geholfen. Bei seiner Vernehmung habe Asir A. schließlich eingeräumt, Ibrahim D. körperlich misshandelt zu haben. Wegen des dringenden Tatverdachts der Kör-perverletzung mit Todesfolge wurde er am 18.05. dem Haftrichter vorgeführt.

Ibrahim Demir war kleinwüchsig und nur 1,42 Meter groß. In der Tatnacht befand er sich auf dem Weg nach Hause. Zuvor hatte er noch seine Mutter besucht und war um 23.30 Uhr aufgebrochen. Zuletzt lebend wurde er in einem Kiosk gesehen, 300 Meter von seiner Wohnung in der Adlerstraße entfernt. Gegen ein Uhr nachts be-merkte ein Zeuge die Tat und sah einen Mann wegrennen.

Ibrahim Demir, ermordet von einem Grauen Wolf, 2020

Laut Polizei und Staatsanwaltschaft gibt es noch keine konkreten Hinweise auf ein Motiv, lediglich Anzeichen für einen Streit im Vorfeld. Ein Blick auf das Facebook-Profil des mutmaßlichen Täters zeichnet ein anderes Bild. Asir A. hat ganz offen-sichtlich eine zutiefst rassistische und faschistische Gesinnung und scheint An-hänger der rechtsextremen „Graue Wölfe“ zu sein, wie die Mitglieder der ultrana-tionalistischen türkischen Partei MHP genannt werden.

Ob es sich bei Asir A. auch um die Person handelte, die das Opfer bedrohte, ist allerdings unklar. Şaziye Demir, die Mutter von Ibrahim Demir, gab gegenüber Yeni Özgür Politika an: „Irgendjemand bedrohte Ibrahim in der letzten Zeit. Ich spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmt, aber jedes Mal, wenn ich ihn fragte, wich er mir aus. Zuletzt fragte ich ihn zwei bis drei Tage bevor er ermordet wurde, was ihn bedrückt. Er sagte ‚Mama, misch dich nicht ein, sonst bringt er dich um‘“. Hasret Demir, ein Bruder des Getöteten, sagte: „Es ist eine unverständliche Tat. Ibrahim hat niemandem etwas getan. Er war schwach und konnte sich nicht selbst vertei-digen. Das Leben hat es ohnehin nicht gut mit ihm gemeint und nun wurde er so grausam getötet.“


3. GENEHMIGTE RÜSTUNGSEXPORTE DER BUNDESREGIERUNG

Nach dem 2. Weltkrieg hat die deutsch-türkische Partnerschaft einen neuen Rah-men angenommen. Beide Länder wurden NATO-Mitglieder, was zugleich die Fort-setzung und Intensivierung militärischer Zusammenarbeit bedeutete. Die BRD leistet im Rahmen bilateraler Abkommen einen wesentlichen Beitrag zur Ausbil-dung des türkischen Militärs und dem Aufbau der Sicherheitsorgane und militäri-scher Institutionen in der Türkei.

Zudem wurde die Türkei zu einem bedeutenden Absatzmarkt der deutschen Rüs-tungsindustrie. Zahlreiche Firmen wie Rheinmetall, Heckler & Koch, Mercedes und viele weitere exportieren Rüstungsgüter in die Türkei, abgesichert durch die deut-sche Exportwirtschaftsförderung (sog. Hermes-Bürgschaft). Um die strengen Ex-portrichtlinien für die militärischen Güter zu umgehen, verkauft Deutschland mittler-weile entsprechendes Know-How in die Türkei.

Die kriegstreiberische Politik der Türkei in der Region bedeutet für die deutschen Unternehmen eine Wertsteigerung ihrer Produkte auf dem internationalem Markt, da sie unter realen Kriegsbedingungen getestet werden können. So waren es deut-sche Leopard-II-Panzer, auf denen Dschihadisten schließlich in die monatelang umkämpfte und schließlich von türkischen Söldnern, hauptsächlich Anhänger isla-mistischer Milizen, besetzte Stadt Afrin gerollt sind. Die BRD war schon damals und ist heute im Angriffskrieg auf weitere kurdische Gebiete Nordsyriens durch wirtschaftliche Rückendeckung und umfassende Bewaffnung der Türkei eine direkte Kriegspartei.

Kampagne: Rheinmetall entwaffnen!
„Rheinmetall Entwaffnen Camp 2019 – Impressionen
(Lower Class Magazine, September 2019)


„Vom 1. bis 9. September 2019 fand, in Unterlüß bei Celle, das zweite Rheinmetall Entwaffnen Camp statt. Mehrere hundert Menschen haben sich hier zusammen-gefunden um die Waffen- und Munitionsfabriken des Rüstungskonzerns Rheinme-tall zu Blockieren. Erfolgreich wurden so, zwei Tage lang, die Abläufe gestört.“


4. KRIMINALISIERUNG DER KURDISCHEN FREIHEITSBEWEGUNG

Die Kurdische Befreiungsbewegung gehört zu den größten und aktivsten Bewe-gungen der revolutionären Linken, auch in Deutschland. Gleichzeitig ist sie von staatlicher Repression betroffen, wie kaum eine andere politische Bewegung.

Grundlage der permanenten und umfassenden Kriminalisierung ihrer Aktivist*innen und Strukturen ist das 1993 in der BRD erlassene Betätigungsverbot für die Arbei-terpartei Kurdistans (PKK). 1993 wurde die PKK von den damaligen Bundesinnen-mister der CDU Manfred Kanther verboten. Es lieferte die Legitimation für viele un-gezählte Jahre Gefängnis für kurdische Aktivist*innen in Deutschland, meist auf Grundlage des §129b („Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Verei-nigung“). Razzien, Anquatschversuche durch Geheimdienste und politische Polizei, Vorladungen und andere Schikanen wegen vermeintlichen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz prägen den Alltag der kurdischen Bewegung bis heute.

Zuletzt erließ Bundesinnenminister Horst Seehofer im Februar 2019 gar ein Verbot gegen den kurdischen Buchverlag Mezopotamien und den Musikvertrieb MIR.
Die Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung in der BRD hat die Justiz stark geprägt. Vom „Düsseldorfer Prozess“ und dem „Kurden-Käfig“ 1988 über das PKK Betätigungsverbot 1993 bis hin zu den „Terrorismus-Paragraphen“ §§ 129a und 129b des Strafgesetzbuchs. Das sogenannte Symbolverbot spielt dabei eine essentielle Rolle. Längst sind nicht mehr nur die Fahnen und Symbole verbotener Organisationen, wie der PKK betroffen, sondern auch das Bildnis Abdullah Öcalans oder immer wieder auch die Fahnen der syrisch-kurdischen PYD, YPG und YPJ. Selbst Lieder oder Sprechchöre geraten ins Visier der Staatsschutzorgane. Damit hält Willkür Einzug in die Kriminalisierung. Wer legalen kurdischen Organisationen Räume zur Verfügung stellt, wird wegen Unterstützung der PKK verfolgt. Wer seine Solidarität mit dem Kampf der kurdischen Bewegung gegen den „Islamischen Staat“ und für ein freies Rojava zum Ausdruck bringt, muss mit Hausdurchsuch-ungen und Strafverfahren rechnen.

