06/20: Türkei: Mord im Auftrag des Staates

Quelle: Türkei: Mord im Auftrag des Staates. Telepolis. 01.07.20 Elke Dangeleit

Mit Drohnen gegen die Zivilbevölkerung; weitere Angriffe im Nordirak. Deutsche Waffen in Libyen.

Im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei, in Nordsyrien und im Nordirak setzt die Türkei zunehmend Kampfdrohnen ein. Mit dem Argument, gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK vorzugehen, versucht sie ihre völkerrechtswidrigen Angriffe in den Nachbarländern zu legitimieren. Tatsächlich trifft es jedoch die Zivilbevölkerung: vor allem Frauen und Kinder.

Letzte Woche wurden in einem Dorf bei Kobane im Norden Syriens drei Zivilistinnen, darunter zwei Aktivistinnen der kurdischen Frauenorganisation Kongreya Star durch eine türkische Kampfdrohne der türkischen Armee getötet. Trotz der eindeutigen Täterschaft der Türkei war diese extralegale Hinrichtung syrischer Staatsbürgerinnen innerhalb Syriens fast allen deutschen Medien keine Meldung wert.
Gezielte Anschläge

Das Dorf Helince liegt drei Kilometer südöstlich von der Stadt Kobane. Hier saßen die beiden Leitungsmitglieder der kurdischen Frauenorganisation von Nord- und Ostsyrien, Zehra Berkel (30) und Hebun Mele Xelil, im Garten der 60jährigen Hausbesitzerin Amina Waysi. Berkel war Koordinatorin des feministischen Dachverbandes Kongreya Star für das Euphrat-Gebiet und Xelil gehörte der Leitung des Frauenverbandes in Kobani an.

Eine Kampfdrohne der türkischen Armee beschoss das Wohnhaus der Frau, alle drei Frauen starben. Der Frauendachverband Kongreya Star spielt in Nord- und Ostsyrien eine wichtige Rolle im Kampf um Gleichberechtigung und Frauenrechte. Diese zivilgesellschaftliche Organisation ist tief in der Gesellschaft verwurzelt, sehr viele Frauen bis hinein in die Dörfer sind in ihr organisiert.

Telepolis berichtete vor kurzem von den Bemühungen der türkischen Regierung, die demokratische Frauenbewegung in der Türkei zu zerschlagen. Dieser Mord zeigt erneut, dass das türkische Regime nicht vor territorialen Grenzen haltmacht, wenn es darum geht, linke, demokratische, oder emanzipatorische kurdische Bewegungen zu terrorisieren und zu zerschlagen.

Schon 2013 wurden drei kurdische linke Frauenrechtlerinnen in Paris durch einen türkischen Agenten ermordet, darunter die bekannte Revolutionärin Sakine Cansiz, die sich in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) engagierte. 2016 wurden drei kurdische Politikerinnen in der türkischen Grenzstadt Silopi durch türkische Soldaten ermordet. Im Oktober 2019 wurde die Vorsitzende der Syrischen Zukunftspartei, Hevrin Khalaf, während des türkischen Einmarsches in Nordsyrien von Mitgliedern einer protürkischen Miliz ermordet.

Wenige Stunden vor dem Drohnenangriff bei Kobane detonierte ein Sprengsatz vor dem Frauenzentrum in Basira in der ostsyrischen Region Deir el-Sor. Dieser Angriff wird der protürkischen Miliz Ahrar Al-Scharkija zugeordnet.
Jelpke: Drohnenangriff ist ein Kriegsverbrechen

Die Bundestagsabgeordnete und innenpolitische Sprecherin der Linkspartei, Ulla Jelpke, bezeichnete den Drohnenangriff als Kriegsverbrechen und Akt des Staatsterrorismus. Sie erinnerte daran, dass der Drohnenangriff erfolgte, „wenige Tage nachdem die türkische Luftwaffe das Flüchtlingslager Maxmur und die Siedlungsgebiete der Jesiden sowie kurdische Dörfer im Nordirak bombardiert hat“.

