Quelle: Civaka Azad – Die Furcht vor dem demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaftssystem (Januar 2020)
Die Phase des türkischen Besatzungskrieges in Cerablus, Azaz, Efrîn und später in ganz Rojava begann im Wesentlichen am 19. Dezember 2018, dem Tag, an dem US-Präsident Donald Trump den Rückzug aus Syrien ankündigte. Infolge dieser mit den US-Verantwortlichen vor Ort unabgesprochenen Erklärung trat der US-Sonderbeauftragte für die internationale Koalition gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS), Brett McGurk, zurück. An seine Stelle wurde der ehemalige US-Botschafter in Ankara, James Jeffrey, gesetzt. Jeffrey hat vom ersten Tag an mit seinen Erklärungen und Entscheidungen eine völlig andere Linie in Bezug auf Nordsyrien und Rojava gefahren als Brett McGurk, indem er die aggressive Besatzungspolitik der Türkei unterstützte.
Der klarste Ausdruck dessen ist der Plan der »Sicherheitszone«, gänzlich eine Idee von James Jeffrey. Er kam zusammen mit einer Delegation am 22. Juli 2019 zu einem dreitätigen Besuch nach Ankara, bei dem er mit türkischen Staatsvertretern das Thema der Sicherheitszone in Nordsyrien besprach. Parallel dazu führte er auch Gespräche mit den Kurden in Syrien und traf sich mit Kommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und der Selbstverteidigungskräfte von den YPG.
Im Rahmen dieser Gespräche wurde Anfang August beschlossen, einen gemeinsamen Sicherheitsmechanismus zu entwickeln, um die »sichere Zone« aufzubauen. Es wurden Vereinbarungen getroffen, denen zufolge fünf Kilometer hinter der türkischen Grenze Verteidigungsmaßnahmen wie Stellungen, Kanäle, Barrikaden und Tunnel zerstört und die dort befindlichen schweren Waffen zurückgezogen werden sollten. Dementsprechend wurden die Stellungen und Verteidigungssysteme mit Baumaschinen niedergerissen, QSD und YPG zogen ihre schweren Waffen aus Serê Kaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) zurück. Im Rahmen dieses Mechanismus unternahmen die Türkei und die USA im kurdisch kontrollierten Norden Syriens Patrouillenflüge und auf dem Land gab es gemeinsame Patrouillen entlang der Grenze.
Auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. September hielt der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan eine Rede, in der er seine Pläne der ethnischen Säuberung, die den UN zufolge als Kriegsverbrechen gilt, offen zur Sprache brachte und seinen Rojava-Besatzungsplan mithilfe einer Landkarte Syriens illustrierte.
Erdoğan erklärte, dass die Vorbereitungen zur Sicherheitszone zusammen mit den USA durchgeführt werden würden, und führte aus: »Östlich des Euphrats können wir eine sichere Zone einrichten. Dort können wir die Flüchtlinge ansiedeln. Wir können drei Millionen Syrer zurück in ihre Heimat bringen.« Diese dreiste und anmaßende Haltung Erdoğans, der von der Besetzung Syriens zum Zwecke der Ausdehnung der türkischen Grenzen so sprach, als sei es das Natürlichste auf der Welt, fand in der UN-Generalversammlung keine ernsthafte Reaktion und ist als schändliche Haltung in die Geschichte eingegangen.
Am 13. Oktober 2019 erklärte US-Präsident Trump gegenüber FoxNews: »Die Türken und Kurden bekriegen sich seit Jahrhunderten, sollen sie weitermachen. Die Kurden können den Luftangriffen der Türkei nichts entgegensetzen und müssen sich von der Grenze zurückziehen. Die Zeit unserer Rückkehr ist gekommen. Wir werden Syrien verlassen.«
Einzigartiges »Waffenstillstandsabkommen«
Das war die Entscheidung, die von den USA seit 2014 geführte Koalition gegen den IS in der Region zu beenden. Auf diese Weise haben die USA die von Erdoğan und anderen türkischen Vertretern seit Monaten geäußerte Drohung gegenüber Rojava überhört und dem Angriff den Weg geebnet. So zogen sie einen Tag vor dem Angriff ihre Soldaten aus Serê Kaniyê und Girê Spî ab und beendeten offiziell und de facto die Zusammenarbeit mit den QSD.