Im März 2017 hat der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einem Rundschreiben an die Landesinnenministerien und Sicherheitsbehörden die Aus-weitung der Verbote von Symbolen kurdischer Organisationen angekündigt. Hier-unter fallen seither auch Kennzeichen der syrisch-kurdischen Partei PYD sowie der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ, die seither allesamt der PKK zugeordnet wurden und unter das im November 1993 erlassene Betätigungsverbot der PKK fallen. Das Bundesinnenministerium rechtfertigte die Erweiterung der Kennzeichenverbote damit, dass sich die PKK ihrer bedienen würde, da die „eige-nen“ Symbole nicht erlaubt sind. Auf Nachfrage der Linksfraktion im Bundestag relativierte das Ministerium seine Einschätzung vom März 2017 dahingehend, dass das Zeigen der Symbole von PYD, YPG/YPJ u.a. erlaubt sei, sofern bei Veranstal-tungen oder Demonstrationen kein PKK-Bezug feststellbar sei. Schließlich sind diese Organisationen selbst in Deutschland nicht verboten. Das hindert allerdings Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften nicht, solche Bezüge zu konstruieren, was zur Folge hat, dass Veranstaltungen verboten oder behindert werden bzw. massenhaft Verfahren wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz eingeleitet und Menschen zu Geldstrafen verurteilt werden. Selbst das Posten in Facebook oder Teilen von Beiträgen mit den inkriminierten Symbolen im Internet werden geahndet. Die Kriminalisierung und strafrechtliche Verfolgung von Kurd*innen ist seit den Rundschreiben des Bundesinnenministeriums insbesondere in Bayern explosions-artig gestiegen.

All die Verbote der letzten Jahrzehnte waren Zugeständnisse der Bundesregierung gegenüber den faschistischen Regimes aus Ankara. Das Vorzeigebeispiel ist der sogenannte „Flüchtlingsdeal“ mit Erdoĝan, welcher den Krieg gegen Rojava mit-finanziert und im Zuge dessen merklich die Angriffe auf die kurdische Freiheitsbe-wegung in Deutschland zunahmen.

Weitere Informationen zur Verfolgung von Kurdinnen und Kurden in der BRD (Infopartisan)

Übersicht: Kurdische Organisationen und andere Parteien in Kurdistan

Quellen: Civaka Azad, „Revolution in Rojava“ – Flach u.A.

Mit der Auflösung des Osmanischen Reiches und der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 wurde das kur­dische Siedlungsgebiet von den Sieger-mächten des 1. Weltkriegs auf vier Länder aufgeteilt: Türkei, Syrien, Irak und Iran. Wir geben hier einen kurzen Überblick über Organisationen und Parteien in den verschiedenen Teilen Kurdistans sowie ausgewählte türkische Parteien.

Kurdische Bevölkerung in der Geografie Kurdistans, Januar 2019


1. TÜRKEI / BAKUR / NORDKURDISTAN

PKK = Partiya Karkerên Kurdistanê‎ – Arbeiterpartei Kurdistans
gegründet 1978; kämpft für die Selbstbestimmung und demokratischen Rechte der Kurd*innen in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak. Die PKK begann 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat. Seit Beginn der 1990er Jahre ist die PKK intensiv um eine politische Lösung bemüht. Gründer und Vorsitzender: Abdullah Öcalan, 1999 mithilfe ver­schiedener Geheimdienste aus Kenia in die Türkei verschleppt, zum Tode verurteilt, aufgrund internationa­ler Proteste in lebens-lange Freiheitsstrafe umgewandelt und befindet sich seitdem auf der Gefängnis-insel Imrali im Marmarameer, wo er 10 Jahre lang als einziger Gefangener von 1 000 Soldaten bewacht wurde. Sitz und Zentrum der PKK sind die Kandil-Berge im Nordirak. In der Türkei ist sie als terroristische Organisation eingestuft und verbo-ten. In Deutschland wurde die Tätigkeit für die PKK am 26. November 1993 ver-boten. Im September 2017 fällte das Brüsseler Berufungsgericht die Entscheidung, dass die PKK keine Terrororganisation, sondern eine Kriegspartei sei.

YJA-Star = Yekîtîya Jinên Azad Star – Einheiten der freien Frauen
autonome Frauenarmee der PKK, gegründet 1995. Als Frauenarmee wird die Gesamtheit der ausschließlich aus Frauen bestehenden Einheiten der kurdischen Volksverteidigungskräfte (HPG) bezeichnet. Bei diesen Organisationen handelt es sich um Kampfverbände der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

PAJK = Partiya Azadiya Jinan a Kurdistanê –
Partei der Freiheit der Frauen Kurdistans

HPG = Hêzên Parastina Gel – Volksverteidigungskräfte
Selbstverteidigungseinheiten/Guerilla, bewaffnete Einheiten der PKK, gegründet 2000, verstehen sich als Nachfolger*innen der ARGK (Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan – Volksbefreiungsarmee Kurdistans, 1986-2000) und bezeichnen sich
als legitime Verteidigungskraft; HPG und YPG/YPG retteten 2014 Zehntausende Ezid*innen aus dem Sindschar-Gebirge vor dem sicheren Tod durch den IS.

KCK = Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans; überstaatlicher Zusammenschluss der Gemeinschaften Kurdistans, in dem sich im Idealfall die radikaldemokratisch selbstverwalteten Strukturen zusam-menfinden. Verfügt über ein System der Gewaltenteilung und dient der Umsetzung der Konzepte des Demokratischen Konföderalismus und der Verteidigung der kur-dischen Bevölkerung. Die KCK wurde 2007 gegründet und ist hervorgegangen aus der PKK. Seit April 2009 wurden unzählige politische Aktivist*innen in der Türkei festgenommen, wegen angeblicher KCK-Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Organisation angeklagt und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt – unter ihnen Bürgermeister*innen der HDP, Journa-list*innen, Anwält*innen und Gewerkschafter*innen.

HDP = Halkların Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker
Linke, prokurdische, gesamttürkische Partei, konnte erstmals bei den Parla-mentswahlen am 7. Juni 2015 die 10%-Wahlhürde mit 13% überspringen und in Fraktionsstärke ins Parlament einziehen. Auch in den nachfolgenden Wahlen konnte die HDP, trotz enormer staatlicher Repressionen, stets die Wahlhürde nehmen und ihre Wähler*innen im Parlament vertreten.

DBP = Demokratik Bölgeler Partisi – Demokratische Partei der Regionen
gegründet 2014; sie arbeitet zusammen mit HDP, ist allerdings als politische
Partei lediglich in den kurdischen Provinzen aktiv.

DTK = Demokratik Toplum Kongresi – Demokratischer Gesellschaftskongress; Dachorganisation der Volksratsstrukturen
und der Zivilgesellschaft in Nordkurdistan

KJA = Kongreya Jinên Azad – Kongress der freien Frauen
ist die Dachorganisation der autonomen Frauenstrukturen in Nordkurdistan


2. SÜDKURDISTAN / BASÛRÊ / NORDIRAK

Seit dem 1. Golfkrieg wurde diese Region wegen seines Öl- und Wasser-vorkommens sowie seiner geostrategi­schen Bedeutung wichtig. Die Definition dieses Teils Kurdistans als „safe heaven“ gilt heute noch. Nach dem Fall Saddam Husseins 2003 konnte die ihre Autonomie waren. 2005 wurde sie zur „Kurdistan Re­gion of Iraq“ erklärt, verankert in der irakischen Verfassung.

KRG = Kurdish Regional Government; Regierung von Südkurdistan/Nord irak.

PDK = Partiya Demokratiya Kurdistanê – Demokratische Partei Kurdistans
Regierungspartei in der Kurdischen Autonomie Region im Nordirak, vorwiegend
im Kurmancî-Gebiet, gegründet 1946. Seitdem wird dieser Teil Kurdistans vom Barzanî-Clan dominiert. Die Strukturen sind autokratisch; die Regierung pflegt engste Kontakte mit der Türkei. Verfügt über eigene Sicherheitskräfte und Militär – 16 000 Peschmergas („Die dem Tod ins Auge sehen“) bilden Barzanîs Armee. Die PDK kontrolliert die Region um Hewlêr (Erbil) und verfügt über Ableger in Ostkur-distan (Iran), Rojava (Syrien) und Nordkurdistan (Türkei). Die deutsche Bundes-regierung unterstützt die Autonomiere­gion politisch, rüstet die Peschmergas im „Kampf gegen ISIS“ mit deutschen Waffen aus und leistet militäri­sche Ausbildungs-hilfe. Die PDK befürwortet die Angriffe der türkischen Armee seit Ende Juli 2015 auf die PKK und lehnt die kurdische Autonomieregion Rojava ab.

