Beitrag mit Radio T – Besetzung, aktuelle Lage und Kampagne (März 2020)


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.

Radio T versteht sich als lokales und zugangsoffenes Bürger*innenradio und als Bereicherung der Rundfunklandschaft, indem es sich in Programm und Struktur zu den öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Rundfunkanbietern in Sachsen abgrenzt. Die Berichterstattung soll sich auf Personen, Gruppen, Themen und Zusammenhänge konzentrieren, die in den etablierten Medien wenig oder gar nicht vorkommen. Radio T ist Mitglied im Bundesverband Freier Radios (BFR).


Beitrag vom 10.03.2020

GLIEDERUNG

1. PERSPEKTIVE ROJAVA
2. BESETZUNG DES CDU-BÜROS
3. SOLIKAMPAGNE „CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!“
4. AKTUELLE LAGE IN SYRIEN UND DEN EU-AUßENGRENZEN
5. BILDUNGSWOCHEN: „ROJAVA – EINE UTOPIE?“

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1. PERSPEKTIVE ROJAVA

Radio T: Im vergangenen Jahr wurde in Chemnitz das Büro der CDU besetzt. Anlass war der türkische Angriffskrieg gegen die kurdische Bevölkerung, der in Nord-Syrien erneut ausgebrochen war. Was aus einem Artikel des MDR
Sachsen hervorgeht, ist, dass die Polizei laut den Besetzer*innen mit viel
Gewalt das Büro geräumt hatte. Ich habe zwei der Besetzer*innen als Gäste
eingeladen, um ihnen ein paar Fragen zu stellen. Danke, dass ihr hier seid, Clara und Coco! Am 9. Oktober 2019 startete die Türkei den völkerrechts-widrigen Vernichtungskrieg gegen Rojava. Aus diesem Grund wurde Ende Oktober das CDU-Büro von Internationalist*innen besetzt. Was ist Rojava?

Clara: Im syrischen Teil von Kurdistan wurden im Zuge des Arabischen Frühlings und dem Machtvakuum des syrischen Bürgerkriegs Gebiete von der Herrschaft der regierenden Baath-Partei unter Präsident Assad durch die Selbstverteidigungs-einheiten YPG/YPJ befreit und eine Revolution ausgerufen. Umgehend wurde von der Bevölkerung mit der Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus in den Kantonen Rojavas – Afrîn, Kobanî und Cizîre – begonnen. Unter Kriegsbeding-ungen nahmen die Kurd*innen in diesen Gebieten zusammen mit den verschieden-sten ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen die Selbst-verwaltung in Angriff. Dabei mussten neben der eigenen Bevölkerung auch hunderttausende Kriegsflüchtlinge aus anderen Teilen Syriens versorgt werden, wobei UN-Organisationen nicht die geringste internationale Hilfe leisteten. Des Weiteren wurde die Revolution in Rojava zusätzlich durch ein wirtschaftliches Embargo belastet, das sowohl durch die Türkei, an welche die Kantone Rojavas angrenzen, als auch durch die kurdische Autonomieregion im Nordirak verhängt wurde. Mit logistischer Unterstützung durch die Türkei vermehrten sich schnell die Angriffe islamistischer Milizen wie der al-Nusra-Front und des Islamischen Staates (IS) auf die kurdischen Kantone. Seitdem verteidigt die Bevölkerung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien das Gebiet gegen den IS, andere dschihadistische Milizen und Angriffe imperialistischer Staaten und organisiert weiterhin erfolgreich und entschlossen die Revolution.

Radio T: Welche Bedeutung hat Rojava im Mittleren Osten?

Clara: In Nordostsyrien entwickelt sich ein demokratisches Projekt, das Menschen auf der ganzen Welt Hoffnung gibt. Rojava ist zum Symbol geworden, für eine neue Form des solidarischen Zusammenlebens, welches die Freiheit des Einzelnen, die Rolle der Frau und der Ökologie in den Mittelpunkt der Gesellschaft stellt. Die Men-schen, vor allem die Frauen in Rojava, haben nicht nur Syrien vom IS befreit, son-dern nachhaltig die verschiedensten Ethnien, Kulturen und Religionen in der Region vereint. Im Schatten von faschistischen Diktaturen und korrupten staatlichen Ver-waltungen organisieren die Menschen vor Ort demokratische Wege des gemein-schaftlichen Zusammenlebens, um jedem einzelnen, unabhängig von Herkunft und Religion, die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen. Allgemein handelt es sich bei der Praxis in Rojava also um ein Gesellschaftsmodell, welches Lösungsansätze für gesellschaftliche und zwischenstaatliche Konflikte im Mittleren Osten und auf der ganzen Welt anbietet.

Radio T: Ihr als Internationalist*innen fühlt euch sehr verbunden mit der kurdischen Freiheitsbewegung und der Selbstverwaltung. Welche
Bedeutung hat Rojava für die Internationalistische Linke?

Coco: Laut unserer Analyse erlebten Linke Bewegungen auf der ganzen Welt einen ideologischen Tiefschlag und einen immensen Verlust von Utopie und Orientierung durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Spätestens seitdem befinden wir uns in einer tiefen ideologischen und organisatorischen Krise. Einer der Gründe dafür ist eine mangelnde historische Analyse in Bezug auf das Scheitern des Realsozialis-mus und die Ableitung angemessener Konsequenzen für die politische Organisie-rung revolutionärer Bewegungen. Die internationalistische Linke ist nicht in der Lage, den gegenwärtigen Krisen der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, ge-schweige denn, sie zu bewältigen. Die Ideen von Abdullah Öcalan, dem ideologi-schen Vorreiter der Freiheitsbewegung, bieten umfassende Analysen und Lösung-en für die Krisen dieser Welt, wie das Patriarchat, den Kapitalismus und die Klima-krise. Die Konzepte, die Öcalan im 5-Personen-Gefängnis auf Imrali entwickelt hat, wo er seit seiner illegalen Verschleppung durch Geheimdienste 1999 in nahezu vollständiger Isolation gefangen gehalten wird, bieten fortschrittliche Ansätze auf dem Weg zur Befreiung der Gesellschaft von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Die Konzepte der Demokratischen Moderne, der Demokratischen Nation und der Demokratischen Autonomie, sowie das Organisierungsmodell des Demo-kratischen Konföderalismus, welche Öcalan basierend auf einer umfassenden historischen und gesellschaftlichen Analyse entwickelte, überbieten geläufige soziologische Theorien in vielen Aspekten wie Genauigkeit, Progressivität und Komplexität. Aus diesen Gründen sehen wir in der kurdischen Befreiungsbewe-gung und der praktischen Umsetzung der Theorien Öcalans in Rojava eine neue und möglicherweise weltveränderndernde Utopie, welche ein Lichtblick und Orien-tierung für fortschrittliche Bewegungen auf der ganzen Welt darstellen kann.


In diesem Lied geht es um die Suche nach der eigenen Identität in der Geschichte.


2. BESETZUNG DES CDU-BÜROS

Radio T: Aus internationalistischer Perspektive klingen die Ideen der Freiheitsbewegung ziemlich mitreißend und vielversprechend. Welche
Rolle spielt die Politik der CDU im Krieg gegen Rojava?

Clara: Die guten Beziehungen der Bundesregierung zum Türkischen Staat, türkisch-nationalistischen und faschistischen Organisationen in der Türkei und in Deutschland ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Besonders hervorzuheben ist die kontinuierliche Zusammenarbeit von Regierungsparteien wie der CDU/CSU und der SPD mit der MHP (also der Partei der Nationalistischen Bewegung) und den Grauen Wölfen, eine Organisation türkischer Rechtsextremis-ten. Durch die Genehmigung von Rüstungsexporten an die Türkei unterstützt die Bundesregierung den Krieg gegen Rojava ideologisch und militärisch. Auch durch umfassende Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei spielt die Regierung dem faschistischen Staat in die Hände. Vollständig abhängig gemacht von den politischen Zielen Erdogans hat sich die Regierung und ganz Europa durch das EU-Türkei-Abkommen von 2016. Schlussendlich arbeiten die Repressionsor-gane beider Regierungen eng zusammen. In Deutschland sind laut offizieller Infor-mation über 3000 Mitarbeiter*innen des Türkischen Geheimdienstes MIT statio-niert. Die Bundesregierung unterstützt die faschistische Kurd*innen-Politik der Türkei aktiv durch die Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung. Politische Manöver der Türkei werden traditionell begleitet von massiven Repressionswellen der deutschen Strafverfolgungsbehörden, wie zB in den
90er Jahren nach der Verschleppung von Abdullah Öcalan und auch heute,
im Zuge des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges von Erdogan.


Dieses Lied ist insbesondere der Kämpferin Sara gewidmet, die zusammen mit den beiden anderen Revolutionärinnen Ronahî und Rojbîn im Auftrag des türkischen Geheimdienstes hingerichtet wurden. Am 9. Januar 2013 wurden die kurdischen Politikerinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez in den Räumen des Kurdischen Informationsbüros in Paris heimtückisch ermordet. Sakine Cansiz (Sara) und Fidan Doĝan (Rojbîn) wurden mit Kopfschüssen, Leyla Saylemez (Ronahî) mit Schüssen in Kopf und Bauch getötet.

Radio T: Was passierte am 25. Oktober im CDU-Büro in Chemnitz?

Clara: Um gegen die kriegerische Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der Türkei zu protestieren, besetzten am 25. Oktober 13 Internationalist*innen erfolg-reich das CDU-Wahlkreisbüro am Markt in Chemnitz. Im Verlauf eines simulierten Interviews mit der Kreisvorsitzenden gelangten die Aktivist*innen gewaltfrei und unbewaffnet in das Parteibüro. Drei der Besetzer*innen ketteten sich mit Eisen-schlössern irreversibel an eine Absturzsicherung am Fenster. Aus den Fenstern im zweiten Stock wurde während der ganzen Besetzung mit Passant*innen und der unterstützenden Kundgebung vor dem Haus der CDU-Geschäftsstelle kommuni-ziert. Während den Verhandlungen mit der Polizei und der anschließenden Räu-mung verhielten sich alle Besetzer*innen ruhig und friedlich. Durch Angebote, Provokationen und Beleidigungen von Einsatzleitung und Beamten ließen sich die Internationalist*innen nicht aus dem Konzept bringen. Trotz aller Zurückhaltung wendete die Polizei bei der Räumung permanent Schmerzgriffe und rohe Gewalt an. Nach fast vier Stunden war das CDU-Büro vollständig geräumt. Allen Beset-zer*innen wurde nach der Räumung ein Platzverweis erteilt, eine Internationalistin wurde aus inszenierten Gründenfür mehrere Stunden in der Hauptwache gefangen gehalten. Nach der Aktion suchten zwei Internationalist*innen mit Verletzungen an Kopf, Händen und Rippen einen Notfallchirurgen auf. Im Nachgang der Aktion wurden alle 13 Besetzer*innen beschuldigt, sich strafbar gemacht zu haben des Hausfriedensbruchs, der Nötigung und des Verstoßes gegen das Verbot von
Vermummung u. Schutzwaffen bei Versammlungen.


3. SOLIKAMPAGNE „CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!“

Radio T: Im Nachgang der CDU-Besetzung wird momentan eine Spendenkampagne unter dem Namen „CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!“ organisiert. Welche Ziele werden mit der Kampagne verfolgt?

Clara: In der Hoffnung, eine keinesfalls vollständige, jedoch einführende Über-
sicht über die politische Motivation hinter der Besetzung, den Ablauf der Aktion
und die darauffolgende staatliche Repression geben zu können, wurde ein Blog
ins Leben gerufen: cdubesetzen.noblogs.org
Einerseits hoffen wir auf umfangreiche finanzielle, öffentlichkeitswirksame und organisatorische Unterstützung zur Realisierung unserer Spendenkampagne, andererseits ist es uns ein tiefes Anliegen, die Notwendigkeit der Verteidigung dieser einzigartigen Revolution in Rojava präsent zu halten. Der öffentliche
Umgang mit Repression soll somit nicht nur der Unterstützung der Inter-nationalist*innen dienen, sondern vor allem an den barbarischen Krieg
erinnern, der jeden Tag in Rojava tobt!