„Statt Erdogans neo-osmanischen Größenwahn weiterhin durch ihr Schweigen, finanzielle Hilfen und Unmengen an Waffen zu unterstützen, muss die Bundesregierung jetzt klare Kante zeigen und ihre einseitig an geopolitischen und Wirtschaftsinteressen orientierte Kollaboration mit Ankara endlich aufkündigen.“

Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker berichtet, dass die Menschen vor Ort sich sicher seien, „dass der Anschlag der kurdischen Aktivistin galt, die sich seit Jahren für die Rechte der Frauen in Syrien einsetzt“.
Angriffe auf Kobane

Die Stadt Kobane sei für die kurdische Bevölkerung und viele andere Menschen weltweit ein Symbol gegen die Tyrannei des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) geworden. Die Türkei greife nun genau diese Stadt an, um die islamistische Agenda von Erdogan zu befördern.

Kritiker weisen darauf hin, dass das Gebiet um Kobane seit Oktober 2019 zum russischen Einflussgebiet gehöre. Da dort regelmäßige russisch-türkische Militärpatroullien stattfinden, sei es unwahrscheinlich, dass Russland über die Angriffe nicht Bescheid wusste. Es wird auch darauf hingewiesen, dass dem türkischen Staatsterror durch eine Sperrung des Luftraumes für türkische Kampfflugzeuge und Kampfdrohnen ein Ende gesetzt werden könne. Anscheinend fehle aber der politische Wille Russlands dazu.

Schon länger gibt es Gerüchte, dass die Türkei das symbolträchtige Kobane ebenso annektieren wolle wie die annektierten Gebiete Afrin, Sere Kaniye (Tell Abyad) und Gire Spi (Ras al-Ain), um die kurdische Bevölkerung zu demütigen.

Wie in der Türkei geht es Erdogan darum, diejenigen Kurden zu demütigen und zu verfolgen, die sich für ihre Minderheitenrechte einsetzen. Um dies der eigenen Bevölkerung nahe zu bringen, bedient er sich des bekannten Framings, wonach alle nicht assimilierten Kurden, alle Kurden, die sich für die Anerkennung als ethnische Gruppe im Vielvölkerstaat Türkei einsetzen, zu „Terroristen“ erklärt werden und als Unterstützer der PKK.
Türkischer Drohnenkrieg eskaliert im Nahen Osten

Der Einsatz türkischer Kampfdrohnen in den Konfliktgebieten des Nahen Ostens birgt neues Konfliktpotential. In den westlichen Medien wird dieses Thema weitgehend totgeschwiegen, und dies obwohl das Nato-Mitglied Türkei auch damit zunehmend gegen Nato-Interessen agiert. Die Türkei maßt sich immer mehr an, ohne Beachtung territorialer Grenzen nicht nur Angehörige bewaffneter Gruppen, sondern auch ihr unliebsame Politiker und Zivilisten mit Drohnen „hinzurichten“.

So sterben auch im Nordirak immer wieder Zivilisten durch türkische Drohnen, Kampfhubschrauber oder Kampfbomber. Zuletzt bombardierten türkische Kampfflugzeuge den Ausflugsort Kani Masi bei Suleymania. Seit der neuen türkischen Operation „Adlerklaue“ vom 15. Juni im Nordirak sind mindestens 5 Zivilisten bei Luftangriffen getötet worden. Das türkische Verteidigungsministerium erklärte, es seien keine Zivilisten geschädigt worden, sie hätten nur „Terroristen“ im Visier.

Ein Video der irakisch-türkischen Nachrichtenagentur Rudaw, das eine Familie mit kleinen Kindern zeigt, die in einem Gewässer spielen und plantschen, bis ein Luftangriff die Situation auf den Kopf stellt, liefert allerdings ein anderes Bild.

Die Konsequenzen des Drohnenkriegs der Türkei sind noch unklar. Noch kann Erdogan seine Kampfdrohnen überall hinschicken, ohne dass die internationale Gemeinschaft oder die Nato sich dagegen wehrt. Denn bisher richtet sich der türkische Drohnenkrieg ja nur gegen Minderheiten und politische Gegner im Nahen Osten. Die Kampfdrohnen „Bayraktar“ werden von der Firma der Familie des Erdogan-Schwiegersohns produziert.