YNK / PUK = Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê – Patriotische Union Kurdistans; wurde 1975 als Ergebnis der Spaltung von der PDK im Exil gegründet und teilt sich weitgehend die Macht mit der PDK in Südkurdistan, vorwiegend im Soranî-Gebiet. Sie verfügt über Militär und Polizei und kontrolliert die Soranî sprechende Region um die Stadt Sulemaniyya (Hauptsitz). Die YNK hat sich mit Rojava solidarisch erklärt und unterstützt die Kurden im Südosten der Türkei.

Bzutinewey Gorran = Bewegung für Wandel
Die Partei GORAN existiert seit 2010 als Abspaltung von der PUK und fand
2013 großen Zuspruch, insbe­sondere für die von ihr propagierte Bekämpfung
von in Südkurdistan bestehender Korruption und Vettern­wirtschaft.

YBŞ = Yekîneyên Berxwedana Şengalê‎ – Widerstandseinheiten Şengals
Bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der ezidischen Region Şengal.
Die YBŞ wurde 2015 als Reaktion auf das Genozid des IS im an der
ezidischen Bevölkerung im August des Vorjahres gegründet.

YJŞ = Yekinêyen Jinên Şengalê‎ – Fraueneinheiten Şengals
Bewaffnete autonome Fraueneinheiten der ezidischen Region Şengal


3. ROJAVA / WESTKURDISTAN / NORDSYRIEN

Im Jahre 2012 hat die kurdische Bevölkerung in Syrien mit der Umsetzung des Modells des Demokratischen Konföderalismus und der Demokratische Autonomie in Rojava begonnen. Rojava bestand anfangs aus den drei Kantonen: Efrîn im Westen, Kobanê im Nor­den und Cizîrê im Osten. Die AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoĝan will mit allen Mitteln eine Etablierung dieses Projektes verhindern. Deshalb hat die türkische Armee gemeinsam mit ihren dschihadistischen Partnern 2018 Efrîn und seit Oktober 2019 weitere Gebiete im Kanton Cizîrê besetzt. Im Zuge des Kampfes gegen den sogenannten Islamischen Staat ist es den Selbstverteidigungskräften Nordsyriens gelungen weitere Gebiete zu befreien. Heute wird das radikaldemokratische Gesellschaftsmodell nicht allein in den kurdisch-dominierten Gebieten Nordsyriens praktiziert, sondern auch in mehrheitlich arabischen Regionen wie Raqqa und Deir ez-Zor umgesetzt.

DFNS = Demokratische Föderation Nordsyrien (früherer Name der Selbstverwaltung in Rojava), jetzt Rêveberiya Xweser a Bakur û Rojhilatê Sûriyeyê – „Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien – Rojava“

QSD / SDF = Quwetên Suriya Dimokratîk – Demokratische Kräfte Syriens – Syrian Democratic Forces; militärisches Bündnis zur Verteidigung der selbst-verwalteten Gebiete in Rojava und Syrien. Militärbündnis von YPG/YPJ sowie mehren arabischen, christlichen, turkmenischen, assyrischen und ezidischen Milizen, offizieller Bestandteil der internationalen Anti-IS Koalition und die einzige Kraft, die am Boden gegen DAIŞ kämpft. Sie sind der Autonomieverwaltung von Nord- und Ost-Syrien unterstellt. Das Militärbündnis SDF besteht derzeit aus den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und den Frauenverteidigungs-einheiten (YPJ),der Kurdischen Front (Dschabhat al-Akrād), der kurdisch-turkmenischen Einheit Katāʾib Schams asch-Schimāl, der sunnitisch-arabischen Armee der Revolutionäre (Dschaisch ath-Thuwwar), der sunnitisch-arabischen Schammar-Stammesmiliz Quwat as-Sanadid und der sunnitischen Rebellen-brigade ar-Raqqa (Liwa Thuwar al-Raqqa), den Al-Dschasira-Brigaden und der Lîwai 99 Muşat sowie dem assyrisch-aramäischen Militärrat der Suryoye (MFS).

YPG = Yekîneyên Parastina Gel – Volksverteidigungseinheiten
Verteidigungskraft von Rojava. Verteidigen mittlerweile auch die ezidische Bevölkerung auf den Şengal-Bergen, besteht aus Frauen und Männern.
Die YPG ist Teil der QSD.

YPJ = Yekîneyên Parastina Jinê – Frauenverteidigungseinheiten
Verteidigungskraft von Rojava. Wie auch die YPG verteidigen mittlerweile
auch sie die ezidische Bevölkerung auf den Şengal-Bergen. Die YPJ ist
als reine Frauenarmee Teil der QSD.

YBŞ = Yekîneyên Berxwedana Şengalê – Widerstandseinheiten Şengals

YJÊ = Yekîneyên Jinên Êzîdxan – Einheiten der ezidischen Frauen

HRE = Hêzên Rizgariya Efrînê – Befreiungskräfte Efrîns – Afrin
Liberation Forces
; erstmalig im Dezember 2018 in Erscheinung getreten,
mit der Ankündigung, eine neue Taktik im Kampf gegen die tükisch-
dschihadistische Besatzung Êfrins anzuwenden. Seitdem haben diverse erfolgreiche Aktionen in Şehba und Efrîn stattgefunden.

IFB = International Freedom Bataillon – Internationaler Freiheitsbataillon
autonome Einheit innerhalb der YPG als Verband aller sich den Kämpfen anschließenden Internationalisten*innen

HPC = Hêzên Parastina Cewherî – Selbstschutzeinheiten
Aufgaben sind bspw., die Straßen und Stadtviertel zu kontrollieren. In den HPC
sind Zivilist*innen aller Altersstufen. Sie unterstützen die Asayîş (polizeiähnliche Schutzkräfte der Selbstverwaltung mit ca 15.000 Mitarbeiter*innen) und sind Teil des systematischen Verteidigungsnetzes Rojavas. Die autonome Frauenstruktur bei den HPC sind die HPC-Jin (Frauenverteidigungskomitees).

MFS = Mawtbo Folhoyo Suryoyo – Militärrat der Suryoye
Verteidigungskraft von Rojava, assoziiert mit YPG und YPJ.

TEV-DEM = Tevgera Cîvaka Dimokratîk – Bewegung für eine demokratische Gesellschaft ist die Organisierung der Selbstverwaltung (Kommunen, Räte, Koordination) sowie ihrer Exekutivinstitutionen in Rojava und das koordinierende Organ des Volksrats Westkurdistan (MGRK). Die TEV-DEM gibt es auf der Gebietsebene und für ganz Rojava. Sie umfasst auch die sie unterstützenden politischen Parteien, diverse NGOs, soziale Bewegungen und Berufsverbände.

MGRK = Meclîsa Gel a Rojavayê Kurdistanê – Volksrat Westkurdistan
im Jahr 2011 gegründete Rätestruktur in Rojava und Syrien. Die Initiative ging
von der PYD aus, inzwischen unterstützen mindestens fünf weitere Parteien
den MGRK. Der MGRK besteht aus vier Ebenen. Die TEV-DEM ist seine
Koordination auf den beiden oberen Ebenen.

Kongreya Star = Dachorganisation der autonomen Frauenstrukturen in Nordsyrien/Rojava; 2005 gegründet unter dem Namen Yekîtiya Star
(Verband der Frauen Star); Frauenorganisation in Rojava, welche die
Frauenräte organisiert, Frauenakademien und andere Fraueneinrichtungen
betreibt (Organisationsmuster wie TEV-DEM).

YCR / YJC = Jugendbewegung in Rojava

PYD = Partiya Yekitîya Demokrat – Partei der demokratischen Einheit
aktiv in Rojava/Westkurdistan-Nordsyrien; 2003 gegründet. Die PYD ist
die größte politische Partei der Kurd*innen in Rojava/Syrien und ist eine
Vertreterin der Demokratischen Autonomie.

MSD = Meclîsa Suriya Dimokratîk – Rat des demokratischen Syriens
Politisches Bündnis verschiedener Volks- und Religionsgemeinschaften in Syrien, die sich im Sinne eines demokratischen und föderalen Syriens organisieren.