Radio T: Wie kann die Kampagne „CDU BESETZEN?
UNBEZAHLBAR!“ unterstützt werden?

Clara: Eine Spendenkampagne lebt vor allem durch Vielfältigkeit und
Multiplikator*innen. Auch wenn wir, die Internationalist*innen der CDU-
Besetzung vom 25.10.19 und unser soziopolitisches Umfeld, unser Bestes
geben, um weiterhin gegen den Genozid in Kurdistan vorzugehen, auf den
Komplex der kurdischen Freiheitsbewegung aufmerksam zu machen und die
Repressionskosten für die Verfahren im Nachgang der CDU-Besetzung zu
decken, sind unsere Möglichkeiten in Chemnitz doch begrenzt. Deswegen
brauchen wir die praktische Solidarität von euch! Wir hoffen, mit unserer
Analyse und unseren Aktionen, ein wenig für Inspiration zu sorgen und die
Notwendigkeit einer internationalistischen Intervention in Europa hervor zu
heben. Wir erwarten nicht, dass ihr eure Arbeitsschwerpunkte und sozialen
Kämpfe vernachlässigt, um uns zu unterstützen, aber wir wünschen uns ein
wenig Rückhalt und gedankliche Teilhabe. Wir hoffen darauf, dass ihr unsere
Kampagne und unsere Ziele bei euren Projekten mitdenkt.
Wir freuen uns auf eure Aktionen und Spenden!

Radio T: Auf der Website der Kampagne wurden verschiedene
Möglichkeiten aufgeführt, wie die Kampagne von Einzelpersonen
oder Gruppen, Vereinen und anderen Organisationen unterstützt
werden kann. Könnt ihr das etwas konkretisieren?

Coco: Macht über eure Internetkanäle, analoge Medien und in euren Räumlich-keiten auf den Krieg in Kurdistan, die CDU-Besetzung in Chemnitz und die Soli-kampagne aufmerksam! Schickt unseren Spendenaufrauf an alle befreundete Gruppen / Vereine / Organisationen. Je mehr Menschen von der Kampagne erfahren, desto mehr Spenden können aquiriert werden und umso mehr Men-
schen werden auf den unmenschlichen Krieg in Kurdistan aufmerksam!

Clara: Überlegt, ob in euren Räumlichkeiten oder in anderen Locations Soli-
material (Plakate, Flyer) aufgehängt oder verteilt werden können. Fragt direkt in den Locations, ob das möglich ist oder schickt uns gern eine Liste und wir übernehmen die Kommunikation. Wir bemühen uns, das Solimaterial zeitnah zu verschicken!

Coco: Überlegt, ob ihr als Gruppe / Verein / Organisation, Geld für die Soli-kampagne spenden könnt, um somit die Kampagne und Repressionskosten
teilweise zu finanzieren. Erzählt euren Mitgliedern und eurem Publikum von der Kampagne und bittet sie um eine Spende. Auch kleine Beträge sind wertvoll!

Clara: Überlegt, ob ihr Kapazitäten habt, um Spendenaktionen zu starten. Zum Beispiel könnt ihr bei euren Veranstaltungen Spenden sammeln. Auch in soli-
darischen Clubs oder bei kulturellen – oder Bildungsveranstaltungen können Spendendosen am Einlass aufgestellt werden. Mit einer Essensbude, einer
Cocktailbar oder anderen Verkaufsständen bei Festivals, Stadtfesten oder Nach-barschaftsevents kann schnell und einfach viel Geld eingenommen werden. Durch Solipartys kann in kurzer Zeit sehr viel Geld eingenommen werden. Es gibt viele Möglichkeiten! Schreibt uns gern an, um eure Ideen zu diskutieren oder falls ihr euch organisatorische Hilfe wünscht. Schickt uns gern Fotos von euren Aktionen!

Coco: Wenn ihr Kontakt zu Journalist*innen, Medienschaffenden oder Presse-vertreter*innen habt, oder es in eurer Stadt ein cooles Stadtmagazin gibt, könnt
ihr anfragen, ob die Möglichkeit besteht, unseren Spendenaufruf abzudrucken, ein Interview mit uns zu führen oder auf andere Weise auf die Kampagne aufmerksam zu machen! Andernfalls freuen wir uns auch über die Vermittlung von Kontakten oder Hinweise auf Medien, welche uns unterstützen könnten!


4. AKTUELLE LAGE IN SYRIEN UND AN DEN EU-AUßENGRENZEN

Radio T: Mit der Besetzung wolltet ihr auf den Krieg in Rojava aufmerksam machen, wie ist die Lage aktuell in Nord- und Ost-Syrien?

Coco: Im Januar/Februar 2018 erfolgte die Annexion von Afrin durch die Türkei und ihre dschihadistischen Verbündeten. Seitdem erlebt die lokale Bevölkerung die Er-richtung eines islamischen Kalifats. Damit einher gehen die Durchsetzung der Ge-setze der Sharia (v.a. durch FSA- u. Al-Nusra-Kämpfer, wovon besonders Frauen u. ethn. Minderheiten betroffen sind), Prozesse der ethnischen Säuberung, Vertrei-bung von Kurd*innen u. Armenier*innen, Vergewaltigungen, Entführungen u. Löse-gelderpressung und barbarische Exekutionen. Die Islamisten, welche Afrin beset-zen, widmen sich der Zerstörung von kulturellen u. religiösen Einrichtungen, Bau-werken und Gedenkstätten. Außerdem bemüht sich der türkische Staat um die Ansiedlung von dschihadistischen (meist arabischen) Familien aus der Türkei u. Syrien zur demografischen Veränderung der Region. Mit Befreiung der letzten Hochburg des IS in al-Bagouz wurde ein militäri-scher Sieg der YPG/YPJ über den sog. Islamischen Staat in Rojava errungen. Am 9. Oktober 2019 erfolgte schließlich der Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffs-krieges der Türkei auf die demokratische Selbstverwaltung. Die Angriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien nahmen nach dem Sieg über IS zu und mündeten schließ-lich in der Invasion, die mit Hilfe islamistischer Proxys im Dienste Ankaras seit knapp 4 Monaten andauert. Der türkische Besatzungsstaat führt gemeinsam mit seinen Dschihadistenmilizen und unter Einsatz von Panzergeschützen, Bodenartil-lerie, Kampfdrohnen und Kriegsflugzeugen entlang der gesamten Grenze zu Nord-syrien und Nordostsyrien genozidale Angriffe durch. Hervorzuheben sind beson-ders Angriffe der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Söldnertruppen auf Gefängnisse und Camps in Rojava, wo besonders viele IS-Kämpfer leben. Infolge dieser Angriffe gelang es hunderten Dschihadisten, zu fliehen – viele von ihnen reorganisierten sich nachweislich in islamistischen Milizen wie Jabhat al-Nusra und der FSA in Syrien. Der Großteil der Bodentruppen Erdogans besteht aus Söldnern der Freien Syrischen Armee, die sich nun „Syrische Nationale Armee“ nennen. Die-se Truppen wurden von der Türkei aus verschiedenen sunnitisch-muslimischen arabischen und turkmenischen bewaffneten Gruppen zusammengestellt. Alle Gruppen, die nun diese neue Bodentruppe bilden, sind in der Vergangenheit durch Kriegsverbrechen bekannt geworden. Die Mehrheit von ihnen hat direkte oder indirekte Beziehungen zum Islamischen Staat (IS). Die Aufstellung und Unterstüt-zung von dschihadistischen Söldnertruppen durch die Türkei, deren Zusammen-arbeit sowie weitreichenden Verbindungen zum IS sind ebenfalls während dieser Invasion dokumentiert worden. Der türkische Staat setzt dabei dschihadistische Gruppen als institutionellen Bestandteil seiner Bodentruppen ein, um die Beset-
zung aufrecht zu erhalten und die Bevölkerung in den eroberten Gebieten zu unterdrücken.


(deutsch)

Radio T: Wie geht die Türkei gegen Rojava vor?

Coco: Allgemein setzt die türkische Armee auf unterschiedslose Kriegsführung. Insbesondere entlang der Grenzlinie wurden und werden zivile Siedlungsbiete intensiv bombardiert. Nach QSD-Angaben hat die Türkei seit Beginn des Krieges gegen Nordsyrien über 380 Luftangriffe durchgeführt. Weitere knapp 1.100 Angriffe erfolgten mit Panzern, schweren Waffen und weiterer Bodenartillerie. Die Unter-schiedslosigkeit der türkischen Kriegsführung zeigt sich in Angriffen auf Personen der Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel die gezielte Attackierung von zivilen Kon-vois. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise ist die Hinrichtung der Politikerin Hervin Khalaf von der Zukunftspartei Syriens und ihrer Begleitpersonen.

Hevrin Khalaf, gewaltvoll ermordet von Dschihadisten von Ahrar al-Sharqiya in der Nähe der Verkehrsstraße M4 am 12. Oktober 2019

Zusätzlich nahmen mit Beginn der Invasion dschihadistische Anschläge in den Gebieten der Selbstverwaltung zu, wie etwa Selbstmordattentate und Autobomben im Zentrum von Städten. Die gezielte Zerstörung von ziviler Infrastruktur, wie der Bombardierung von Krankenhäusern, Trinkwasserversorgungsanlangen und der Stromversorgung, sowie der Begrenzung der Wasserzufuhr nach Syrien durch Stauung und Regulation der Wasserdurchlässigkeit von Staudämmen in der Türkei, verstehen wir als massiven Angriff auf die Zivilgesellschaft. Die Auswirkungen die-ser Kriegsführung äußern sich durch Wasserknappheit in den Städten und Dörfern Rojavas, folglich in der Einschränkung der Möglichkeiten der Landwirtschaft und massiver Versorgungsknappheit durch die Behinderung der autarken Lebensmittel-produktion. Von international anerkannten Wissenschaftler*innen wurde der Einsatz von weißem Phosphor gegen die Zivilgesellschaft bestätigt. Weißer Phosphor ist die gefährlichste Form des Phosphors. In Brandbomben wird die Substanz mit Kautschukgelatine versetzt. Somit bleibt die zähflüssige Masse an der bis dahin noch nicht brennenden Person, die Kontakt mit dem Kampfstoff hatte, haften und wird weiter verteilt. Neben der Brandwirkung und den schwer heilenden Verletzung-en sind weißer Phosphor und seine Dämpfe hochgiftig. Der Einsatz von Phosphor-bomben als Brandwaffen gegen Zivilpersonen ist entsprechend dem Verbot von unterschiedslosen Angriffen in den Zusatzprotokollen zur Genfer Konvention ver-boten. Es wurde dokumentiert, dass türkischen Streitkräfte in bewohnten Regionen wie Serêkaniyê und Girê Spî Chemiewaffen vor allem gegen Frauen und Kinder eingesetzt haben. Die OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) hatte eine Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze in Nordsyrien aufgrund fehlen-den Mandats abgelehnt, nachdem sie eine Spende über 30.000 Euro von der Tür-kei erhalten hatte. Die Besatzungstruppen greifen trotz angeblichem Waffenstill-standsabkommen weiterhin großflächig die selbstverwalteten Gebiete in Rojava an. Die Städte Serêkaniyê und Girê Spî, sowie die umliegenden Gebiete sind durch die Absegnung Russlands und der USA vollständig von der Türkei und ihren verbündeten Truppen besetzt worden.

Radio T: Welche demografischen Auswirkungen zeigen sich jetzt, 4 Monate nach Beginn des großangelegten Angriffskrieges der Türkei in Rojava?