Inzwischen sind sie auch vor der EU-Haustüre stationiert – z.B. auf einem türkischen Drohnenstützpunkt in Nordzypern. Vor diesem Hintergrund der Bedrohung eines EU-Mitglieds müssten eigentlich auch die deutschen Waffenlieferungen an die Türkei in Milliardenhöhe dringend hinterfragt werden: Was ist das für ein Argument, man liefere keine Waffen für den Einsatz in Syrien, sondern nur maritime Komponenten?

Sind die maritimen Waffen der Türkei nicht gerade zum Einsatz gegen Zypern und Griechenland vorgesehen, und werden sie nicht bereits im libyschen Bürgerkrieg eingesetzt, letztlich auch, um die illegalen türkischen Waffenlieferungen nach Libyen zu eskortieren?

Mit deutscher Hilfe werden derzeit die türkischen Seestreitkräfte hochgerüstet, die im östlichen Mittelmeer türkische Gasbohrungen in der zypriotischen und griechischen Wirtschaftszone schützen und dort die Bohrschiffe anderer Staaten bedrängen.

Die Türkei betrachtet den östlichen Mittelmeerraum als türkische Wirtschaftszone, einschließlich der Gebiete um griechische Inseln östlich von Kreta, die laut internationalem Seerecht zu Griechenland, Zypern und Ägypten gehören.

Türkei bricht Waffenembargo gegen Libyen
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Türkei: Mord im Auftrag des Staates
Türkei bricht Waffenembargo gegen Libyen
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Auch in Libyen hat die Türkei größere Begehren. Um ihren Einfluss in diesem Teil des Mittelmeeres zu sichern, verhandelt sie im Moment mit der libyschen Regierung über zwei permanente Militärbasen, eine Marinebasis bei Misrata und einen Militärflughafen bei al-Watija.

Über diese Wege könnten dann deutsche Waffen auch nach Libyen gelangen. Schon jetzt gelangt über die Türkei deutsches Kriegsgerät nach Libyen, berichtete die Tagesschau am 26. Juni. Report München und dem Stern liegen demnach Vernehmungsprotokolle und Videoaufzeichnungen von Seeleuten im Hafen von Genua vor. Daraus geht hervor, dass das türkische Schiff Bana, das offiziell Autos an Bord nehmen sollte, tatsächlich Mercedes-Militärunimogs, bestückt mit Kanonen und Radaranlagen, und MAN-Militärfahrzeuge an Bord hatte, die dann im libyschen Hafen von Tripolis abgeladen wurden.

Belegt wird dies durch ein heimlich aufgenommenes Video im Frachtraum der Bana. Kurz darauf kursierte ein Video in den sozialen Medien, das mehrere Unimogs auf einer Straße in der Nähe des Hafens von Tripolis zeigte. Ein weiteres Video zeigt einen Militärkonvoi auf einer libyschen Schnellstraße, ebenfalls mit Militärfahrzeugen der deutschen Firma MAN.

Zwar hatte sich die Türkei, wie auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), auf der Libyen-Konferenz im Januar in Berlin verpflichtet, das 2011 verhängte Waffenembargo einzuhalten – dies wenige Tage bevor das türkische Schiff Bana Tripolis anlief. Trotzdem halten die türkischen Waffenlieferungen an. Die Türkei entsandte auch eigene Soldaten und syrische, islamistische Milizen als Söldner nach Libyen.