Jabhat al Akrad = Kurdische Front
Kurdische Verteidigungseinheit, welche die kurdische Bevölkerung außerhalb Rojavas schützen soll und versucht mit der FSA stellenweise zusammen zu arbeiten. Unter anderem bei der Vertreibung des IS aus Azaz. Am 16.8.2013 wurde Jabhat al Akrad wegen der angeblichen Beziehung zur PKK aus dem Militärrat der FSA von Aleppo ausgeschlossen, nachdem FSA und dschihadistische Gruppen eng gegen die Selbstverwaltung in Rojava kollaboriert hatten.

NCC oder NCB = National Coordination Body – Nationales Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel
ein Oppositionsblock, der aus zehn linksgerichteten politischen Parteien und drei kurdischen Parteien sowie unabhängigen politischen Aktivist*innen einschließlich von Jugendaktivist*innen besteht. Das NCC und der SNC bilden zusammen die zwei Hauptfraktionen der syrischen Opposition. Der NCC steht in Konkurrenz zum SNC und NC, möchte eine friedliche Überwindung des Regimes und stellt sich gegen Konfessionalität und Nationalismus. Insgesamt umfasst das Komitee vor allem säkulare und nationalistische Gruppen, unabhängige Dissidenten und kurdi-sche Parteien, die alle ihre Basis innerhalb Syriens haben. Zu jenen gehören die PYD und ein Ableger der Syrischen Kommunistischen Partei.

ENKS = Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê – Kurdischer Nationalrat in Syrien; im Oktober 2011 gegründetes Bündnis, das von der PDK Barzanîs und nahestehenden Parteien dominiert wird.

PDK-S = Partiya Demokrata Kurdistan a Sûriye – Demokratische Partei Kurdistan-Syrien
; gegründet 1956, ist die größte Mitgliedspartei im Kurdischen Nationalrat (ENKS), welche mit der Demokratischen Unionspartei (PYD) Teile Nordsyriens regiert. Derzeitiger Vorsitzender ist Abdulhakim Bashar, welcher
auch im Vorstand der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte (NC) ist. Die Partei steht der von Masud Barzani geführten Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) im Nordirak nahe.


4. ROJHILAT / OSTKURDISTAN / IRAN


PJAK = Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê – Partei für ein freies Leben in Kurdistan
; militante kurdische Untergrundorganisation im Iran mit Stützpunkten im Nordirak; eine Schwesterorganisation der PKK. Sie führt einen bewaffneten Kampf für mehr Autonomie der Kurden im Iran und wurde im April 2004 in den Kandil-Bergen des Nordirak gegründet. Sie ge­hört dem Dachverband der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) an. Sie strebt eine Zusammenarbeit mit der iranischen Opposition an, was sich bis heute schwierig gestaltet. Zahlreiche PJAK-Kämpfer*innen wurden in den vergangenen Jahren zum Tode verurteilt und hingerichtet. 2009 wurde die PJAK auf die US-Terrorliste gesetzt.

KODAR = Demokratische und freie Gesellschaft Ostkurdistans
Organisierung der Selbstverwaltung (Kommunen, Räte, Koordination)
sowie ihrer Exekutivinstitutionen in Ostkurdistan.

5. DIASPORA – Kurdische Gemeinschaft außerhalb von Kurdistan

KNK = Kongreya Neteweyî ya Kurdistanê – Kurdischer Nationalkongress
im Mai 1999 gegründet, Sitz in Brüssel; Bündnis Kurdischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen und Exilorganisationen.

Auswirkungen der türkischen Invasion in Rojava auf Frauen und Kinder


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: Women Defend Rojava / November 2019

1. SITUATION VON FRAUEN UND KINDERN IM KONTEXT DER MODERNEN KRIEGSFÜHRUNG IN SYRIEN UND IM MITTLEREN OSTEN

1.1 Historische Einordnung der Rolle von Frauen und Kindern in Kriegen

Es wurden umfangreiche Untersuchungen zu den Auswirkungen der modernen Kriegsführung auf Frauen und Kinder durchgeführt. Viele Aspekte von Kriegen haben die stärksten Auswirkungen auf Frauen und Kinder. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist dies als ein Schema der modernen Kriegsführung bekannt geworden. Sei es aus taktischen oder technologischen Gründen, die Opfer moderner Konflikte sind viel eher Zivilist*innen als Soldaten. Manchmal ist es eine absichtliche Strategie, um Gemeinschaften und widerständige Bevölkerungen zu brechen. Da Frauen in der Regel die Rolle haben, Gemeinschaften zusammenzuhalten, d.h. die Basis für die Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Organisatisierung zu schaffen, nehmen Invasionstruppen in der modernen Kriegsführung üblicherweise Frauen als Zielscheibe, um ihre Besetzung “erfolgreicher” und schneller umzusetzen. Dabei verfolgen sie das Ziel, den Willen von Frauen und der Gesellschaft zu brechen, um Assimilation durchsetzen zu können. Nachdem der Kommandeur der UN-Friedensmission in der Demokratischen Republik Kongo mit seinen Amtskollegen umfangreiche Recherchen zu diesem Thema anstellte, kam er zu dem Schluss, dass es im späten 20. und 21. Jahrhundert “in einem bewaffneten Konflikt wahrscheinlich gefährlicher ist, eine Frau zu sein als ein Soldat.” Frauen sind mit viel höherer Wahrscheinlichkeit von mehreren Formen von Gewalt betroffen als Männer. Das gilt insbesondere für sexuelle Gewalt, auch in Friedenszeiten. Das macht den bloßen Ausbruch eines Krieges bereits zu einer gefährlicheren Situation für Frauen, da sie von Anfang an einer größeren Bedrohung ausgesetzt sind.

1.2 Vertreibung von Frauen und Kindern in Kurdistan

Eine der verheerendsten Auswirkungen der modernen Kriegsführung ist die Vertreibung der Bevölkerung. Laut UNICEF sterben weitaus mehr Kinder an durch Krieg verursachten Folgen von Krankheiten und Unterernährung als durch direkte Angriffe. Vertreibung bedeutet in der Regel eine Unterbrechung der individuellen Entwicklungs- und Bildungsprozesse, sowie eine Gefährdung durch exponentielle Risiken. Vertreibung wirkt sich auch stärker auf Frauen aus, da sie die Hauptlast der reproduktiven Arbeit und Fürsorge in ihren Gemeinschaften tragen. Dadurch sind Frauen für das Überleben und ihre Sicherheit stärker auf eine enge Verbindung zum gewohnten Umfeld und Land angewiesen. Kinder sind verletzbarer und können die Situation häufig nicht verstehen. Frauen erleiden ein viel höheres Maß an psychologischen Traumata durch Vertreibung als Männer und sind zudem viel eher gefährdet, da ihre Heimat und das Land, auf dem sie leben in der Regel für ihre Sicherheit, Identität und ihren Lebensunterhalt von größerer Bedeutung sind.

Ein Beispiel für die langfristigen Folgen der Vertreibung, die derzeit in Nord- und Ostsyrien stattfindet, ist die Situation der “Binnen- vertriebenen”, die derzeit nicht nach Afrin zurückkehren können. Afrin wurde von genau den gleichen Kräften besetzt, Truppen der türkischen Armee und ihren Söldnern, die derzeit daran arbeiten, ihre Herrschaft über den gesamten Nordosten Syriens zu errichten. Ein Bericht über die Situation tausender Binnenvertriebener Frauen und Kinder in der Region Shehba von August 2018 zeigt, dass die Bedingungen bezüglich Unterbringung, Sicherheit, Gesundheit und Bildung deutlich unter den von UNICEF und den Vereinten Nationen festgelegten akzeptablen Richtwerten liegen. Binnenvertriebene sind im allgemeinen viel häufiger Frauen und Kinder als Männer, die mit höherer Wahrscheinlichkeit eher internationale Grenzen überschreiten oder überhaupt nicht fliehen. UNHCR stuft Binnenvertriebene als einige der am stärksten gefährdeten Menschengruppe der Welt ein; sie fliehen oft in Gebiete, die für die UN oder internationale Hilfsgruppen nicht zugänglich sind. Tatsächlich wurde UN-Hilfsorganisationen bisher von der syrischen Regierung nicht genehmigt, nach Nordsyrien einzureisen, und internationale NGOs verließen die Region im Oktober 2019 aufgrund der durch die Invasion verursachten Gefahr. Dies schränkte die Ressourcen und Hilfsmöglichkeiten für die Bewältigung der humanitären Krise sehr stark ein.