Das zwischen den USA und der Türkei am 16. Oktober 2019 getroffene »Waffenstillstandsabkommen« ist hierbei einmalig in der Geschichte. Es wirkt wie ein lächerlicher Taschenspielertrick, dass zwei Staaten, die sich nicht gegenseitig bekriegen und sich sowohl im gleichen Lager befinden als auch NATO-Partner sind, ein »Waffenstillstandsabkommen« abschließen.
Die USA, die die türkische Besatzung genehmigten, veröffentlichten im Rahmen des Treffens mit türkischen Staatsvertretern in Ankara einen Text, in dem in 13 Punkten die »Besatzung« legitimiert wird. Nach dem Treffen erklärte Trump, die Kurden müssten aus ihren Gebieten geschafft und nach Deira Zor gebracht werden: »Der Waffenstillstand läuft gut. Es ist Zeit, dass die Kurden in die Ölgebiete gehen. Sie gehen in neue Gebiete. Das Öl ist gesichert.«
»Waffenstillstandsabkommen« ist gleichzeitig ein Friedensvertrag mit den dschihadistischen Gruppen
Dieses Abkommen legitimiert die Besetzung Rojavas durch die Türkei und den IS. Es legt die türkische Besatzung auf syrischem Boden fest und sieht vor, dass die Kurden entlang der türkisch-syrischen Grenze in einer Tiefe von 35 Kilometern aus der Region vertrieben werden. Das zwischen den USA und der Türkei getroffene »Abkommen« zur Waffenruhe sieht für beide keinerlei Pflichten vor. Nicht der Besatzer wird dazu angehalten, sich zurückzuziehen, sondern die Gesellschaft, deren Territorium besetzt wird, und deren Selbstverteidigungskräfte werden dazu gezwungen, sich zurückzuziehen.
Das von bilden Staaten vereinbarte »Waffenstillstandsabkommen« ist gleichzeitig ein Friedensvertrag mit den dschihadistischen Gruppen, die zuvor von den USA als terroristisch erklärt worden waren. Denn abkommengemäß ziehen sich die Kurden 35 km von der Grenze zurück und Mitglieder der dschihadistischen Gruppen und deren Familienangehörige sollen dort angesiedelt werden.
Das am 22. Oktober 2019 in Sotschi nach dem Treffen zwischen Putin und Erdoğan verabschiedete 10-Punkte-»Abkommen« hat die »Waffenstillstandsvereinbarung« bestätigt. Russland erklärte entsprechend den türkischen Forderungen, dass sich die Kurden 35 Kilometer von der Grenze zurückziehen müssten und die Besatzung durch den türkischen Staat und die zuvor als terroristisch erklärten Gruppen in Rojava und Nordsyrien unterstützt werde.
Das in Russland unterzeichnete Sotschi-Abkommen hat die Verantwortung zum Schutz der territorialen Einheit und politischen Souveränität Syriens nicht der syrischen Armee, sondern der »Syrischen Nationalarmee« (SNA) übertragen, die aus von der Türkei abhängigen Gruppen zusammengesetzt ist. Somit bestätigte Russland die Legitimität der als Syriens Nationalarmee betitelten »Armee«, die aus Gruppen von Al-Qaida, Al-Nusra, Ahrar al-Scham und IS besteht.
Zusammenfassend ist festzustellen: Der türkische Staat hat zusammen mit seinen dschihadistischen Verbündeten mit Zustimmung und Unterstützung Russlands und der USA Rojava besetzt. Die USA haben ihre Soldaten zurückgezogen und ihre Stützpunkte aufgelöst. Die Kurden schlossen daraufhin mit Syrien und Russland eine Vereinbarung über die gemeinsame Verteidigung der Grenzen. Doch Syrien schickte seine Soldaten nicht an die Grenze und wartete auf die Realisierung der Besatzung.
Im Zuge der Angriffe der Türkei haben die USA und Russland den syrischen Luftraum für die türkischen bewaffneten Drohnen und Kampfflugzeuge geöffnet und somit der Überlegenheit der QSD und YPG/YPJ über die türkische Armee am Boden ein Ende gesetzt. Dadurch bekamen die türkische Armee und ihre dschihadistischen Verbündeten die Möglichkeit, mithilfe von Luftangriffen vorzurücken.