Coco: Trotz größter Anstrengung konnte im Zuge des Angriffskrieges nur ein Teilgebiet von Rojava erobert werden. Das besetzte Gebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze (also Gire Spi, Serekaniye) erstreckt sich ca 30km von der türkischen Grenze aus nach Süden und ca 170km entlang der Grenze. Dieses Gebiet entspricht ungefähr 10% der Gesamtfläche der Demokratischen Admini-stration Nord- u. Ostsyrien. Es gibt anhaltende Invasionsangriffe seitens der türki-schen Armee und der mit ihr verbündeten Truppen auf die Regionen und Städte von Tel Temer und Ayn Issa sowie an vielen Stellen entlang der internationalen Ver-kehrsstraße M4, um diese Städte zu kontrollieren und zu isolieren. Zudem wird die Bodeninvasion weiterhin durch Luftangriffe von türkischen Kampfflugzeugen und Drohnen (UAV) unterstützt. Infolge dieser Angriffe sind knapp 400.000 Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. Ca 500 Zivilist*innen wurden getötet, weitere 2.700 verletzt. Die QSD erwidern jegliche Art von Angriff auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung. Die QSD unterstreichen die besondere Rolle der Frauenverteidigungseinheiten YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) beim Widerstand in Rojava. Im Zuge der Verteidigung wurden 1.500 türkische Soldaten und islamisti-sche Proxys getötet. Knapp 300 Angehörige der Invasionstruppen wurden verletzt. Infolge dieser Verstoße ist es bisher zu ca 500 Verlusten in den Reihen der Demo-kratischen Kräfte Syriens gekommen. 1.500 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt, weitere 70 Angehörige sind in Gefangenschaft geraten.


In diesem Lied geht es um die Verteidigung Rojavas.

Durch die türkische Invasion in Nordsyrien wurden hunderttausende Menschen zu Geflüchteten und Binnenvertriebenen, die sich noch immerin dem von der autono-men Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens verwalteten Gebiet befinden. Seit dem 2. November wurden ca 400.000 Menschen durch die türkische Invasion vertrie-ben, Frauen und Kinder sind dabei von gravierenderen Auswirkungen betroffen. 150.000 davon befinden sich nun in der Jazeera-Region. Die Geflüchtetenlager in Rojava, welche auch Tausende Menschen aufgenommen haben, die vor den Aus-wirkungen des Syrienkrieges fliehen mussten, sind maßlos überfüllt und erhalten keinerlei humanitäre Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen.

Radio T: Während der CDU-Besetzung wurden von den Internatio-
nalist*innen konkrete Forderungen verlesen. Welche Forderungen
stellt ihr nun in Anbetracht der aktuellen politischen Lage in Rojava
an die Internationale Gemeinschaft?

Clara: Unverzüglich müssen folgende Maßnahmen von der internationalen Gemeinschaft ergriffen werden, um die physische und soziale Krise zu
beenden, die durch die türkische Invasion verursacht wurde und in deren
Rahmen Gewalt, Vertreibung, Kriegsverbrechen, Not und Menschenrechtsverletzungen verübt werden:

• die Einrichtung einer “Flugverbotszone” über Nordsyrien zum Schutz
der Zivilbevölkerung vor willkürlicher Gewalt und Massakern

• der sofortige Rückzug der türkischen Besatzungsarmee und aller mit ihr verbundenen bewaffneten Gruppen aus dem Territorium Syriens, sowie die Beendigung der Besetzung, der Völkermordpraktiken und des Feminizids

• die Einrichtung einer Friedensmission der internationalen Gemeinschaft an
der türkisch-syrischen Grenze zur Verhinderung weiterer Angriffe der türki-
schen Armee und all ihrer verbündeter Milizen

• die umgehende Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei
und die sofortige Einstellung des gesamten Waffenhandels mit der Türkei

• und schließlich Sofortmaßnahmen zur umfangreichen humanitären Unter-stützung der Regionen der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens

Radio T: Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Türkei auf die Selbst-
verwaltung ist nicht das einzige Schlachtfeld Erdogans in Syrien. Seit Februar scheint die militärische Situation um Idlib zu eskalieren. Was
genau bedeuten die Gefechte in der Region nördlich von Aleppo?

Coco: Entsprechend der Versprechungen von Russland und dem syrischen Re-gime zur Erhaltung der Souveränität Syriens befreiten syrische Truppen im Februar die letzten Rebellengebiete nördlich von Aleppo. Durch massive Bom-bardierungen des syrischen Regimes auf Militärstützpunkte von FSA und Al-Nusra wurden türki-sche Soldaten getötet, welche sich in den Stellungen ihrer verbündeten Dschihadis-ten aufhielten. Daraufhin begann die Türkei, massiv Truppen nach Idlib zu verlegen und Vergeltungsschläge gegen syrische Truppen zu verüben. Die Luftschläge der türkischen Armee konnten nur durch die Eröffnung des Luftraumes durch Russland ermöglicht werden, was ein weiteres Anzeichen für die Doppelmoral der russischen Syrienpolitik darstellt. Die schweren Gefechte in Idlib zwischen türkischen Truppen und dem syrischen Regime sind Ausdruck des Scheiterns der internationalen Mächte. Das Scheitern der Türkei drückt sich aus in der inneren politischen und wirtschaftlichen Krise der Türkei (auch durch die Beteiligung der Türkei im syri-schen Bürgerkrieg) und dem Scheitern der politischen Einflussnahme in Syrien durch die Zerschlagung der Rebellenhochburgen von Al-Nusra und FSA. Das Scheitern der Türkei zeigt sich auch in einer zunehmenden Destabilisierung des politischen Ansehens der Türkei in der EU und im Westen durch Verhandlungen mit Russland und kriegerischen Handlungen entgegen internationaler Konventionen u. NATO-Bestimmungen. Auch aufgrund des Verkaufs der S400-Raketensysteme von Russland an die Türkei scheiterten die Hoffnungen Erdogans auf militärische Unterstützung der NATO und der USA in den Kämpfen um Idlib auf der Seite der türkischen Armee. Das Scheitern westlicher Staaten drückt sich aus in dem Ver-sagen bei dem Versuch einer einheitlichen europäischen Syrien-Politik mit dem Ziel der Beendung des Krieges in Syrien zur Auflösung von Fluchtursachen und der Demokratisierung der Region. Der momentane Höhepunkt im Syrienkrieg bewirkt erneut massive Fluchtbewegungen innerhalb von Syrien. Der Westen scheiterte auch bei der Bekämpfung des Terrorismus in Syrien durch Toleranz von Rebellen-hochburgen und der terroristischen Kriegsführung Erdogans, sowie politischer und militärischer Unterstützung an die Türkei.

Radio T: Am 5. März 2020 schlossen Putin und Erdogan einen vorläufigen Waffenstillstand durch das Moskauer Abkommen. Könnte sich dadurch
die Situation zwischen Russland und der Türkei in Syrien entspannen?

Clara: Das Moskauer Abkommen zwischen Putin und Erdogan ist schwammig und widersprüchlich. Es beinhaltet das Ziel der Aufrechterhaltung des Sotschi-
Abkommens vom September 2018. Beide Kriegsparteien haben als Grund für Kampfhandlungen Verletzungen des Sotschi-Abkommens genannt, allerdings scheinen Putin und Erdogan die Bestimmungen des Abkommens unterschiedlich zu interpretieren. Erdogan erklärte, dass die Türkei jeden Angriff des syrischen Regimes erwidern wird u. dass ein „neuer Status in Idlib“ unausweichlich sei. Putin hingegen beruft sich auf den Schutz der Souveränität und der territorialen Gesamt-heit Syriens, was als klare Absage an Erdogans hegemoniale Absichten in Idlib verstanden werden kann. Außerdem konstituierte Putin erneut die Notwendigkeit des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Diese Erklärungen deuten darauf hin, dass der ausgehandelte Waffenstillstand zwischen den beiden Groß-mächten nicht von Dauer sein wird. Ebenso werden im Rahmen des Abkommens viele Streitpunkte offen gelassen, wie zum Beispiel der Umgang mit den inter-nationalen Verkehrswegen M4 und M5, sowie den kürzlich von Assad zurück-eroberten Gebieten nördlich von Aleppo. Perspektivisch kann davon ausgegangen werden, dass Erdogan zur Reorganisierung der hegemonialen Macht der Türkei in Syrien weiterhin versuchen wird, Gebiete zu annektieren, vor allem in Rojava. Was Erdogan mit seiner Forderung nach einem neuen Status für Idlib vorschwebt, ist die Aufrechterhaltung seines Einflusses in der Region. Wenn er Idlib nicht vollständig halten kann, will er zumindest einen Teil des Gebiets einschließlich Efrin, Gire Spi und Serekaniye zum Ausbau seiner politischen und wirtschftlichen Interessen in der Hand behalten. Russland wird seine politische Präsenz in Syrien und im Mittleren Osten beibehalten und weiterhin danach streben, seine politische Einflussnahme in dieser Region zu konsolidieren.

Radio T: Im Zusammenhang mit Erdogans kriegerischen Absichten in Syrien öffnete die Türkei kürzlich die Grenze zu Griechenland für Geflüchtete. Was bedeutet diese Maßnahme für die EU und wie ist die Situation vor Ort?

Coco: Durch die Öffnung der Grenze zu Griechenland durch die Türkei wird das EU-Türkei-Abkommen (2016), der sog. Geflüchtetendeal, faktisch außer Kraft gesetzt. Erdogan benutzt schutzsuchende Menschen als Druckmittel gegen die EU, um militärische Unterstützung und weitere Gelder für die Finanzierung seines Krieges zu erpressen. Derzeit befinden sich ca 13.000 Geflüchtete an der Grenze der Türkei zu Griechenland. Die türkische Regierung betont, dass täglich tausende Menschen hinzukommen können. Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die Türkei aktiv und gewaltvoll Menschen dazu drängt, die Grenze zu Griechenland zu passieren. Das griechische Militär hat bereits zwei schutzsuchende Menschen an der Grenze erschossen und geht mit Schusswaffen, Tränengas und körperlicher Gewalt gegen die Geflüchteten vor. Griechenland hat faktisch das europäische Asylrecht außer Kraft gesetzt und bekannt gegeben, für einen unbefristeten Zeit-raum keine Asylanträge zu bearbeiten. Menschen, die es geschafft haben, die Grenze zu passieren, sind der Gefahr ausgesetzt, direkt durch den griechischen Grenzschutz unter Anwendung von menschenunwürdigen Praktiken zurück in die Türkei abgeschoben zu werden oder mit Angriffen militanter Faschist*innen kon-frontiert zu sein. Seit der Grenzöffnung der Türkei wurden mehrere Angriffe von griechischen Neonazis auf Infrastrukturen von Geflüchtetencamps und Hilfsorgani-sationen dokumentiert. Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von NGOs wurden bereits wiederholt gewaltsam attackiert. Aufgrund der asylpolitischen Haltung der EU zugunsten der Fluchtursachen und zu missgunsten der Geflüchteten in den letzten Jahrzehnten, sowie der Aussetzung des EU-Türkei-Abkommens durch die kürzliche Grenzöffnung erleben wir ein enormes Erstarken der militanten rechts-extremen Bewegungen in Europa, vor allem in EU-Grenzländern. Durch die gesell-schaftliche Toleranz und Ignoranz gegenüber faschistischen Strukturen in Europa, war es diesen möglich, in den letzten Jahrzehnten umfassende Netzwerke aufzu-bauen und eine gemeinsame Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Gewaltbereite Faschist*innen organisieren nicht nur illegale Aktivitäten im Untergrund, sondern verbreiten unter dem Schutz des Parlamentarismus legal ihre menschenverach-tenden Ideologien. Nun mobilisieren Rechtsextreme in ganz Europa an die Außen-grenzen, um die Abschottungspolitik in europäischer Tradition auf eigene Initiative fortzuführen. Die Reaktionen der Bundesregierung und der EU auf die Ereignisse an der türkisch-griechischen Grenze verstärken diese Entwicklungen ideologisch massiv. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dankte Griechen-land dafür, dass „Europäische Schild“ zu sein und sagte weiterhin: „Die Türkei ist kein Feind und Menschen sind nicht nur ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen.“ Basierend auf der Argumentation der Kontrollsicherung und der Verhinderung
von gesellschaftlicher Destabilisierung unterstützt die EU die Abschottungs-
und Aufrüstungsprozesse an der griechischen Grenze. Erst kürzlich bewilligte
die EU 700 Millionen Euro für den griechischen Grenzschutz.