All diese Ereignisse müssen im Kontext eines achtjährigen Konflikts auf syrischem Territorium betrachtet und mit den dokumentierten Auswirkungen des kurz- und langfristigen Krieges auf Frauen und Kinder, sowie im Kontext der geschichtlichen Entwicklung der Region analysiert werden, um die verheerenden Auswirkungen der Angriffe auf Frauen und Kinder vollständig verstehen zu können. Die Tatsache, dass dieser Krieg auch Praktiken des Völkermords, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen umfasst, müssen ebenfalls in diesem Kontext benannt werden.

1.3 Feminizid in Kurdistan

Viele Organisationen, darunter die WHO, bezeichnen die Ermordung von Frauen aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie Frauen sind, als „Feminizid“. Der Begriff Feminizid wird auch zunehmend von Frauenrechtler*innen und sozialen Bewegungen verwendet, um systematische geschlechtsspezifische Gewalt als Mittel der Kriegsführung und Besatzung sichtbar zu machen. In internationalen Konventionen und Gesetzen mangelt es jedoch bisher an einer angemessenen Vorgehensweise und Definition. Der Genozid schließt die soziale und psychologische Vernichtung einer ethnischen, religiösen oder kulturellen Gruppe mit ein. Ebenso sollte der Feminizid als ein systematischer Angriff begriffen werden, der nicht allein physische Angriffe beinhaltet, sondern auch soziale, ideologische und psychologische Angriffe auf die Existenz, Identität und Würde von Frauen.

Afrin stellt auch ein Beispiel für die Folgen der langfristigen Besetzung durch die türkischen Armee und ihre verbündeten Truppen dar. Umfangreiche Beweise für Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt, Entführungen, Lösegelderpressungen und gezielte Ermordung von Frauen wurden ebenso dokumentiert wie die Durchsetzung der Sharia-Gesetzte gegen den Willen der Frauen. Diese Verordnungen bedeuten das Einsperren von Frauen in ihrem Haus, den Entzug jeglicher Rechte von Frauen und ihres Zugang zu Gerechtigkeit.

Derartige Verbrechen wurden und werden von Gruppen wie dem IS, Al Qaida, Al Nusra oder Boko Haram und Staaten wie der Türkei begangen. Es erfordert die Errichtung eines neuen rechtlichen und politischen Rahmens, um diese spezifischen Verbrechen zu verurteilen, zu verfolgen und weitere dieser Verbrechen zu verhindern. Die zunehmende Verbreitung dieser Verbrechen erfordert, dass wir Feminizid auf der gleichen Ebene wie Genozid bewerten und verurteilen müssen, wenn eine Häufung von Verbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen, die sich systematisch gegen Frauen als eine spezifische soziale Gruppe richten.

1.4 Besondere Gefährdung von Frauen und Kindern durch Daesh

Der türkische Staat hat in seinem Besatzungskrieg weitgehend Stellvertreterarmeen benutzt. Seine langjährige Verbindung mit dem Islamischen Staat wurde ausgiebig dokumentiert. Darüber hinaus haben viele Mitglieder jener Stellvertretertruppen, die derzeit in Nord- und Ostsyrien tätig sind und den türkischen Staat unterstützen, eine Vergangenheit als Mitglieder des Islamischen Staates und sind Mitglieder von Organisationen, die auf den gleichen Prinzipien basieren.

Um die Auswirkungen dieses Konflikts auf Frauen, Mädchen und Kinder verstehen zu können, ist es deshalb notwendig, dass wir diesbezüglich die klar belegte Bilanz der Verbrechen des Islamischen Staates betrachten. In einem der berüchtigtsten der dokumentierten Fälle wurde festgestellt, dass der IS während des Völkermords an der ezidischen Bevölkerung von Shengal im Jahr 2014 Methoden wie sexuelle Sklaverei, systematische Entführung, Vergewaltigung und Feminizid einsetzte. Ein Großteil der von diesen Verbrechen Betroffenen sind minderjähriger Mädchen. Im gesamten Gebiet, das durch den Islamischen Staat in Syrien besetzt wurde, gab es unzählige Fälle von sexueller Gewalt, Vergewaltigungen, Ehrenmorden, Missbrauch, Sklaverei sowie von Folter und Entführungen, die sich insbesondere gegen Frauen richteten. Frauen wurden jegliche Rechte und ihr Zugang zur Justiz verweigert, ihre Gesundheit wurde vernachlässigt und es war ihnen untersagt, ohne ein männliches Familienmitglied aus dem Haus gehen, was ihr Zuhause oft de facto zu einem Gefängnis werden ließ. Auch Kinder, insbesondere Mädchen, litten unter Kinderheirat, fehlender Schulbildung und fehlendem Zugang zu Gesundheitsversorgung.


2. ÜBERBLICK ÜBER DIE KRIEGSSITUATION IN ROJAVA


2.1 Die militärischen Angriffe der Türkischen Armee und ihrer verbündeten Dschihadisten auf die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien

Seit dem 9. Oktober um 16:00 Uhr (EEST/ GMT+3) führt die Armee des türkischen Staates mit verbündeten Söldnertruppen eine militärische Operation in Nordsyrien durch. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts dauert dieser Angriff bereits seit sechs Wochen an. Der Angriff begann mit schweren Luftangriffen auf die Regionen Serekaniye (Ras al-Ayn) und Gire Spi (Tel Abyad) sowie mit Bombardierungen und Granatenangriffen entlang der gesamten Grenze, einschließlich auf Städte und Dörfer in den Regionen Derik, Rimelan, Qamishlo, Amude, Dirbesiye, Serekaniye, Gire Spi, Kobane, Manbij und Ayn-Issa. Luftangriffe und Artilleriebeschüsse der türkischen Armee werden von einer Bodenoffensive durch Truppen begleitet, die von der türkischen Armee aufgestellt wurde und sie unterstützt.

Der Großteil dieser Bodentruppen besteht aus Söldnern der Freien Syrischen Armee, die sich nun „Syrische Nationale Armee“ nennen. Diese Truppen wurden von der Türkei aus verschiedenen sunnitisch-muslimischen arabischen und turkmenischen bewaffneten Gruppen zusammengestellt. Alle Gruppen, die nun diese neue Bodentruppe bilden, sind in der Vergangenheit durch Kriegsverbrechen bekannt geworden. Die Mehrheit von ihnen hat direkte oder indirekte Beziehungen zum Islamischen Staat (IS). Die Aufstellung und Unterstützung von dschihadistischen Söldnertruppen durch die Türkei, deren Zusammenarbeit sowie weitreichenden Verbindungen zum IS sind ebenfalls während dieser Invasion dokumentiert worden. Der türkische Staat setzt dabei dschihadistische Gruppen als institutionellen Bestandteil seiner Bodentruppen ein, um die Besetzung aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung in den eroberten Gebieten zu unterdrücken.

Die türkische Armee und ihre verbündeten Truppen haben nun die Städte Serekaniye und Gire Spi sowie die dazwischen liegenden Gegenden besetzt. Es gibt anhaltende Invasionsangriffe seitens der türkischen Armee und der mit ihr verbündeten Truppen auf die Regionen und Städte von Tel Temer und Ayn Issa sowie an vielen Stellen entlang der internationalen Verkehrsstraße M4, um diese Städte zu kontrollieren und zu isolieren. Zudem wird die Bodeninvasion weiterhin durch Luftangriffe von türkischen Kampfflugzeugen und Drohnen (UAV) unterstützt.