Das Vorgehen der Türkei stehe im direkten Widerspruch zu dem, wozu sich Präsident Recep Tayyip Erdogan auf der Berliner Konferenz verpflichtet habe, sagte der französische Präsident Macron. Es ist ein Verstoß gegen das gegebene Wort, es ist ein Angriff auf die Souveränität Libyens und es ist ein Angriff auf die Sicherheit aller Europäer und Bewohner der Sahelzone.
Tagesschau

Die Türkei und die VAE sind Großkunden der deutschen Waffenindustrie und beide halten sich nicht an das Waffenembargo. Beide versorgen in Libyen verschiedene Seiten mit deutschen Waffen. Die Türkei versorgt die Einheitsregierung des Präsidenten Fayez al-Sarraj, die auch die Bundesregierung, Italien und Katar unterstützt.

Die Emirate unterstützen wie Russland, Frankreich und Ägypten die Truppen von General Khalifa Haftar. Haftar besitzt aber auch Mörsergranaten von Rheinmetall und emiratische Luftabwehrsysteme des Typs Pantsir auf MAN-Trucks.

Der Tagesschaubericht ist peinlich für die Bundesregierung, denn das Außenministerium teilte auf Anfrage mit, „man habe keine gesicherte Kenntnis, ob Rüstungsgüter aus deutscher Produktion in Libyen im Einsatz seien“. Trotz aller Beweise, dass die Türkei und die VAE das UN-Embargo nicht einhalten, genehmigte die Bundesregierung seit der Libyen-Konferenz neue Rüstungsexporte für die VAE und die Türkei im Wert von mehr als 20 Millionen Euro.

08/20: Der nächste Angriff auf Rojava steht unmittelbar bevor

Quelle: ANF: Analyse: Der nächste Angriff auf Rojava steht unmittelbar bevor

Freitag, 14 Aug 2020

„Einer Klärung der Situation in Heftanîn wird der nächste Invasionsangriff auf Rojava folgen.“ – Die Kampagne #RiseUp4Rojava bewertet in einer umfassenden Analyse die aktuelle politische und militärische Lage in Kurdistan.

Bereits in der Bewertung der aktuellen politischen und militärischen Lage vom 21. Juli, veröffentlicht bei „RiseUp4Rojava“, wurde klargestellt, dass mit einer Klärung der Situation in Heftanîn der nächste Invasionsangriff auf Rojava folgen wird. Auf dieser Grundlage sehen wir es ein weiteres Mal für erforderlich, die aktuelle Situation im Detail, als auch in ihren allgemeinen Zusammenhängen zu bewerten. Insbesondere in Konfrontation mit einer Angriffswelle der psychologischen Spezialkriegsmaschinerie in den Social Media und den allgemeinen Medien gegen die Revolution in Rojava und Nordsyrien und die kämpfende Freiheitsbewegung Kurdistans ist es wichtig, einige Punkte zu klären und einige Entwicklungen in den Zusammenhang miteinander zu stellen, um deren Tragweite und Bedeutung zu verstehen.

Wie sieht es gerade in Heftanîn aus, wie steht es um die Operation der türkischen Armee gegen die befreiten Medya-Verteidigungsgebiete, und wie steht es um den Widerstand? Was für eine Planung der internationalen und regionalen imperialistischen Kräfte zeichnet sich gegen die befreiten Gebiete Nordostsyriens ab und wie passen unter anderem die Geschehnisse in Deir ez-Zor und das viel spekulierte Ölabkommen der Autonomieverwaltung Nordostsyriens da mit rein?

Seit Monaten ist es ein einziges „Hauptthema“, welches die Welt in der Öffentlichkeit beherrscht: Die Corona-Pandemie. In vielen Ländern wurde das öffentliche Leben komplett oder nahezu lahmgelegt, die Arbeiter*innen, Armen, Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt werden Land für Land in Verzweiflung, unbegrenzte Abhängigkeit und gefühlte Ohnmacht gestürzt und ein antisoziales System der „sozialen Distanz“ wird Schritt für Schritt etabliert. Die Entfremdung des Lebens wird auf den Gipfel getrieben. Das Leben wie wir es kennen, wird in vielerlei Hinsicht in Stillstand versetzt.