Radio T: Was muss in der Welt passieren, damit der Krieg in Syrien und die neoosmanischen Bestrebungen der Türkei eingedämmt werden können?

Clara: Es gibt keine einfache oder vollständige Antwort auf diese Frage, aber wir teilen die Analyse, dass internationale Phänomene sowohl in ihren Ursachen, als auch in ihren Auswirkungen behandelt werden müssen. Bei der Behandlung von Ursachen des Krieges bedarf es einer grundlegenden Veränderung der politischen Haltung des Westens zum Mittleren Osten, vor allem zur Türkei – hin zu einem lösungsorientierten außenpolitischen Handeln. Es bedarf wirtschaftlicher Konse-quenzen (zum Beispiel der Stoppung laufender Rüstungsexporte u dem Abbruch der Zusammenarbeit mit staatlichen Wirtschaftsakteuren in der Türkei). Bei der Behandlung von Auswirkungen des Krieges bedarf es der sofortigen Öffnung der EU-Grenzen für Schutzsuchende, sowie einer grundlegenden Reorganisierung der europäischen Asylpolitik. Es bedarf einer massiven Verfolgung von IS-Kämpfern und islamistischen Organisationen in Deutschland und auf der ganzen Welt. Allgemein muss jedoch, besonders in Ostdeutschland, der Kampf gegen den Faschismus in den Parlamenten, den Medien und auf Straße kontinuierlich
und ehrgeizig geführt werden.


In diesem Lied geht es um den Widerstand der Guerilla in Kurdistan.


5. BILDUNGSWOCHEN: „ROJAVA – EINE UTOPOIE?

Die Menschen, welche die Veranstaltungen organisieren, wollen gemeinsam mit
den Besucher*innen die verschiedenen Aspekte der Selbstverwaltung und der Freiheitsbewegung kennenlernen und diskutieren. Dazu laden sie alle herzlich ein, zu der Veranstaltungsreihe „ROJAVA – eine Utopie?“, die von März bis Mai an unterschiedlichen soziokulturellen Orten in Chemnitz stattfinden wird.

Themen:
• Einführung Rojava
• Geschichte der kurdischen Bewegung
• Jugendbewegung in der Türkei
• Widerstand in türkischen Foltergefängnissen (Diyabakir)
• Demokratischer Konföderalismus
• Geschichte der Frauenbefreiungsbewegung
• Jineoloji
• Ökologie / Klimagerechtigkeit und Antifaschismus
• BRD und Türkei

Anmerkung: Die Verantstaltungsreihe „Rojava – Eine Utopie?“ wurde aufgrund der Corona-Krise auf unbestimmte Zeit vertagt.

Dreimonatsbilanz der Besatzung von Girê Spî


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 30.Januar 2020

Die Nachrichtenagentur ANHA veröffentlichte eine Dreimonatsbilanz der Besatzung von Girê Spî durch die türkische Armee und Söldner der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA). Aufgrund der am 9. Oktober 2019 einsetzenden Invasion sind mindestens 300.000 Menschen in Nord- und Ostsyrien in die Flucht getrieben worden. Berichte aus der Region zeugen von alltäglichen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Dschihadisten in besetzen Gebieten in Rojava


Vertreibung und „ethnische Säuberung“

Das türkische Regime hat tausende Menschen aus Girê Spî vertrieben und verfolgt das Ziel, die Bevölkerungsstruktur nachhaltig zu verändern. Anstelle der Vertrie-benen wurden Dschihadisten und ihre Familien angesiedelt. Der türkische Staat bezeichnet diese Dschihadisten immer wieder als die ursprünglichen Besitzer der Stadt. Es handelt sich jedoch um Personen aus Azaz, Cerablus, al-Bab und Idlib. Laut ANHA wurden alleine in den Vierteln Leyl und Djawish 180 Familien von Dschihadisten angesiedelt. Außerdem wurden etwa 500 aus dem Gewahrsam der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in die Türkei entflohene IS-Dschihadisten durch den türkischen Staat als SNA-Söldner in Girê Spî eingesetzt. Nach der Bombardierung des Camps Ain Issa durch die türkische Luftwaffe entkommene
IS-Frauen wurden in den Orten Ain Erus, Leyl, Ermen und Cisir angesiedelt.

Türkisierung der Stadt

Die Besatzungstruppen richteten sich zunächst gegen die historischen Strukturen und die wichtigen Institutionen der Stadt. So wurde an allen Schulen Türkisch als verpflichtende Unterrichtssprache eingeführt und muttersprachlicher Unterricht verboten. Straßen, Plätze, Schulen, Krankenhäuser und Dienstleistungs-einrichtungen wurden systematisch nach Dschihadisten oder auch mit militaristischen türkischen Namen umbenannt und vielerorts türkische
Fahnen gehisst. Darüber hinaus wurden türkische Ausweise verteilt,
während Personen mit syrischen Ausweisen festgenommen werden.

Hungersnot in der Stadt

In der Stadt herrscht Hunger und es kommt immer wieder zu Protesten gegen die sich kontinuierlich verschlechternde wirtschaftliche Lage. Die Lebensbedingungen sind katastrophal. Die Versorgung mit Strom und Brennstoff ist nicht gegeben. Insbesondere das Fehlen von Trinkwasser und Brot macht das Leben schwer. Die Menschen müssen Stunden anstehen, um Brot zu erhalten. Die Silos und Lager-stätten der Dorfbevölkerung wurden von den SNA-Söldnern geplündert. So wurden aus dem Lager Dihêz 50.000 Tonnen Getreide gestohlen. Das Qizelî-Depot ist durch die Angriffe unbenutzbar. Diese Politik wird vom türkischen Staat bewusst umgesetzt, um die Menschen in Flucht zu zwingen.

Entführungen und extralegale Hinrichtungen

Immer wieder kommt es zu Entführungen im Zusammenhang mit Lösegeld-erpressungen, aber auch zu extralegalen Hinrichtungen.

So wurden die Söhne des ehemaligen Leiters des Ain-Issa-Camps, Heyen Ayaf (16) und Abdulrahman Ayaf (18), entführt. Die Dschihadisten verlangten ein hohes Lösegeld. Die jungen Männer sind bis heute verschwunden.
Aus dem arabischen Stamm der Abu Asaf wurden zehn Zivilisten verschleppt, aus dem Dorf Dadat Dutzende mehrheitlich turkmenische Jugendliche.
Ein Zivilist, der bei Sukeriye Hilfsgüter an Dorfbewohner verteilte, wurde verschleppt. In Zeydî, etwa 30 Kilometer entfernt von der Gemeinde Silûk, stürmten SNA-Söldner fünf Wohnungen und entführten 20 Personen, die meisten davon Minderjährige. Die anderen arabischen Familien aus dem Dorf wurden vertrieben. Auch im Dorf Ain Erus wurden Häuser gestürmt und eine unbekannte Zahl von Jugendlichen verschleppt. Die SNA-Dschihadisten plündern Läden und ermorden Zivilist*innen. In Erîda wurden Mahmud Zahir (60) und Berho Elo (65) aus bisher unbekanntem Grund getötet. Ein weiteres Beispiel ist der Taxi-Fahrer Ammar Haci, der entführt und von den Dschihadisten grausam ermordet wurde.

Folter und Haft für Kinder und Jugendliche

Aus dem Dorf Celkê wurde Mihemed Bozan Seyid entführt. Er wurde tagelang von den SNA-Milizionären gefoltert. Anschließend sind vier weitere Kinder im Alter von 13 bis 15 Jahren entführt worden. Obwohl das Dorf umstellt war, konnten die übrigen Familien sichere Gebiete bei Ain Issa erreichen. Von den Kindern gibt es keine Nachricht. Nach Angaben lokaler Quellen befinden sich in den Dörfern bei Girê Spî Gefängnisse, in denen Kinder und Jugendliche gefoltert werden.

Frauen zur Verschleierung gezwungen

Mit der Rückkehr der IS-Dschihadisten hat auch die Gewalt gegen Frauen zugenommen. Frauen werden wieder gezwungen, sich zu verschleiern. So kam es beispielsweise im Cisir-Viertel zu einem sexualisierten Angriff durch SNA-Milizionäre. Auf protestierende Anwohner*innen wurde das Feuer eröffnet. Aus dem Dorf Hiwecaye wurden drei Frauen entführt. Yara Ahmed aus der Gemeinde Ain Erus wurde entführt und gefoltert.

Fadiya Şerîf Xelîl aus der Leitung eines Camps für Binnenflüchtlinge aus Girê Spî berichtet ebenfalls, dass sich die Situation für Frauen in den besetzten Gebieten massiv verschlechtert habe. Frauen, die noch in den besetzten Gebieten leben, seien systematischer Gewalt ausgesetzt und keine Menschenrechtsorganisation helfe ihnen.

ANF, Serêkaniyê: Sexualisierte Gewalt durch Besatzungstruppen, 29.01.20

Aufstände unter der Parole „Besatzer raus“

Nach brutalen Angriffen des türkischen Staates haben insbesondere auch arabische Stämme die Region verlassen. Verbliebene Mitglieder des Begare-Stammes waren Angriffen der SNA-Milizionäre ausgesetzt. Nach mehreren Morden haben auch dessen Angehörige die Region verlassen. Dennoch taucht den Wänden der Stadt die Parole „Tod Erdoğan“ und „Besatzer raus“ auf. In Silûk, Ain Erus, Ali Baciliye und im Zentrum von Girê Spî fanden trotz der oft tödlichen Repression Protestaktionen statt. Fawad Ali aus Girê Spî erklärt: „Die arabischen Stämme lehnen die türkische Besatzung ab. Niemand darf gegenüber den Verbrechen des türkischen Staats schweigen. Durch die Entschlossenheit der Völker und ihren Aufstand werden die Besatzer besiegt werden. Die Stämme in Girê Spî müssen ihren Protest gegen die Türkei aufrechterhalten.“

Milizionäre werden nach Libyen geschickt

Ein Teil der SNA-Söldner wird von der Türkei zur Unterstützung des dortigen Muslimbruderregimes nach Libyen geschickt. Nach Angaben aus der Region wurden fast 1.000 Söldner von Girê Spî nach Libyen verlegt. Den islamistischen Truppen wird dafür ein Sold von 2.000 Dollar monatlich versprochen.

Jahresbilanz der YPJ 2019


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 01.01.2020, Jahresrückblick:
Die Rolle der YPJ im Widerstand von Rojava

Die Journalistin Avrîn Masûm vom kurdischen Fernsehkanal Ronahî TV sprach mit Kurdistan Waşokanî, der YPJ-Kommandantin der Euphrat-Region, über die Entwicklungen im Jahr 2019, die Ziele der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien sowie die Pläne der Frauenverteidigungseinheiten YPJ für 2020.

Was waren die wichtigsten Entwicklungen
im vergangenen Jahr in Nord- und Ostsyrien?

Vom Winter 2018 bis zum Frühjahr 2019 haben die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), darunter die YPG und die YPJ sowie alle regionalen Kräfte, am großen Widerstand in der Wüstenregion Deir ez-Zor teilgenommen. Im Frühjahr wurde Daesh („Islamischer Staat“) in der Region al-Bagouz besiegt. Deshalb brachte die Feier des Newroz-Tages die schönste Botschaft an die kurdische Bevölkerung, den Sieg der Freiheitskämpfer*innen. Die Niederlage von Daesh zwang ihre Förderer wie den türkischen Staat, Katar und die imperialistischen Kräfte, neue Pläne zu entwickeln, um Daesh zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen. Der türkische Staat wurde zum Repräsentanten von Daesh, indem er drohte, Rojava und die Regionen Nord- und Ostsyriens anzugreifen. Mit diesen Drohungen sollte Angst in den Herzen der Menschen geschürt sowie die Stabilität und Freundschaft, die sich in dieser Region zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, zerstört werden. Daesh hat durch brutale Enthauptungen Angst verbreitet, der türkische Staat tat dies mit seinen Drohungen und Angriffen.