2.2 Der angebliche Waffenstillstand

Am 17. Oktober 2019 um 22 Uhr wurde nach einem Abkommen zwischen der Türkei und den USA ein Waffenstillstand verkündet. Ein weiteres Abkommen wurde am 22. Oktober zwischen Russland und der Türkei beschlossen: das “Abkommen von Sotschi”. Gemäß dieser Vereinbarung wurde der Waffenstillstand unter der Bedingung verlängert, dass sich die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) 30 km weit von der Grenze zurückziehen und die türkische Armee von Russland begleitete Patrouillen in bestimmten Regionen entlang der Grenze auf syrischem Territorium durchführen kann. Obwohl die SDF die Bedingungen des Abkommens einhält, haben die Türkei und ihre verbündeten Truppen wiederholt gegen den Waffenstillstand verstoßen sowie ihre Angriffe weiter ausgeweitet. Während der gesamten Zeit der andauernden Invasion wurden kontinuierlich Beweise für Kriegsverbrechen festgestellt. Experten stellten deutliche Beweise für den Einsatz verbotener Waffen (Weißer Phosphor) fest und legten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) nah, eine offizielle Untersuchung durchzuführen.

2.3 Binnengeflüchtete in Rojava und
Demographischer Wandel nach türkischen Vorstellungen

Die aktuelle Invasion des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien findet in einem historischen Kontext und als Teil einer breiteren geopolitischen Situation statt. Die laufenden Angriffe vom Oktober 2019 sind eine Fortsetzung der Invasion und Besetzung Afrins durch den türkischen Staat im Jahr 2018. Hier wird ein Muster fortgesetzt, demzufolge der türkische Staat in der Region einseitige Maßnahmen unter dem Label der „Sicherheit“ durchführt, welche anstreben die demografische Zusammensetzung zu verändern und Bevölkerungsgruppen weitreichend aus diesen Regionen zu vertreiben. Die Türkei versucht demographische Veränderungen in dieser Region zu bewirken, indem sie durch ihre Angriffe Massenvertreibungen verursacht. Erdogan plant, tausende von Geflüchteten, welche ursprünglich aus anderen Teilen Syriens stammen, aus der Türkei zu deportieren und im Norden und Nordosten Syriens “anzusiedeln”. Viele von ihnen wurden ganz bewusst aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dschihadistischen Gruppen ausgewählt.

Durch die türkische Invasion in Nordsyrien wurden hunderttausende Menschen zu Geflüchteten und Binnenvertriebenen, die sich noch immer in dem von der autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens verwalteten Gebiet befinden. Seit dem 2. November wurden ca. 200.000 – 300.000 Menschen durch die türkische Invasion vertrieben, Frauen und Kinder sind dabei von gravierenderen Auswirkungen betroffen. 150.000 davon befinden sich nun in der Jazeera-Region. Allen Berichten zufolge sind die überwiegende Mehrheit davon Frauen und Kinder. Tausende von Kindern leben bereits als Vertriebene mit all den hierdurch erzeugten physischen und psychischen Schäden. Die Situation der Binnenvertriebenen ist kritisch, da die Nahrungsmittel- und Wasserknappheit durch Angriffe auf die Infrastruktur, wie beispielsweise die Wasserstation Alouk, noch weiter verschlimmert wird. Die Menschen sind hochgradig durch ansteckende Krankheiten gefährdet und anfällig für andere Gefahren. Nach Angaben lokaler NGOs, die in den Camps arbeiten, zeigen Kinder Anzeichen von psychischen Folgeerscheinungen. Es gibt keine Infrastruktur für Bildung, Beratung oder Kinderförderung. In vielen Camps, die kontinuierlich um Ressourcen kämpfen, fehlt es an Gesundheitsversorgung.

Das Washokani-Camp wurde ohne internationale Unterstützung in der Nähe von Heseke, Kanton Jazeera, neu errichtet. Der Anteil der erwachsenen männlichen Bewohner des Camps ist weniger als 20%, was eine sehr typische Situation der Binnenvertriebenen in diesem Konflikt darstellt. Alle im Washokani-Camp untergebrachten Menschen sind Vertriebene aus den Städten und der Umgebung von Serekaniye und Tel Temer. Der Leiterin des Camps liegen Berichte vor, die die Ursache dafür, dass die Anzahl der Frauen im Camp so viel höher ist als die der Männer, darauf zurückführen, dass Frauen in vielen Fällen meist früher fliehen, da sie zusätzlich durch sexuelle Gewalt und Vergewaltigung von den Angreifern bedroht sind. Darüber hinaus tragen sie auch die Hauptverantwortung für die Versorgung und Betreuung ihrer Kinder. Frauen und Kinder werden nicht nur mit größerer Wahrscheinlichkeit vertrieben, sondern sind auch von den Auswirkungen viel stärker betroffen.

2.4 Angriffe auf Zivilist*innen und das zivile Leben

Erste Berichte und Zeugenaussagen machen deutlich, dass die gleichen Praktiken, die im besetzten Afrin angewandt werden, auch in Serekaniye und Gire Spi zu beobachten sind. Die Besetzung und der Angriff auf Nordsyrien durch die türkische Armee und ihre Verbündeten ist wiederholt mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit einhergegangen, wie sie in der UN-Dekleration definiert sind und entsprechen der UN-Definition eines Genozids an der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens, der insbesondere auf die kurdischen und christlichen Gemeinschaften abzielt. Seit Beginn der Invasion sind Frauen zunehmend von Vergewaltigung, sexuellen Übergriffe und andere Formen geschlechts- spezifischer Gewalt bedroht. Es gab auch gezielte Angriffe auf Frauen aus der Zivilgesellschaft, wie die brutale Ermordung der Politikerin Hevrin Khalaf. Frauen in Gire Spi und anderen besetzten Gebieten wurden die Scharia-Gesetze durch die Besatzungstruppen aufgezwungen. Auch Kriegsverbrechen, die sich bewusst gegen Kämpferinnen der YPJ richten, wurden dokumentiert.

Es wurde dokumentiert, dass sowohl die türkische Armee als auch ihre verbündeten Truppen ganz gezielt Zivilist*innen und zivile Infrastruktur angegriffen haben. Der historische Kontext hat eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit den Angriffen auf das Gebiet der Demokratischen Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien, innerhalb dessen die Selbstverwaltung und die Frauenbewegung Frauengesetze und Zentren zur Umsetzung von Frauenrechten etabliert haben. Hierdurch hat die Gemeinschaft eine aktive Rolle bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt gespielt und das Empowerment von Frauen institutionalisiert. Die Zerstörung dieser Zentren durch Besatzungstruppen stellt einen Rückschlag dar und macht Frauen von nun an viel angreifbarer. Diese Angriffe beeinträchtigen insbesondere das Leben und die Existenzgrundlage von Frauen und Kindern. Angriffe auf die Infrastruktur ziehen die gesamte Gesellschaft und alle Lebensbereiche in Mitleidenschaft, in denen die Rolle von Frauen zumeist zentral ist. Frauen und Kinder befinden sich häufig in einer verletzlicheren gesellschaftlichen Position und können sich daher weniger frei bewegen, um Gefahren zu entkommen.

Ein Angriff auf das derzeitig pluralistische und multiethnische Zusammenleben der Menschen in den Gebieten der Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien stellt auch einen Versuch dar, die Harmonie zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen zu zerstören, sowie Chaos und Gewalt zu erzeugen. Diese Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und die Zerstörung des zivilen Lebens sind gezielte Taktiken der türkischen Armee und ihrer verbündeten Truppen, und stellen einen Völkermord und Feminizid dar. Diese Tatsache erfordert eine massive internationale Intervention.