Doch die Welt, in der wir leben, hat sich nicht in Stillstand versetzt, und noch weniger haben sich die Pläne und Konzepte der Imperialisten und die Besatzungs- und Ausbeutungspolitik des türkischen Faschismus in Stillstand versetzt: Entsendung zehntausender Söldner aus Syrien nach Libyen, imperialistische Hoheitsbemühungen im Mittelmeer, aktive Beeinflussung der Konflikte im Jemen und vieler anderer Länder. Tagtäglich finden Angriffe auf die Bevölkerung und jeden Hauch der Gegenorganisierung in der Türkei und Nordkurdistan statt; täglich werden die Berge und Dörfer Südkurdistans (Nordirak) bombardiert; tagtäglich werden dutzende und aberdutzende Drohnen entsendet, um die Region zu überwachen, die Beweglichkeit des Widerstandes einzufrieren und bei Gelegenheit zuzuschlagen. Tagein und tagaus wird die gesamte Propagandamaschinerie des türkischen Staates und seiner Handlanger in Gang gesetzt, mit dem einen Ziel: den Widerstand zu zersetzen, den Willen der kämpfenden Völker zu brechen. Der Geheimdienst MIT des türkischen Staates hat sich eine Armee an Informanten und Agenten sowohl auf türkischem Staatsgebiet als auch in der Region und international aufgebaut, mit der jegliche Art von Informationsbeschaffung, psychologischer Kriegsführung, Lobbyarbeit und Provokation bis hin zur gezielten Verbreitung von Rauschmitteln innerhalb der Gesellschaft und direkten Liquidierungsoperationen durchgeführt werden. Ob Stadt oder Dorf, Berge oder Ebene, militärisch oder wenn von ihnen gewollt auch zivil, alles ist, egal wo, potenzielles Ziel der türkischen NATO-Armee.

Auf allen Ebenen, politisch, militärisch, ökonomisch, gesellschaftlich und medial, sowohl regional als auch international, wird die Revolution von den herrschenden Kräften attackiert und versucht, auf jede nur mögliche Art und Weise die Bewegung zu isolieren, zu marginalisieren, zu kriminalisieren und ihr die Unterstützung und Teilnahme der Völker zu entziehen. Für die großen imperialistischen Staaten und ihre strategischen Bündnisse, also insbesondere die USA und NATO, ist klar, dass eine demokratische, freiheitliche und antikapitalistische Revolution im Mittleren Osten nicht siegreich sein darf, und dass eine NATO-Armee im 21. Jahrhundert auf keinen Fall im Krieg gegen eine Volksarmee und eine Guerillabewegung verlieren darf. Die geopolitische und historische Bedeutung einer solchen Möglichkeit in einem Lande wie Kurdistan und einer Region wie dem Mittleren Osten und die explosionsartige Auswirkung, die diese Realität auf alle anderen Teile der Welt haben könnte, ist ihnen bewusst. Ebenso ist auch dem Besatzerstaat Türkei und seiner faschistischen AKP/MHP-Regierung klar, dass sie mit der Revolution jegliche Existenzberechtigung verlieren. Sowohl historisch als auch aktuell ist deshalb die kurdische Frage für den faschistischen türkischen Staat eine Frage des Seins oder Nicht-Seins. Es ist auch keine Frage, die nur Rojava betrifft oder nur die Berge betreffen würde; es ist sowohl eine Frage, die alle Teile Kurdistans und ihre jeweiligen Besatzerstaaten betrifft, als auch eine Frage, die welthistorische Bedeutung und ein ebenso großes Potential hat.

Das umfangreiche Liquidationskonzept, welches gegen die PKK und die Freiheitsbewegung gefahren wird, ist dementsprechend nicht erst seit Neuem in die Wege geleitet worden. Nachdem der CIA-Gladio unterstützte und gesteuerte Militärputsch vom 12. September 1980 in der Türkei schlussendlich die sich selbstgesetzten Ziele nicht erfüllen konnte – also die Eliminierung jeglicher linker, sozialistischer und revolutionärer Potentiale -, mussten neue Mittel und Wege gefunden werden, um das wiedererwachte kurdische Volk erneut in Grabesstille versinken lassen zu können. Der Widerstand im Gefängnis von Amed und die Aufnahme des organisierten bewaffneten Kampfes am 15. August 1984, dessen 36. Jahrestag wir nun begehen, hatten den Putsch ins Gegenteil umgedreht: Zum ersten Mal hatte sich in dieser Form eine revolutionäre Perspektive für das kurdische Volk manifestiert.