Mit der Feier von Newroz trafen wir uns als Verteidigungskräfte mit der Bevölkerung in der ganzen Euphrat-Region, um ein neues Leben mit zivilen und militärischen Volksräten aufzubauen. Auf diese Weise wollten wir als militärische Kraft unsere Bevölkerung mobilisieren, sich dem Widerstand anzuschließen und unseren Erfolg gegen Daesh zu sichern. Auf dieser Grundlage begannen wir in allen Bezirken der Euphrat-Region Räte aufzubauen, wie in Tabqa, Raqqa, Minbic, Kobanê und Girê Spî. Unser Ziel war es, die Gesellschaft wieder aufzubauen und zu reorganisieren, die Menschen zu informieren und ihnen das System und die Ideen Rebêr Apos [Abdullah Öcalans] näher zu bringen. Die arabische, kurdische und turkmenische Bevölkerung hat diese Arbeiten mit Freude aufgenommen. Sie sahen darin eine Möglichkeit, in Frieden und auf einer selbst geschaffenen Basis leben zu können.

Rebêr Apo sagte: „Jede Pflanze wächst auf ihren eigenen Wurzeln.” Seit acht Jahren haben sich die Menschen in dieser Region dem enormen Widerstand gegen Daesh angeschlossen und schließlich haben wir Daesh besiegt. Das war eine große Freude für die Menschen in der Region. Deshalb wollen wir dieses Glück in ein System des Lebens, eine Philosophie, eine Idee verwandeln, die wir mit allen Menschen teilen. Alle wollten Lösungen für ihre Probleme in der Region finden und einen neuen Willen als Menschen dieser Region entwickeln.

Welche Rolle haben die Frauen beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und den Selbstverteidigungsräten gespielt?

Wenn du die Frau befreien kannst, kannst du die Gesellschaft befreien. Wenn eine Gesellschaft um Frauen herum aufgebaut wird, entsteht auch eine gewisse Ethik. Das erschreckt die reaktionären Kräfte des dominanten männlichen Systems am meisten. Viele Menschen schauen mit Zweifel auf diese Versammlungen und Räte und fragen sich, ob die Menschen der Region in der Lage sein werden, sich selbst zu verwalten, zu schützen und zu organisieren. Wir, als Kinder und Kämpferinnen dieses Landes, glauben an uns selbst, weil wir eine achtjährige Prüfungsphase bestanden haben. Unsere Prüfung war eine Revolution. Das hat den Wandel unseres Kampfes in eine soziale, kulturelle und politische Revolution ermöglicht. Diese Realität hat Frauen dazu gebracht, an sich selbst zu glauben. Die kurdischen Frauen und auch die arabischen Frauen haben an Moral und Mut gewonnen. Dies ermöglichte es Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen der Region, diese Philosophie besser kennen und verstehen zu lernen und Teil dieses Widerstandes zu werden. Damit gaben sie ihren eigenen Völkern eine Antwort. Das hatte auch großen Einfluss auf die Männer und die arabische Gesellschaft.

In Minbic, Kobanê, Tebqa und Girê Spî sind 50 Prozent der Frauen in den YPJ-Einheiten junge arabische Frauen. Wir wissen, dass in der kurdischen und arabischen Gesellschaft Frauen seit langer Zeit nur als Hausfrauen gesehen wurden, die Kinder aufziehen, Essen zubereiten und die Bedürfnisse der Männer erfüllen. Aber heute haben der Wille der Frauen und ihr Einsatz in den Verteidigungseinheiten eine Angst im Herzen des reaktionären und staatstragenden Mannes ausgelöst. Das schafft großen Mut in den Herzen aller Frauen, die in den Räten die Stimme der eigenen Bevölkerung werden wollen. Der Stolz über ihre Teilnahme bringt ihren natürlichen Willen zum Vorschein. So werden sie zu einem Vorbild für alle Frauen in der Region.

Die Teilnahme der syrisch-arabischen Frauen bei den QSD wurde zu einem Thema, das die Welt interessiert. Der Widerstand dieser Frauen gibt auch den Frauen in anderen Teilen der Welt großen Mut. Die Frauenarmee der YPJ hat das materielle und moralische Erbe der Gesellschaft zurückgewonnen, das der Gesellschaft vorenthalten worden war.

Das Engagement von Führern der arabischen Stammesgemeinschaften hat zu einem größeren Respekt gegenüber den politischen und militärischen Räten geführt. Alle Frauen, sowohl kurdische als auch arabische, spielen eine wichtige Rolle in diesen Räten. Auch die Suryoye-Frauen haben eigene Räte aufgebaut. Sie haben auch anderen Frauen des Mittleren Ostens vorgeschlagen, diese Erfahrungen zu nutzen und sie als Basis für den Widerstand in ihren eigenen Ländern zu nehmen.

Im Jahr 2019 haben sich viele Menschen den Verteidigungskräften angeschlossen, besonders den YPJ. In den Regionen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung arabisch ist, gab es anfangs eine Art Angst vor der Beteiligung von Frauen, weil dadurch meist eine Revolution in der eigenen Familie ausgelöst wird. Die Teilnahme von Frauen an den YPJ findet nicht nur auf militärischer Ebene statt, sondern schafft eine soziale, politische, kulturelle und moralische Revolution. Besonders in feudalen arabischen Gesellschaften, in denen Frauen ans Haus gefesselt sind und ohne Erlaubnis des Mannes nirgendwo hingehen können, bedeutet dies eine grundlegende Veränderung. Heute diskutieren Frauen in ihren Räten soziale und familiäre Fragen. Dass sie politische Fragen diskutieren, um eine Lösung für die Region und für Syrien zu finden, ist eine Revolution an sich. Dies ist der Erfolg der sozialen Revolution, die einen politischen und kulturellen Wandel in der arabischen Gesellschaft ermöglicht hat.

Welche Auswirkungen hat die Beteiligung von Frauen
auf die verschiedenen Teile der Gesellschaft?

Frauen haben mehr an Einfluss gewonnen. Aus der Sicht des Mittleren Ostens findet ein Mann, der in die Armee eintritt, nicht viel Interesse, weil es als Arbeit für Männer angesehen wird. Alle Armeen werden von Männern aufgebaut und Männer haben die Pflicht, zum Militär zu gehen. Aber die Teilnahme von Frauen an den militärischen Verteidigungskräften, insbesondere von arabischen Frauen, ist keine gewöhnliche Sache. Das trägt dazu bei, dass in allen Köpfen eine Revolution ausgelöst wird. Denn die Frauen hatten Augen, konnten aber nicht sehen. Sie hatten eine Zunge, konnten aber nicht sprechen. Diese Situation hat sich nun geändert. Die Frauen sind jetzt zu Vorreiterinnen der Revolution und der Zukunft einer ethischen und politischen Gesellschaft geworden.

2011 begann die Revolution im Mittleren Osten im Namen einer Revolution der Völker. Danach machte sich die Muslimbruderschaft diese zunutze und wollte die Revolution an sich reißen. Sie startete die ersten Angriffe auf Rojava. Aber die Revolution ließ sich nicht ersticken. Trotz der Angriffe des Systems verlor die Revolution hier nicht ihre Hoffnung. Nur in Rojava wurde der Wille der Bevölkerung nicht verfälscht und nicht seiner Essenz beraubt. Gegen die Angriffe Erdogans auf Rojava hat sich die Welt erhoben. Denn Daesh ist der Feind der ganzen Welt und der Menschheit. Es war die kurdische Bevölkerung, die Menschen dieser Region und besonders die Frauen, die gegen Daesh gekämpft haben.

Zur gleichen Zeit haben wir unsere Institutionen aufgebaut. Der Demokratische Syrienrat (MSD) wurde als die Generalversammlung Syriens gegründet, um ein Projekt für ein demokratisches Syrien zu entwickeln, das die Krise überwinden kann. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurden zu ihrer militärischen Kraft. Die Revolution wurde zu einer Revolution im Mittleren Osten und beeinflusste die ganze Welt. Denn generell gibt es gerade einen Mangel an ethischen und politischen Bewegungen. Die europäischen Bewegungen, die behaupten, die ethischsten zu sein, führen oft eine Politik der Täuschung mit sich. Aber Politik ist ein Weg sowie eine Methode des Lebens, die Lösung des Lebens und die Einheit des Denkens und Handelns. Aus diesem Grund hat das Beispiel der Revolution in Rojava und der Aufbau ihrer Institutionen einen großen Einfluss auf die Region gehabt. Hierdurch wurde das kurdische Volk endlich als Menschen in der globalen Gesellschaft akzeptiert.

Was ist das Ziel der Angriffe des türkischen
Staates auf Nord- und Ostsyrien?

Hinter den Angriffen des türkischen Staates auf Rojava stehen diejenigen, die Erdogan die Erlaubnis zum Angriff gegeben haben. Es sind die Kolonialmächte, die kein Lösungsprojekt für den Mittleren Osten haben und die Krise nur vertiefen wollen. Es gibt zwei Hauptkräfte in der Region, die USA und Russland. Sie erkennen die Bevölkerung nicht an. Sie erkennen ihre regionale, soziale, kulturelle und militärische Existenz nicht an. Mit dieser Revolution hat ihnen die Gesellschaft die Augen geöffnet und ist wieder zum Leben erwacht. Diese Mächte lehnen die Autonomie und Eigenständigkeit der Gesellschaft ab. Deshalb haben sie sie in eine Krise gestürzt.

Seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hat die Türkei Angst davor, weitere Gebiete zu verlieren. Die Kurd*innen, Alevit*innen und Armenier*innen fordern immer noch ihre Rechte ein. Aber die Türkei verweigert sie ihnen. Deshalb versucht die Türkei, die kurdische Bevölkerung, die Stabilität und ein autonomes System geschaffen hat, zu beseitigen.

Aber die Bevölkerung akzeptiert die Allianz zwischen Erdogan, Putin und Trump nicht. Die Angriffe gegen Serêkaniyê und Girê Spî haben die Welt dazu gebracht, sich zu erheben und zu erklären, dass dieser Angriff unmoralisch ist. Es ist ein politischer und imperialistischer Angriff. Auch die amerikanische Bevölkerung und der US-Senat haben sich gegen Trump erhoben. Was den Weg für die türkische Invasion geöffnet hat, war die russische und US-amerikanische imperialistische Politik, die keinen Respekt vor der Bevölkerung hat und ohne jegliche Moral, nur nach ihren Profitinteressen handelt. Jeden Tag werden Frauen und Kinder getötet. Sie werden zu Flüchtlingen und leben in Zelten. Der Angriff wurde von den imperialistischen Staaten gegen die Stabilität, den Widerstand und die Kultur der Menschen in unserer Region verübt.


YPJ-Kommandantin Kurdistan Waşokanî
(Foto: YPJ-Generalkommandantur)


Gegen den Einmarsch des türkischen Staates, der sich „Friedensquelle” nennt, haben Sie die Kampagne „Berxwedana Rûmetê” (Widerstand der Würde) gestartet. Welche Rolle spielen die YPJ in dieser Kampagne, besonders in der Euphrat-Region?

Der Name der türkischen Operation ist ein Schwindel. Hitler hat Millionen von jüdischen Menschen im Namen der Gewinnung von Lebensraum vergast. Jeder Diktator und jeder Tyrann benutzt den Namen der Demokratie, um eine Maske zu schaffen, um sein wahres Gesicht zu verstecken. Also nannte Erdogan diese Operation „Friedensquelle”, um sein wahres Gesicht zu verbergen.

In unserem Land gab es keinen Krieg, für den die Türkei den Frieden bringen konnte. Alle lebten friedlich in ihrer Existenz. Es gab keine Probleme unter den Menschen. Derjenige, der das Problem erst geschaffen hat, ist der türkische Staat selbst. Unsere Aufgabe als Bevölkerung der Region und der Verteidigungskräfte war es, die Grenztruppen zu mobilisieren, die Region zu schützen und Räte zu bilden. Unser Widerstand gegen diesen Krieg, der großes Elend über die Menschen gebracht hat, wird fortgesetzt.