3. PLÄDOYER VON KONGRA STAR

Basierend auf den hier erörterten und allgemein verfügbaren Beweisen geht Kongra Star davon aus, dass in Nordsyrien ein Genozid und zugleich ein Feminizid im politischen Sinne verübt wird, der sich gegen Frauen als eine soziale Gruppe richtet. Die Angriffe auf das System der demokratischen Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens sind ein Angriff auf die Sicherheit und Freiheit von Frauen. Hinzu kommen die extremen humanitären Auswirkungen dieser Invasion, von der Frauen und Kinder und damit auch die Gemeinschaften am schwersten betroffen sind. Kongra Star sieht die dringende Notwendigkeit, eine politische Lösung für den Konflikt in Syrien zu finden, bei der die Stimmen aller ethnischen Gruppen, aller Altersgruppen, Religionen und Organisationen und vor allem die Stimmen und Bedürfnisse der Frauen Gehör finden und berücksichtigt werden müssen. Um diesen Prozess einzuleiten, müssen die Frauen Nord- und Ostsyriens die Möglichkeit haben, Delegierte zu entsenden, die sie bei der Ausarbeitung einer neuen syrischen Verfassung und aller damit verbundenen Prozesse vertreten. Darüber hinaus ist es wichtig, dass alle Kriegsverbrechen sowie alle beteiligten Täter in rechtlichen Verfahren zur Anklage gebracht werden. Um Gerechtigkeit zu erlangen, müssen die vom türkischen Staat und seiner Söldnertruppen verübten Genozide und Feminizide offiziell anerkannt und verurteilt werden.

Unverzüglich müssen folgende Maßnahmen von der internationalen Gemeinschaft ergriffen werden, um die physische und soziale Krise zu beenden, die durch die türkische Invasion verursacht wurde und in deren Rahmen Gewalt, Vertreibung, Kriegsverbrechen, Not und Menschenrechtsverletzungen verübt werden:

• Einrichtung einer “Flugverbotszone” über Nordsyrien zum Schutz Zivilbevölkerung vor willkürlicher Gewalt und Massakern

• Sofortiger Rückzug der türkischen Besatzungsarmee und aller mit ihr verbundenen bewaffneten Gruppen aus dem Territorium Syriens; Beendigung der Besetzung, der Völkermordpraktiken und des Feminizids

• Einrichtung einer Friedensmission der internationalen Gemeinschaft an der türkisch-syrischen Grenze zur Verhinderung weiterer Angriffe der türkischen Armee und all ihrer verbündeter Milizen

• Verhängung von umgehenden Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei und sofortige Einstellung des gesamten Waffenhandels mit der Türkei

• Sofortmaßnahmen zur umfangreichen humanitären Unterstützung der Regionen der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens

PDF ZUM WEITERLESEN : Dossier von Kongra Star zu Auswirkungen der türkischen Invasion auf Frauen und Kinder in Rojava

„Operation Quelle des Friedens“ oder der Vernichtungsfeldzug der Türkei gegen Rojava (2019)

Ausführliche Informationen folgen in kürze.

Widerstand in Bakur gegen den türkischen Faschismus


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.

Ausführliche Informationen folgen in kürze.

PKK Youth Fight for Autonomy in Turkey (YDG-H)
(Vice News, Feb 2016)

On January 6, a 14-year-old Kurdish boy named Ümit Kurt was shot dead by Turkish special forces in the Syrian border town of Cizre in southeast Turkey. Ümit Kurt was killed as he walked home through an area controlled by the Patriotic Revolutionary Youth Movement (YDG-H), the militant youth wing of the outlawed Kurdistan Workers‘ Party (PKK). The YDG-H has been acting as a paramilitary force in Cizre for the past few months and has closed off several Kurdish neighborhoods with their armed checkpoints and patrols. VICE News gained exclusive access to members of the YDG-H, mostly in their teens and early twenties, who give their story on why gun battles broke out between them and the Turkish security forces, leading to some of the worst fighting in Cizre since the 1990s.

Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg
(Lower Class Magazine, Sep 2016)

Zwischen Januar und Juni 2015 hielten sich Journalisten des lower class magazine mehrere Monate in verschiedenen Teilen Kurdistans auf. In Bakur (Nordkurdistan, Südosttürkei) bereisten sie die Kriegsschauplätze in Städten wie Diyarbakir, Nusaybin, Cizre und Yüksekova. In Basur (Südkurdistan) hatten sie die Gelegenheiten, Führungspersonen der kurdischen Guerilla in Kandil zu treffen.

Das Buch „Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg“ könnt ihr hier bestellen.

Warum führt die Türkei einen Krieg gegen Rojava ?


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


HINTERGRÜNDE DES TÜRKISCHEN ANGRIFFSKRIEGES AUF DIE DEMOKRATISCHE FÖDERATION NORD- UND OSTSYRIEN / ROJAVA


1. Zunehmende Destabilisierung der türkischen Innenpolitik

Die türkische Regierungspartei AKP (türk. für „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) und deren Vorsitzender Recep Tayyip Erdoğan stehen vor großen innenpolitischen Herausforderungen. Seit den Protesten um den Gezi-Park in Istanbul im Sommer 2013 und spätestens dem sog. Putschversuch des türkischen Militärs am 15./16. Juli 2016 schlägt die zunächst wirtschaftsliberale und national-konservative AKP einen zunehmend nationalistischen, autoritären und autokratischen Kurs ein. In der gesamten Zeit seit Juli 2016 gehen die türkischen Behörden willkürlich und mit brutaler Härte gegen Regimekritiker*innen und Oppositionelle vor. Alleine in den ersten Monaten wurden unzählige Menschenrechtsverleungen durch türkische und internatinaie NGOS dokumentiert. Im Zuge seiner politischen Säuberungsaktionen ließ Erdoğan tausende Menschenrechtler*innen, Akademiker*innen und Journalist*innen suspendieren und viele von ihnen inhaftieren. Auch gegen Polizeikräfte, Richter*innen sowie Staatsanwält*innen wurde gleichermaßen vorgegangen. An deren Stelle setzte Erdoğan AKP-treue Funktionäre und Mitarbeiter*innen ein, die weitreichende Zensur öffentlicher Medien und hohe Kontrolle über die politische Meinungsbildung, Legislative und Exekutive ermöglichten. Erdoğan gelang es also mittels eines faktisch 2 Jahre lang andauernden politischen Ausnahmezustands in der Türkei die Gewaltenteilung des Staates aufzuheben und an sich zu reißen. Das wurde mittels der verfassungsändernden Reform zur Einführung des sog. Präsidialsystems im Jahr 2018 post factum legalisiert und gesetzlich verankert.

2. Wirtschaftliche Krise der Türkei

Zudem befindet sich die Türkei seit 2018 in einer tiefen Wirtschaftskrise, die zur Entwertung der türkischen Lira und hoher Staatsverschuldung führte. Aufgrund nicht absehbarer Entwicklung der wirtschaftlichen Lage hat Erdoğan die für das Jahr 2019 anstehenden Präsidentschaftswahlen auf das Jahr 2018 vorverlegt. Dabei hat sich die AKP auf eine Koalition mit der ultranationalistischen MHP (türk. für „Partei der Nationalistischen Bewegung“) eingelassen.

3. Konstruktion von Feinbildern

Um den Machterhalt zu sichern wird neben der Diffamierung und Liquidierung oppositioneller Kräfte seites der Regierung massiv nationalistische und rassistische Stimmung gegen die vor allem im Süd-Osten der Türkei sowie in Nordsyrien lebenden Kurd innen gemacht. Die rassistischen Mobilisierungen betreffen jedoch nicht nur Kurd*innen, auch gegen syrische Geflüchtete wird massiv und offen u.a. von Erdoğan persönlich gehetzt. Die unter Erdoğan erneut entflammte völkisch-patriotische Politik des türkisch-zentralistischen Nationalstaats sieht keinen Platz für Menschen anderer ethnischer und kultureller Hintergründe vor und nutzt sie zu- gleich als Feindbild, um den Zustand und die Gründe der sozialen und ökonomischen Krise zu verschleiern.