Als 1986 der Mord an Olof Palme der PKK in die Schuhe geschoben werden sollte, was ziemlich offensichtlich der auch an anderen Orten geführten Gladio-Kriegsstrategie entsprach, wurde dies zum Anlass für eine neue internationale Offensive gegen den Befreiungskampf in Kurdistan. Schritt für Schritt wurde die gesamte Bewegung kriminalisiert, illegalisiert und mit dem Stempel „Terrorismus“ gebrandmarkt. Dabei interessierte es niemanden, dass eine solche Aktion doch jeglicher Logik und jeglichem Interesse der PKK widersprach. Erst in diesem Jahr 2020, also 34 Jahre später, wurde offiziell klargestellt, dass die ganze Geschichte, so – wie schon immer von der Befreiungsbewegung erklärt – nicht stattgefunden hatte, und doch sucht man vergeblich nach einer Entschuldigung, einer deutlicheren Aufklärung der beschriebenen Ereignisse und ihrer direkten und indirekten Folgen. Was passierte? Unter anderem im Anschluss an diesen Komplott wurden die Bewegung und das kurdische Volk trotz aller Versuche ihrerseits, einen politischen und demokratischen Lösungsprozess anzustoßen, mit einem ultimativen Vernichtungskrieg konfrontiert. Ergebnis: Zehntausende Tote, Millionen von Flüchtlingen, tausende zerstörte und verbrannte Dörfer und die totale Kriminalisierung international.

Als den US- und NATO-Strategen dann bewusst wurde, dass die Bewegung trotz alledem an Stärke und Einfluss gewann und sich dem Untergang der sozialistischen Bewegungen weltweit entgegensetzte, wurde das Internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan vorbereitet, organisiert und durchgeführt, das Isolationssystem Imrali gegen die Bewegung und das Volk eingeführt. Es ist wichtig, dieses Komplott insofern als essenziellen Teil des Greater Middle East Project der USA-NATO zu verstehen. Doch eben an diesem Punkt angekommen mit den Perspektiven aus Imrali und einem ununterbrochenen ideologischen, politischen, sozialen und militärischen Kampf lief das Komplott ins Leere und aus innerer Krise und äußerer Vernichtungspolitik stieg die Freiheitsbewegung stärker denn je hervor: Die Strategie des Revolutionären Volkskrieges wurde der Realität des 21. Jahrhunderts entsprechend entwickelt, die Revolution in Rojava entstand und gegen die faschistische Offensive des IS in der Region wurde ein historischer Widerstand organisiert, der in der militärischen Niederlage des IS und der Befreiung vieler Regionen in Nordsyrien und dem Şengal mündete.

Gegen diese Entwicklungen begann der türkische Staat ab 2014 mit der Beschließung des Konzepts „In die Knie zwingen“ (tr.: „Diz çöktürme planı”). Ein weiteres Mal verlor er sich in dem Wunschtraum, es wie Sri Lanka zu machen (tamilische Lösung): Das heißt absolute Vernichtungsstrategie auf allen Ebenen, also totale Eskalation. Am 24. Juli 2015, dem Jahrestag des Vertrages von Lausanne, begann der türkische Staat eine umfassende Operation gegen die Guerilla und seither ist der Krieg in drei Teilen Kurdistans – Süden, Norden und Westen – auf seinem Höhepunkt. Im Vorhinein dessen wurde bereits seit April 2015 Abdullah Öcalan erneut die totale Isolation aufgezwungen. Spätestens mit der Besatzung des Kantons Efrîn im Frühjahr 2018 können wir klar und deutlich von einem zweiten internationalen Komplott gegen die kurdische Freiheitsbewegung sprechen. Dabei geht es darum, dem Volk die Errungenschaften des Kampfes ein weiteres Mal zu entziehen, die PKK mit militärischem Zwang und der langwierigen Isolations- und Kriminalisierungsstrategie entweder komplett auszuschalten oder wenigstens in die Unbedeutsamkeit zu schicken, und das, was überbleibt, nach eigenen Interessen zu assimilieren. Da würde es den USA gefallen, wenn Rojava doch einfach zum einem zweiten Südkurdistan (KRG) verkommen würde, also jeglichen eigenen Willen abgeben und sich seinem „Schicksal“ ergeben würde.