Junge kurdische und arabische Frauen haben sich in lebendige Schutzschilde verwandelt. Obwohl die Panzer des Feindes über die Leichen unserer Freundinnen rollten, haben sie ihre Stellungen nicht aufgegeben. Sie haben ihr Land verteidigt. Ihre Haltung war ethisch und kulturell. Das Prinzip der Welatparêzî (Liebe und Schutz des Landes) bedeutete, Widerstand zu leisten, ohne den Tod zu fürchten. Junge kurdische Frauen kämpften bis zum letzten Atemzug für die Würde dieses Landes. Sie sagten ‚Frauen sind nicht eure Ehre, unsere Ehre ist unser Land’. Hunderte von jungen Frauen wie Zin, Amara und Sara opferten sich und verließen ihre Positionen nicht. Als Freiheitskämpferinnen setzen wir unseren Widerstand bis zum Sieg fort, damit alle friedlich auf dem Land Rojavas leben können. Alle unsere Freundinnen und Freunde, Weggefährtinnen und Weggefährten, Genossinnen und Genossen stehen an der Front, um gegen diese illegitimen Angriffe Widerstand zu leisten.

Mit der Invasion des türkischen Staates soll der Willen rebellischer Frauen gebrochen werden, wie wir es bei den Angriffen auf die Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, Hevrin Xelef, und YPJ-Kämpferinnen wie Çîçek Kobanê und Amara Rênas gesehen haben. Wie sehen und bewerten Sie das?

Dieser Krieg wird gegen Frauen, Gesellschaft und Moral geführt. Um diesen Krieg zu beenden und den Sieg zu erringen, hatten wir nie einen Ansatz, der auf dem Konzept unseres Daseins als „Ehre” basiert. Denn als Frauen nehmen wir unsere Ehre als unser Land, unsere Kultur, unsere Ethik und unsere politische Identität wahr. Wir überwinden das feudale Konzept, das die Frau nur als Ehre ansieht. Mittlerweile stehen Hunderte von Frauen an der Front. Bei diesen brutalen Angriffen sind viele unserer Freundinnen gefallen, andere fielen in die Hände des Feindes. Sie wollen unseren Willen und unsere Würde brechen. Aber mit dem Mord an einer Frau geben Frauen nicht auf. Unser Körper kann gefangen genommen werden, aber sie werden niemals in der Lage sein, unsere Herzen und unseren Verstand zu erobern. Wir haben unseren Körper diesem Land geopfert. Das ist der Preis für die Freiheit, denn Freiheit kann nicht ohne einen Preis erreicht werden. Der Feind sagt: „Tötet zuerst die Frauen! Verletzt sie, nehmt sie gefangen!” Damit soll der Willen der Frauen und der Gesellschaft gebrochen werden. Denn Frauen sind die Identität der Gesellschaft und repräsentieren die Prinzipien des Lebens. Durch die Versklavung der Frauen will der Feind unsere Gesellschaft domestizieren und unsere Bevölkerung dazu bringen, den Kopf zu senken. Aber wir sagen zu den Menschen: „Geratet nicht in die Fallen des Feindes!“

Jetzt nehmen neue Kämpferinnen die Namen Hevrin und Amara an und schließen sich den Reihen der Verteidigungskräfte an. Dies ist auch eine starke Reaktion auf Erdogan, der den Willen der Bevölkerung und der freien Gesellschaft brechen will. Durch die Verstärkung der YPJ-Einheiten, die Stärkung und Ausbildung der YPJ-Kämpferinnen geben wir die stärkste Antwort auf diese Angriffe.

Wie reagiert die Bevölkerung der Euphrat-Region auf diese Angriffe?

Die Revolution in dieser Region ist noch nicht sehr alt. Minbic wurde 2016 und Tabqa 2017 befreit. Aber die arabische Bevölkerung in dieser Region wurde zu einem lebenden Schutzschild und übernahm ihre Rolle an der Seite der Freiheitskämpfer. Sie machte keinen Schritt zurück. Die arabische Bevölkerung und alle weiteren Menschen kamen zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen Erdogan zusammen.

Dieser Angriff ist das Ergebnis einer politischen Übereinkunft, denn der Vertrag von Lausanne wird damit beendet und das Staatssystem wird wieder aufgebaut. Aber wir akzeptieren diese politischen Vereinbarungen gegen uns nicht und wir werden uns auch nicht ihren Abmachungen und Geschäften unterwerfen.

Was sind Ihre Pläne für 2020?

Unser Plan für das neue Jahr ist es, unsere Ausbildungen zu stärken. Wir bereiten unsere Kräfte vor und bilden sie aus, damit sie in der Lage sind, diesen Angriffen zu widerstehen und unsere Gesellschaft politisch weiterzuentwickeln. So stärken wir unsere Kommunen und Volksräte. Wir werden tun, was notwendig ist, um uns mit einer revolutionären Philosophie schützen zu können, damit die Revolution wieder aufgebaut und verteidigt werden kann.

Meine letzte Botschaft an die kurdische Bevölkerung ist, dass wir uns gegenseitig stärken, wenn wir uns an dem anhaltenden Widerstand beteiligen. Wir müssen aufhören, kleine Berechnungen in Bezug auf Familien- oder Stammesinteressen anzustellen. Wir müssen unsere nationale Einheit aktiv aufbauen und uns zusammenschließen, um einen gemeinsamen politischen und militärischen Willen zu schaffen.

Wir danken den Menschen auf der ganzen Welt, dass sie uns in unserem politischen, sozialen und ethischen Widerstand gegen diesen Besatzungskrieg begleitet haben. Als kurdische Frauen und Frauen des Mittleren Ostens werden wir weiterhin Schulter an Schulter gegen den Faschismus Widerstand leisten.

Die deutsche Übersetzung des TV-Interviews erschien erstmalig bei Women Defend Rojava.

Übersicht: Kurdische Organisationen und andere Parteien in Kurdistan

Quellen: Civaka Azad, „Revolution in Rojava“ – Flach u.A.

Mit der Auflösung des Osmanischen Reiches und der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 wurde das kur­dische Siedlungsgebiet von den Sieger-mächten des 1. Weltkriegs auf vier Länder aufgeteilt: Türkei, Syrien, Irak und Iran. Wir geben hier einen kurzen Überblick über Organisationen und Parteien in den verschiedenen Teilen Kurdistans sowie ausgewählte türkische Parteien.

Kurdische Bevölkerung in der Geografie Kurdistans, Januar 2019


1. TÜRKEI / BAKUR / NORDKURDISTAN

PKK = Partiya Karkerên Kurdistanê‎ – Arbeiterpartei Kurdistans
gegründet 1978; kämpft für die Selbstbestimmung und demokratischen Rechte der Kurd*innen in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak. Die PKK begann 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat. Seit Beginn der 1990er Jahre ist die PKK intensiv um eine politische Lösung bemüht. Gründer und Vorsitzender: Abdullah Öcalan, 1999 mithilfe ver­schiedener Geheimdienste aus Kenia in die Türkei verschleppt, zum Tode verurteilt, aufgrund internationa­ler Proteste in lebens-lange Freiheitsstrafe umgewandelt und befindet sich seitdem auf der Gefängnis-insel Imrali im Marmarameer, wo er 10 Jahre lang als einziger Gefangener von 1 000 Soldaten bewacht wurde. Sitz und Zentrum der PKK sind die Kandil-Berge im Nordirak. In der Türkei ist sie als terroristische Organisation eingestuft und verbo-ten. In Deutschland wurde die Tätigkeit für die PKK am 26. November 1993 ver-boten. Im September 2017 fällte das Brüsseler Berufungsgericht die Entscheidung, dass die PKK keine Terrororganisation, sondern eine Kriegspartei sei.

YJA-Star = Yekîtîya Jinên Azad Star – Einheiten der freien Frauen
autonome Frauenarmee der PKK, gegründet 1995. Als Frauenarmee wird die Gesamtheit der ausschließlich aus Frauen bestehenden Einheiten der kurdischen Volksverteidigungskräfte (HPG) bezeichnet. Bei diesen Organisationen handelt es sich um Kampfverbände der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

PAJK = Partiya Azadiya Jinan a Kurdistanê –
Partei der Freiheit der Frauen Kurdistans

HPG = Hêzên Parastina Gel – Volksverteidigungskräfte
Selbstverteidigungseinheiten/Guerilla, bewaffnete Einheiten der PKK, gegründet 2000, verstehen sich als Nachfolger*innen der ARGK (Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan – Volksbefreiungsarmee Kurdistans, 1986-2000) und bezeichnen sich
als legitime Verteidigungskraft; HPG und YPG/YPG retteten 2014 Zehntausende Ezid*innen aus dem Sindschar-Gebirge vor dem sicheren Tod durch den IS.

KCK = Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans; überstaatlicher Zusammenschluss der Gemeinschaften Kurdistans, in dem sich im Idealfall die radikaldemokratisch selbstverwalteten Strukturen zusam-menfinden. Verfügt über ein System der Gewaltenteilung und dient der Umsetzung der Konzepte des Demokratischen Konföderalismus und der Verteidigung der kur-dischen Bevölkerung. Die KCK wurde 2007 gegründet und ist hervorgegangen aus der PKK. Seit April 2009 wurden unzählige politische Aktivist*innen in der Türkei festgenommen, wegen angeblicher KCK-Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Organisation angeklagt und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt – unter ihnen Bürgermeister*innen der HDP, Journa-list*innen, Anwält*innen und Gewerkschafter*innen.

HDP = Halkların Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker
Linke, prokurdische, gesamttürkische Partei, konnte erstmals bei den Parla-mentswahlen am 7. Juni 2015 die 10%-Wahlhürde mit 13% überspringen und in Fraktionsstärke ins Parlament einziehen. Auch in den nachfolgenden Wahlen konnte die HDP, trotz enormer staatlicher Repressionen, stets die Wahlhürde nehmen und ihre Wähler*innen im Parlament vertreten.

DBP = Demokratik Bölgeler Partisi – Demokratische Partei der Regionen
gegründet 2014; sie arbeitet zusammen mit HDP, ist allerdings als politische
Partei lediglich in den kurdischen Provinzen aktiv.

DTK = Demokratik Toplum Kongresi – Demokratischer Gesellschaftskongress; Dachorganisation der Volksratsstrukturen
und der Zivilgesellschaft in Nordkurdistan

KJA = Kongreya Jinên Azad – Kongress der freien Frauen
ist die Dachorganisation der autonomen Frauenstrukturen in Nordkurdistan


2. SÜDKURDISTAN / BASÛRÊ / NORDIRAK

Seit dem 1. Golfkrieg wurde diese Region wegen seines Öl- und Wasser-vorkommens sowie seiner geostrategi­schen Bedeutung wichtig. Die Definition dieses Teils Kurdistans als „safe heaven“ gilt heute noch. Nach dem Fall Saddam Husseins 2003 konnte die ihre Autonomie waren. 2005 wurde sie zur „Kurdistan Re­gion of Iraq“ erklärt, verankert in der irakischen Verfassung.

KRG = Kurdish Regional Government; Regierung von Südkurdistan/Nord irak.

PDK = Partiya Demokratiya Kurdistanê – Demokratische Partei Kurdistans
Regierungspartei in der Kurdischen Autonomie Region im Nordirak, vorwiegend
im Kurmancî-Gebiet, gegründet 1946. Seitdem wird dieser Teil Kurdistans vom Barzanî-Clan dominiert. Die Strukturen sind autokratisch; die Regierung pflegt engste Kontakte mit der Türkei. Verfügt über eigene Sicherheitskräfte und Militär – 16 000 Peschmergas („Die dem Tod ins Auge sehen“) bilden Barzanîs Armee. Die PDK kontrolliert die Region um Hewlêr (Erbil) und verfügt über Ableger in Ostkur-distan (Iran), Rojava (Syrien) und Nordkurdistan (Türkei). Die deutsche Bundes-regierung unterstützt die Autonomiere­gion politisch, rüstet die Peschmergas im „Kampf gegen ISIS“ mit deutschen Waffen aus und leistet militäri­sche Ausbildungs-hilfe. Die PDK befürwortet die Angriffe der türkischen Armee seit Ende Juli 2015 auf die PKK und lehnt die kurdische Autonomieregion Rojava ab.