4. Errichtung einer „Sicherheitszone“ in syrischem Grenzgebiet

Neben systematischen Bombardierungen kurdischer Gebiete im Nordirak und fortlaufender Assimilierungs-, Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik in Süd-Ost-Anstolien, legitimierte Erdoğan mit dem Vorand der sog. Terrorismus-Bekämpfung im Winter 2018 einen völkerrechtswidrigengriffskrieg sowie anschließende Besetzug des hauptsächlich von Kurd*innen bevölkerten nord-syrischen Kantons Afrin. Das hat zu Vertreibung und Flucht der Zivilbevölkerung sowie Destabilisierung lokaler basisdemokratischer Strukturen geführt. Durch die Ansiedlung islamistischer Kämpfer, urkeitreuer Milizen und deren Familien in Nnn wird neben direkter Bedrohung dort dinmen auch ein Wiedererstarken des IS und weitere Hürden für den Friedensprozess in Syrien in Kauf genommen. Die Türkei nutzt die in Nordsyrien bereits besetzte Region Afrin auch um, mit Zuspruch und Subventionierung der EU, Schutzsuchende aus verschiedenen Teilen Syriens dorthin abzuschieben. Die sogenannte „Sicherheitszone“ – das neue außenpolitische Projekt Erdoğans gezielte Umgestaltng der Demografie und die Zwangsvertreibung kurdischer Bevölkerung weiterhin ermöglichen.

5. Imperialistischer Größenwahn der AKP

Die im März 2019 stattgefundenen Kommunalwahlen in der Türkei haben trotz massiver Repression gegenüber Oppositionellen gezeigt, dass die Regierung unter Führung Erdoğans weder nicht widerspruchslos hingenommen wird. Doch Erdoğan hält weiterhin an seinem Expansionismus unter nationalistischen Linie fest und hofft damit die Bevölkerung hinter sich zu einen. Mit „Vision 2023″, einer politischen Strategie der AKP-MHP Regierung, will er an das historische Erbe Atatürks anknüpfen. Im Jahr 2023 jährt sich das 100. Jubiläum des Lausanner Vertrags, demnach die nach Ende des 1. Weltkriegs verhandelten Staatsgrenzen der Türkei neu verhandelt werden könnten. Das Osmanische Reich soll also wieder auferstehen und eine Großmacht im mittleren Osten werden, wenn den Kurd*innen ihr Existenzrecht immer wieder abgesprochen wird. Um sich besser Argumentationsgrundlagen bedienen zu können, will Erdoğan mit dem Angriffkrieg weitere Teile Nordsyriens besetzen und somit auch die seit 100 Jahren andauernde Kolonisierung Kurdistans durch die Türkei aufrechterhalten und ausdehnen.

6. Rojavas Utopie als Gefahr für die Legitimation der türkischen Diktatur

Einer der ausschlaggebenden Gründe für den aktuellen Angriffskrieg auf Nordsyrien ist die dort seit der Ausrufung der Revolution 2012 bestehenden demokratischen Selbstverwaltung der lokalen Bevölkerung, die auf Prinzipien des multikulturellen, multireligiösen und multiethnischen Zusammenlebens beruht, statt auf Nationalismus zu basieren. Weder innen- noch außenpolitisch lässt sich eine solche Nachbarschaft mit Erdoğans Ideologie in Übereinstimmung bringen.

Weiterhin setzt die Türkei alles daran, die internationale Anerkennung der Selbstverwaltungsstrukturen und in ihnen vorhandenes Potential zur Demokratisierung Syriens zu unterbinden. So konnte mit dem Veto der Türkei die Teilnahme der Vertreter*innen der nord-ost-syrischen Selbstverwaltung an der Verfassungskommission für Syrien vorerst verhindert werden.

7. Plädoyer

Diese Auflistung ist nicht annähernd in der Lage, den Umfang und die Komplexität des Verhältnisses zwischen Türkei und Kurd*innen in Nord- und Westkurdistan darzustellen. Die „Kurdische Frage“ ist seit Jahrzehnten ein bedeutender Teil der politischen Agenda in der Türkei. Rojava ist der geographische Kern der Freiheitsbewegung Kurdistans und auch im türkischen Teil Kurdistans organisiert sich die Bevölkerung nach Prinzipien des demokratischen Konföderalismus. Was in Rojava geschieht, beeinflusst die Völker in der Türkei und die aggressive Vernichtungspolitik Erdoĝans in diesem Krieg, zeigt einmal mehr seine Entschlossenheit, für imperialistische Machterhaltung und -ausweitung bis zum Äußeren zu gehen. Doch was soll das Äußere sein?

Abdullah Öcalan und die Kurden-Frage, Arte 2015

Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt sehen eine funktionierende Perspektive in dem Demokratischen Konföderalismus, der Frauenbefreiung und den ökologischen Prinzipien der Revolution und eine Möglichkeit der Organisierung von Mensch und Natur als Ausweg aus der kapitalistischen Krise. Auch westliche Demokratiesysteme können die kurdische Freiheitsbewegung als Bedrohung wahrnehmen, wenn die sozialen Konflikte in einem Staat ansteigen und die Legitimation der Regierenden infragegestellt wird. Proteste in Europa werden nieder geknüppelt, Aktivist*innen kriminalisiert und abgeschoben und die Medien schweigen. Die faschistische Motivation der Türkei hinter diesem andauernden Genozid und Feminizid in Kurdistan wird von einer handlungsunfähigen Internationalen Gemeinschaft hingenommen, deren Theorie und Praxis ebenso viele Merkmale von Faschismusdefinitionen erfüllen. Der Vorwand Erdoĝans der Terrorismusbekämpfung wird in der BRD und anderen Staaten in anderen Ausmaßen ebenso gegen Oppositionelle und Widerständische eingesetzt, deutsche V-Leute treiben Neonazistrukturen voran, um die Gesellschaft zu spalten und Graue Wölfe erschießen kurdische Aktivistinnen.

Aufgrund all dieser Parallelen, der Verstrickung von Politik- und Handelsbeziehungen mit der Türkei und dem Profit des Krieges ermöglichen die kooperierenden Staaten der zweitgrößte NATO-Armee und ihren dschihadistischen Söldnern, mit schweren Waffen und Chemiebomben Siedlungen zu attackieren, in einem Gebiet, in dem sich ein paar Millionen Menschen ein Stück Wüste erkämpft haben und ihr demokratisches Projekt aufopferungsvoll gegen den Islamischen Staat verteidigen. Der Sieg der YPG/YPJ und der HPG über Daesh [IS] in Rojava durchkreuzte die imperialistischen Pläne der Türkei als eine der Hauptsponsoren und Ankerpunkte des IS gewaltig und dürfte ein weiterer Auslöser der Vernichtungswut Erdoĝans sein. Doch noch ist Rojava nicht gefallen!

Danke YPJ/YPG für die Verteidigung dieser einzigartigen Revolution. Serkeftin!

Was ist die Revolution in Rojava?


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.

Gelebte Utopie? Selbstverwaltung in Rojava – Ein Vortrag von Anja Flach (26.04.2017)

Mehr als zwei Jahre – von 1995 bis 1997 – war Anja Flach als Internationalistin in den Bergen Kurdistans und hat dort das Leben der Guerillaeinheiten der kurdischen Befreiungsbewegung kennen gelernt und geteilt. Mitten in einem Krieg gegen die zweitgrößte Armee der NATO wird sie Augenzeugin und Teilnehmerin des noch immer andauernden Versuchs, ein anderes Leben aufzubauen – ein Leben, das für das unter Jahrhunderten Krieg, Unterdrückung und Verleugnung leidende kurdische Volk ebenso eine menschenwürdige Perspektive bietet wie für die zerstörten Beziehungen zwischen Männern und Frauen und für die einzelnen ProtagonistInnen dieses Kampfes.

#DefendRojava I “Was heute in Rojava stattfindet verstehen wir als Revolution.“ (Civaka Azad, Juni 2018)

Teilung Kurdistans, Revolution in Rojava, Angriffskrieg der Türkei auf Afrin, internationale Beziehungen, Analyse der Reaktionen der europäischen Linken

Ausführliche Informationen folgen in kürze.