UNO, USA und Russland scheinen sich darüber verständigt zu haben, der Türkei eine mögliche »Sicherheitszone« an der Grenze zu übergeben. Die Besuche Erdoğans am 22. Oktober in Russland und am 13. November in den USA verfolgten das Ziel, diese Besatzungspläne auszuweiten.
Strategische Allianz zur Zerschlagung der Selbstverwaltung in Rojava
Die Besatzung der Türkei zuerst in Cerablus und Azaz, Efrîn und nun in Girê Spî und Serê Kaniyê geschah nicht trotz der USA und Russland, sondern mithilfe ihrer Zustimmung und Unterstützung. So wurde die Verbindung zwischen den Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê getrennt und das in Rojava aufgebaute System der demokratischen Selbstverwaltung physisch und de facto auseinandergerissen.
Die USA, Russland, die Türkei und Syrien stecken beim Thema der Zerschlagung der Selbstverwaltung in Rojava von Anfang an in einer strategischen Allianz. Die erneute Integration der Türkei in Syrien durch die USA und Russland hängt damit zusammen.
Während des Verfassens dieser Zeilen fand am 3. und 4. Dezember der NATO-Gipfel in London statt. Die Türkei hatte vorab erklärt, den von der NATO angesichts der Russland-Gefahr vorgesehenen Baltikum-Verteidigungsplan blockieren zu wollen. Die Türkei zielte darauf ab, vor den Diskussionen über den Baltikum-Verteidigungsplan die Differenzen innerhalb der NATO auszunutzen, um die Besatzung in Nordsyrien in eine gemeinsame »NATO-Besatzung« umwandeln zu lassen. Türkische staatliche Vertreter erklärten, die für das Baltikum und Polen vorgesehene NATO-Verteidigung müsse auch für die Türkei gewährleistet werden. Man werde den Baltikum-Plan angesichts der Gefahren an der syrischen Grenze nicht akzeptieren, wenn die YPG nicht in die Terrorliste aufgenommen werden würden. Wenn die Türkei diese Sichtweise durchsetzt und die NATO in einer gemeinsamen Entscheidung PYD und YPG in die Terrorliste aufnimmt, wird die Besatzung in Rojava und Nordsyrien als NATO-Operation an Legitimation gewinnen. Der Türkei wird so garantiert, als NATO-Partner in den besetzten Gebieten bleiben zu dürfen.
»PKK gefährlicher als der IS«
Das Projekt der ethnischen Säuberung und der Vertreibung der Kurden wird Schritt für Schritt realisiert. Aber auch der Kampf der Kurden und der Völker Nordsyriens dagegen dauert weiter an. Die Basis für diese sehr komplizierten, flexiblen und schwer verständlichen Beziehungen und Bündnisse bildet der antagonistische Widerspruch und Konflikt zwischen kapitalistischer und demokratischer Moderne.
UNO, USA und Russland sind besorgt, dass sich ein demokratisches, ökologisches und geschlechterbefreites Gesellschaftssystem – ein Projekt des kurdischen Vordenkers Öcalan und unterstützt von der PKK – in einer Region wie dem Mittleren Osten als lebendiges Beispiel und als Alternative zum bestehenden System weiter ausweitet. Die Äußerung Trumps, der hier direkte Beziehungen mit den QSD, YPG und YPJ pflegt, dass »die PKK gefährlicher als der IS« sei, ist Ausdruck dieser Furcht. So werden QSD, YPG und YPJ offen als Verbündete der Koalition anerkannt, nicht aber der Demokratische Rat Syriens (MSD) und die Räte der Kantone sowie die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) als politischer Wille.
Es ist eine gemeinsame Haltung der UNO, der USA und Russlands, dass im Rahmen der Lösungsverhandlungen für Syrien wieder kein politischer Vertreter der demokratischen Selbstverwaltung zur siebten Runde der Genfer Friedensgespräche und in die Verfassungskommission für Syrien eingeladen wurde. Diese Haltung demonstriert den strategischen und tiefen Krieg zwischen kapitalistischer und demokratischer Moderne.