YNK / PUK = Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê – Patriotische Union Kurdistans; wurde 1975 als Ergebnis der Spaltung von der PDK im Exil gegründet und teilt sich weitgehend die Macht mit der PDK in Südkurdistan, vorwiegend im Soranî-Gebiet. Sie verfügt über Militär und Polizei und kontrolliert die Soranî sprechende Region um die Stadt Sulemaniyya (Hauptsitz). Die YNK hat sich mit Rojava solidarisch erklärt und unterstützt die Kurden im Südosten der Türkei.

Bzutinewey Gorran = Bewegung für Wandel
Die Partei GORAN existiert seit 2010 als Abspaltung von der PUK und fand
2013 großen Zuspruch, insbe­sondere für die von ihr propagierte Bekämpfung
von in Südkurdistan bestehender Korruption und Vettern­wirtschaft.

YBŞ = Yekîneyên Berxwedana Şengalê‎ – Widerstandseinheiten Şengals
Bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der ezidischen Region Şengal.
Die YBŞ wurde 2015 als Reaktion auf das Genozid des IS im an der
ezidischen Bevölkerung im August des Vorjahres gegründet.

YJŞ = Yekinêyen Jinên Şengalê‎ – Fraueneinheiten Şengals
Bewaffnete autonome Fraueneinheiten der ezidischen Region Şengal


3. ROJAVA / WESTKURDISTAN / NORDSYRIEN

Im Jahre 2012 hat die kurdische Bevölkerung in Syrien mit der Umsetzung des Modells des Demokratischen Konföderalismus und der Demokratische Autonomie in Rojava begonnen. Rojava bestand anfangs aus den drei Kantonen: Efrîn im Westen, Kobanê im Nor­den und Cizîrê im Osten. Die AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoĝan will mit allen Mitteln eine Etablierung dieses Projektes verhindern. Deshalb hat die türkische Armee gemeinsam mit ihren dschihadistischen Partnern 2018 Efrîn und seit Oktober 2019 weitere Gebiete im Kanton Cizîrê besetzt. Im Zuge des Kampfes gegen den sogenannten Islamischen Staat ist es den Selbstverteidigungskräften Nordsyriens gelungen weitere Gebiete zu befreien. Heute wird das radikaldemokratische Gesellschaftsmodell nicht allein in den kurdisch-dominierten Gebieten Nordsyriens praktiziert, sondern auch in mehrheitlich arabischen Regionen wie Raqqa und Deir ez-Zor umgesetzt.

DFNS = Demokratische Föderation Nordsyrien (früherer Name der Selbstverwaltung in Rojava), jetzt Rêveberiya Xweser a Bakur û Rojhilatê Sûriyeyê – „Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien – Rojava“

QSD / SDF = Quwetên Suriya Dimokratîk – Demokratische Kräfte Syriens – Syrian Democratic Forces; militärisches Bündnis zur Verteidigung der selbst-verwalteten Gebiete in Rojava und Syrien. Militärbündnis von YPG/YPJ sowie mehren arabischen, christlichen, turkmenischen, assyrischen und ezidischen Milizen, offizieller Bestandteil der internationalen Anti-IS Koalition und die einzige Kraft, die am Boden gegen DAIŞ kämpft. Sie sind der Autonomieverwaltung von Nord- und Ost-Syrien unterstellt. Das Militärbündnis SDF besteht derzeit aus den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und den Frauenverteidigungs-einheiten (YPJ),der Kurdischen Front (Dschabhat al-Akrād), der kurdisch-turkmenischen Einheit Katāʾib Schams asch-Schimāl, der sunnitisch-arabischen Armee der Revolutionäre (Dschaisch ath-Thuwwar), der sunnitisch-arabischen Schammar-Stammesmiliz Quwat as-Sanadid und der sunnitischen Rebellen-brigade ar-Raqqa (Liwa Thuwar al-Raqqa), den Al-Dschasira-Brigaden und der Lîwai 99 Muşat sowie dem assyrisch-aramäischen Militärrat der Suryoye (MFS).

YPG = Yekîneyên Parastina Gel – Volksverteidigungseinheiten
Verteidigungskraft von Rojava. Verteidigen mittlerweile auch die ezidische Bevölkerung auf den Şengal-Bergen, besteht aus Frauen und Männern.
Die YPG ist Teil der QSD.

YPJ = Yekîneyên Parastina Jinê – Frauenverteidigungseinheiten
Verteidigungskraft von Rojava. Wie auch die YPG verteidigen mittlerweile
auch sie die ezidische Bevölkerung auf den Şengal-Bergen. Die YPJ ist
als reine Frauenarmee Teil der QSD.

YBŞ = Yekîneyên Berxwedana Şengalê – Widerstandseinheiten Şengals

YJÊ = Yekîneyên Jinên Êzîdxan – Einheiten der ezidischen Frauen

HRE = Hêzên Rizgariya Efrînê – Befreiungskräfte Efrîns – Afrin
Liberation Forces
; erstmalig im Dezember 2018 in Erscheinung getreten,
mit der Ankündigung, eine neue Taktik im Kampf gegen die tükisch-
dschihadistische Besatzung Êfrins anzuwenden. Seitdem haben diverse erfolgreiche Aktionen in Şehba und Efrîn stattgefunden.

IFB = International Freedom Bataillon – Internationaler Freiheitsbataillon
autonome Einheit innerhalb der YPG als Verband aller sich den Kämpfen anschließenden Internationalisten*innen

HPC = Hêzên Parastina Cewherî – Selbstschutzeinheiten
Aufgaben sind bspw., die Straßen und Stadtviertel zu kontrollieren. In den HPC
sind Zivilist*innen aller Altersstufen. Sie unterstützen die Asayîş (polizeiähnliche Schutzkräfte der Selbstverwaltung mit ca 15.000 Mitarbeiter*innen) und sind Teil des systematischen Verteidigungsnetzes Rojavas. Die autonome Frauenstruktur bei den HPC sind die HPC-Jin (Frauenverteidigungskomitees).

MFS = Mawtbo Folhoyo Suryoyo – Militärrat der Suryoye
Verteidigungskraft von Rojava, assoziiert mit YPG und YPJ.

TEV-DEM = Tevgera Cîvaka Dimokratîk – Bewegung für eine demokratische Gesellschaft ist die Organisierung der Selbstverwaltung (Kommunen, Räte, Koordination) sowie ihrer Exekutivinstitutionen in Rojava und das koordinierende Organ des Volksrats Westkurdistan (MGRK). Die TEV-DEM gibt es auf der Gebietsebene und für ganz Rojava. Sie umfasst auch die sie unterstützenden politischen Parteien, diverse NGOs, soziale Bewegungen und Berufsverbände.

MGRK = Meclîsa Gel a Rojavayê Kurdistanê – Volksrat Westkurdistan
im Jahr 2011 gegründete Rätestruktur in Rojava und Syrien. Die Initiative ging
von der PYD aus, inzwischen unterstützen mindestens fünf weitere Parteien
den MGRK. Der MGRK besteht aus vier Ebenen. Die TEV-DEM ist seine
Koordination auf den beiden oberen Ebenen.

Kongreya Star = Dachorganisation der autonomen Frauenstrukturen in Nordsyrien/Rojava; 2005 gegründet unter dem Namen Yekîtiya Star
(Verband der Frauen Star); Frauenorganisation in Rojava, welche die
Frauenräte organisiert, Frauenakademien und andere Fraueneinrichtungen
betreibt (Organisationsmuster wie TEV-DEM).

YCR / YJC = Jugendbewegung in Rojava

PYD = Partiya Yekitîya Demokrat – Partei der demokratischen Einheit
aktiv in Rojava/Westkurdistan-Nordsyrien; 2003 gegründet. Die PYD ist
die größte politische Partei der Kurd*innen in Rojava/Syrien und ist eine
Vertreterin der Demokratischen Autonomie.

MSD = Meclîsa Suriya Dimokratîk – Rat des demokratischen Syriens
Politisches Bündnis verschiedener Volks- und Religionsgemeinschaften in Syrien, die sich im Sinne eines demokratischen und föderalen Syriens organisieren.

Jabhat al Akrad = Kurdische Front
Kurdische Verteidigungseinheit, welche die kurdische Bevölkerung außerhalb Rojavas schützen soll und versucht mit der FSA stellenweise zusammen zu arbeiten. Unter anderem bei der Vertreibung des IS aus Azaz. Am 16.8.2013 wurde Jabhat al Akrad wegen der angeblichen Beziehung zur PKK aus dem Militärrat der FSA von Aleppo ausgeschlossen, nachdem FSA und dschihadistische Gruppen eng gegen die Selbstverwaltung in Rojava kollaboriert hatten.

NCC oder NCB = National Coordination Body – Nationales Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel
ein Oppositionsblock, der aus zehn linksgerichteten politischen Parteien und drei kurdischen Parteien sowie unabhängigen politischen Aktivist*innen einschließlich von Jugendaktivist*innen besteht. Das NCC und der SNC bilden zusammen die zwei Hauptfraktionen der syrischen Opposition. Der NCC steht in Konkurrenz zum SNC und NC, möchte eine friedliche Überwindung des Regimes und stellt sich gegen Konfessionalität und Nationalismus. Insgesamt umfasst das Komitee vor allem säkulare und nationalistische Gruppen, unabhängige Dissidenten und kurdi-sche Parteien, die alle ihre Basis innerhalb Syriens haben. Zu jenen gehören die PYD und ein Ableger der Syrischen Kommunistischen Partei.

ENKS = Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê – Kurdischer Nationalrat in Syrien; im Oktober 2011 gegründetes Bündnis, das von der PDK Barzanîs und nahestehenden Parteien dominiert wird.

PDK-S = Partiya Demokrata Kurdistan a Sûriye – Demokratische Partei Kurdistan-Syrien
; gegründet 1956, ist die größte Mitgliedspartei im Kurdischen Nationalrat (ENKS), welche mit der Demokratischen Unionspartei (PYD) Teile Nordsyriens regiert. Derzeitiger Vorsitzender ist Abdulhakim Bashar, welcher
auch im Vorstand der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte (NC) ist. Die Partei steht der von Masud Barzani geführten Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) im Nordirak nahe.


4. ROJHILAT / OSTKURDISTAN / IRAN


PJAK = Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê – Partei für ein freies Leben in Kurdistan
; militante kurdische Untergrundorganisation im Iran mit Stützpunkten im Nordirak; eine Schwesterorganisation der PKK. Sie führt einen bewaffneten Kampf für mehr Autonomie der Kurden im Iran und wurde im April 2004 in den Kandil-Bergen des Nordirak gegründet. Sie ge­hört dem Dachverband der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) an. Sie strebt eine Zusammenarbeit mit der iranischen Opposition an, was sich bis heute schwierig gestaltet. Zahlreiche PJAK-Kämpfer*innen wurden in den vergangenen Jahren zum Tode verurteilt und hingerichtet. 2009 wurde die PJAK auf die US-Terrorliste gesetzt.

KODAR = Demokratische und freie Gesellschaft Ostkurdistans
Organisierung der Selbstverwaltung (Kommunen, Räte, Koordination)
sowie ihrer Exekutivinstitutionen in Ostkurdistan.

5. DIASPORA – Kurdische Gemeinschaft außerhalb von Kurdistan

KNK = Kongreya Neteweyî ya Kurdistanê – Kurdischer Nationalkongress
im Mai 1999 gegründet, Sitz in Brüssel; Bündnis Kurdischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen und Exilorganisationen.

Literaturempfehlungen


1. LITERATURLISTE VON CIVAKA AZAD

https://civaka-azad.org/service/literaturliste/

Civaka Azad, das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, hat eine umfang-reiche Literaturliste veröffentlicht. Die verschiedenen Literaturempfehlungen sind in folgenden Kategorien gelistet:

Kurden und Kurdistan allgemein
Kurdische Frage und Befreiungsbewegung
Abdullah Öcalan – Gefängnisschriften
Frauen, Frauenfrage und Frauenbewegung
Demokratischen Konföderalismus
Rojava-Revolution – Nordsyrien
Nordkurdistan
Südkurdistan
Ostkurdistan
Geografie und Ökologie
Literarische Werke
Wissenschaftliche Studien


2. BÜCHER VON ABDULLAH ÖCALAN

Abdullah Öcalan, 1997

Abdullah Öcalan ist der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der ideologische Vorreiter der kurdischen Bewegung. Seit seiner illegalen Verschleppung von Geheimdiensten im Jahr 1999 und der anschließenden Inhaftierung und Isoliation auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali verfasste Öcalan zahlreiche Bücher, welche zumeist in Form von Verteidungsschriften veröffentlicht wurden. Seine Analysen, Ideen und Prinzipien prägen bis heute maßgeblich die kurdische Befreiungsideologie, die praktische Umsetzung der Revolution in Rojava und internationalistische Demokratiebewegungen auf der ganzen Welt. Die Übersetzungen von Abdullah Öcalan’s Büchern in westliche Sprachen wurden in Kooperation mit verschiedenen Publikator*innen veröffentlicht in der „International Initiative Edition“ der internationalen Initiative „Freedom for Ocalan – Peace in Kurdistan“. Auf dieser Seite findet ihr Bücher und Broschüren in 15 verschiedenen Sprachen, welche erworben oder meist auch als PDF-Datei heruntergeladen werden können.

http://ocalanbooks.com/#/


3. GEGEN POLITISCHE ZENSUR UND DIE EINSCHRÄNKUNG DER MEINUNGSFREIHEIT! DAS VERBOT DES MEZOPOTAMIEN VERLAGES

Am 12. Februar 2019 ist die in Neuss ansässige Mesopotamien Verlagsgesellschaft mbH vom Innenministerium per Erlass wegen angeblichen Verstoßes gegen das VEreinsrecht verboten worden. Der kurdisch geführte Verlag hat Bücher in verschiedenen Sprachen zu kurdischer Geschichte, zur kurdischen Frauenbewegung, die Schriften von Abdullah Öcalan, sowie Romane, Wörterbücher, Kinderbücher und vieles mehr veröffentlicht. Außerdem hat der Verlag Bücher auf Türkisch und Kurdisch aus anderen Verlagen vertrieben, darunter viele Klassiker der Weltliteratur. Keines dieser Bücher des Mesopotamien Verlags ist in der Vergangenheit in Deutschland verboten oder auch nur in irgendeiner Weise beanstandet worden. Dennoch wurden sie tonnenweise beschlagnahmt, sodass sie für den Buchhandel und Leser*innen nicht mehr erreichbar sind. Das werten wir als politische Zensur durch die Hintertür.

Die wichtigsten der deutschsprachigen Titel des Mezopotamien Verlags werden nun als „Edition Mezopotamya“ von den drei Verlagen Unrast (BRD), Mandelbaum (Österreich) und Edition 8 (Schweiz) neu aufgelegt. Herausgegeben wird die „Edition Mezopotamya“ von einem Kreis namhafter Persönlichkeiten aus Politik und Medienlandschaft, Buchhandlungen und Verlagen, die sich damit entschieden gegen Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit stellen.

Wir sind solidarisch mit den im Rahmen der Repression gegen den Mezopotamien Verlag betroffenen Personen und unterstützen die Forderungen gegen staatliche Zensur und für Medien- und Meinungsfreiheit. Wir sehen die Verfügungen gegen den Mezopotamia Verlag und gegen MIR Multimedia GmbH als Angriff auf die kurdische Kultur und Identität in der BRD, als Fortführung der repressiven Kurd*innen-Politik der Bundesregierung und als weiteren Beweis für die Teilhabe des Staates an der türkischen Unterdrückungspolitik gegenüber Kurd*innen.

Jedes dieser Bücher ist absolut lesenswert!

https://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/reihen/edition-mezopotamya

Spendenkonto:
Verein z. Förderung kurdischer Kultur e.V. i.Gr.
IBAN: DE78 4306 0967 1011 1214 00
Verwendungszweck: Edition Mezopotamya

Weitere Informationen:

Erneuter Angriff auf die Presse- und Publikationsfreiheit! (ANF, März 2018)
„Gelten Bücher und Musik in Deutschland als terroristisch?“ (ANF, Februar 2019)
Medienschaffende fordern Verbotsaufhebung (ANF, April 2019)
Förderung kurdischer Kultur als „PKK-Aktivität“ verboten (ANF, Juni 2019)


4. BUCHTIPP: REVOLUTION IN ROJAVA – FRAUENBEFREIUNG UND KOMMUNALISMUS ZWISCHEN KRIEG UND EMBARGO

Flach, Ayboga, Knapp – Revolution in Rojava

https://www.rosalux.de/publikation/id/4142/revolution-in-rojava/
(Buch als Printausgabe käuflich, als PDF frei verfügbar)

Unter erschwerten Bedingungen gelang es den Autor*innen dieses Buches, sich im Mai 2014 vier Wochen lang im Kanton Cizîre aufzuhalten und zahlreiche Gespräche zu führen. Ihre Eindrücke und Recherchen sind Inhalt dieses Buches. Wenige Monate nach ihrer Abreise rückte der Kanton Kobanî über Wochen ins Zentrum des Weltinteresses. Der IS griff Kobanî in der Hoffnung an, die Stadt in wenigen Tagen einnehmen zu können. Doch der aufopferungsvolle Widerstand der kurdischen Verteidigungskräfte YPG/YPJ konnte die Angreifer aufhalten und sie nach mehrmonatigen Kämpfen vertreiben – auch dank der auf Druck der Weltöffentlichkeit unternommenen Luftangriffe durch die von den USA geführte Koalition. Am 1. November 2014 beteiligten sich weltweit Hunderttausende an Solidaritätsaktionen mit Kobanî. Während sich zunächst die meisten fragten, woher im Mittleren Osten «plötzlich» bewaffnete Fraueneinheiten kamen, die das Patriarchat radikal infrage stellen, richtete sich das Interesse später immer stärker auch auf das gesellschaftliche Modell, welches diesen Umbruch beförderte. Die Demokratische Autonomie wird von immer mehr Menschen als wirkliche Alternative gesellschaftlicher Organisierung im Mittleren Osten betrachtet.

Dieses Buch liefert eine umfassende Übersicht über die Revolution in Rojava mit all ihren Errungenschaften, die historisch-politischen Kontextbedingungen und die konkrete Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus. Besonders für Leser*innen, die sich intensiver mit der Befreiungsbewegung in Syrien beschäftigen wollen, ist dieses Buch ein optimaler Einstieg.


5. BUCHTIPP: FRAUEN IN DER KURDISCHEN GUERILLA

Anja Flach – Frauen in der Kurdischen Guerilla

Die kurdische Frauenbewegung stellt die am wenigsten untersuchte, zugleich aber aus vieler Sicht eine der interessantesten Komponenten des kurdischen Befreiungskampfs dar. Frauen in Kurdistan sind einer mehrfachen Unterdrückung ausgesetzt: Als Frauen in einer feudalen islamisch-patriarchal geprägten Gesellschaft, als Kurdinnen in einem besetzten Land und meist auch als Mitglieder einer Unterschicht. In den deutschen und europäischen Medien sind kurdische Frauen in letzter Zeit zunehmend als Opfer von „Ehrenmorden“, Zwangsheirat etc. präsent. Was hierzulande jedoch nur die wenigs­ten wissen: Kurdische Frauen haben die vielleicht größte linke Frauenbewegung im Mittleren Osten, stellen ca. 40 % der GuerillakämpferInnen der PKK und verfügen über eine eigene Armee. Zum ersten Mal ist jetzt eine umfassende wissenschaftliche Arbeit über die kämpfenden Frauen in den Bergen Kurdistans erschienen; geschrieben von Anja Flach, die selbst einige Jahre in der kurdischen Guerilla verbracht hat.

Anja Flachs Buch stellt in vielerlei Hinsicht ein Novum dar. Sie hat mit der Veröffentlichung ihrer überarbeiteten Magisterarbeit für den Fachbereich Ethnologie einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Literatur zur kurdischen Frauenbewegung und zum Befreiungskampf geschaffen. Es ist die erste umfassende wissenschaftliche Arbeit explizit über die kurdische Frauenarmee in deutscher Sprache. Die Besonderheit dieser Untersuchung sind die zwei wesentlichen methodischen Säulen. Die Arbeit beruht einerseits auf Flachs teilnehmenden Beobachtungen, die sie selbst in den 1990er Jahren im Guerillagebiet machen konnte, und andererseits auf den umfassenden Interviews mit Kämpferinnen des kurdischen Freiheitskampfs. Der Autorin geht es nicht darum, die Frauenbefreiungsideologie der PKK/PAJK darzustellen, deswegen geht sie wenig auf die ideologischen Aspekte und Diskussionen ein. Diese Arbeit befasst sich erstmalig mit den Stimmen, Einschätzungen und Erfahrungen von Frauen, die sich dem Guerillakampf angeschlossen haben, um für ihre Überzeugung zu kämpfen, und sich damit aktiv gegen die zugeschriebene Opferrolle stellen. Der Autorin gelingt es, den LeserInnen einen umfassenden Einblick in den Alltag der Frauen und ihre Sichtweise auf den Kampf zu ermöglichen. Es schafft die Möglichkeit, sich mit einer sehr starken und aktiven Frauenbewegung im Mittleren Osten auseinanderzusetzen.


6. BROSCHÜRE: TROTZ ALLEDEM. 25 JAHRE PKK-BETÄTIGUNGSVERBOT – REPRESSION UND WIDERSTAN

Aus Anlass der seit 25 Jahren bestehenden Kriminalisierungspolitik gegenüber Kurdinnen und Kurden in Deutschland, hat AZADÎ mit Unterstützung der Roten Hilfe erneut eine Broschüre erstellt.

Im Vorwort der vorrausgegangenen Broschüre zum 20-jährigen PKK-Verbot hatten die Autor*innen ihre Hoffnung ausgedrückt, dass allen eine Aktualisierung der Chronologie in weiteren fünf Jahren erspart bleiben möge und das PKK-Verbot (schlechte) Geschichte sei. So ist es nicht gekommen. Im Gegenteil verschärfte sich die Situation erneut. Das hat AZADÎ veranlasst, die vergangenen fünf Jahre in den Fokus zu nehmen und nachzuvollziehen, welche Ereignisse zu den heutigen Verhältnissen geführt haben. Weil in der kurdischen Frage nichts isoliert betrachtet werden kann und sie eine internationale Dimension hat, befasst sich der erste Beitrag ausführlich mit den Entwicklungen in der Türkei, in Syrien und in der BRD seit 2013/14.

In weiteren Beiträgen nehmen Rechtsanwälte Stellung zu den Grundlagen der politisch motivierten Verfahren nach §§129a/b StGB sowie der Verbotserweiterung des BMI (Bundesministerium des Inneren) vom März 2017. Duran Kalkan, Mitglied des PKK-Exekutivrats, hat sich in einem langen Interview mit Civaka-Azad zu der Rolle Deutschlands im Zusammenhang mit dem türkisch-kurdischen Konflikt auseinandergesetzt. Er gehörte zu jenem Kreis kurdischer Exilpolitiker*innen, die im ersten großen „Düsseldorfer Prozess“(1989 – 1994) angeklagt und verurteilt wurden. Wir haben dieses Gespräch stark gekürzt und uns auf die politischen Hintergründe und Duran Kalkans Einschätzung der deutschen Kriminalisierungspolitik konzentriert.

Zentraler Teil der rund 130 Seiten umfassenden Publikation bildet die Chronologie der Ereignisse von September 2013 bis Ende Juli 2018.

Die Broschüre ist auf Anfrage bei der Roten Hilfe gegen Erstattung der Versandkosten erhältlich.