Die Operation vom 9. Oktober letzten Jahres und die folgende Besatzung der Regionen Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) sind weiterer Teil dieses internationalen Konzepts gegen die Revolution und natürliche Konsequenz des türkischen Faschismus. Dass die USA ausgerechnet 2018 hohe Kopfgelder auf einige Führungsmitglieder der PKK ausschreiben ließen, ist kein Zufall; genauso ist es kein Zufall, dass, trotz aller Dreistigkeit, die Türkei immer wieder mit Kapitalspritzen auf den Beinen gehalten wird und pausenlos die modernsten Waffensysteme an die Türkei verkauft werden, sowohl von Seiten der NATO-Mitgliedsstaaten als auch von Seiten Russlands. Dies sind dann die Waffen, die in Efrîn, Serêkaniyê und Heftanîn eingesetzt werden: u.a. deutsche, italienische, US-amerikanische und israelische Waffen. Die imperialistischen Mächte profitieren von diesem Krieg! Außerdem können sie die Existenz eines selbstbewussten kurdischen Volkes, eines Projekts der ernsthaften Geschwisterlichkeit der Völker im Mittleren Osten nicht akzeptieren und die Gefahr des Sieges einer Guerillabewegung im 21. Jahrhundert nicht riskieren. Deswegen wird der türkische Staat auf den Beinen gehalten und kann in der Region mehr oder weniger lassen und tun, was er will.

In Koordination mit den USA und weiteren NATO-Staaten sowie teilweise auch mit Russland geht die Türkei gegen die Revolution vor: In diesem Rahmen finden weitgehende Luft- und Bodenoperationen in der Türkei, in Syrien und im Irak statt, Drohnenangriffe und Bombardements werden geplant und durchgeführt, nachrichtendienstliche Erkenntnisse werden geteilt. Im Zusammenhang mit diesem im Allgemeinen einheitlichen Konzept wird versucht, die Bewegung selbst und die Völker um jeden Preis zu spalten, ganz nach dem Motto: Teile und herrsche! Die Religionen und Konfessionen werden aufeinandergehetzt, die Nationen werden gegeneinander ausgespielt, das kurdische Volk unter sich in unzählige Teile gespalten: geografisch, politisch, gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell. Es wird zwischen dem „guten Kurden“, der also das macht, was ihm gesagt wird, und der „schlechten Kurdin“, die auf ihren Willen vertraut und selbstbewusst ist, unterschieden und dementsprechend wird entweder hart zugeschlagen oder weich Assimilierung vorangetrieben. Allein die Tatsache, dass der Krieg mit unterschiedlichsten Methoden auf Höchstform in den Bergen und in der Ebene, in den Dörfern und in der Metropole weitergeht, beweist die Vergeblichkeit dieser Politik. In Heftanîn hat sich ein weiteres Mal gezeigt, dass die türkische Armee, aller moderner Technik zum Trotz, unfähig ist, im Kampf gegen die Guerilla zu bestehen und ganz im Gegenteil schwerste Schläge einzustecken hat.

Seit dem lauten Trommelwirbel am Anfang der Operation schweigt die türkische Medienlandschaft mehr oder weniger über die doch eigentlich so vorlaut angekündigte Offensive. Sie ist zu einer Offensive geworden, die die türkischen Streitkräfte, ihre Söldner und Dorfschützer in eine passive Position gedrängt und sie der Guerilla quasi ausgeliefert hat. Gleichzeitig befindet sich die Jugend in Nordkurdistan und in der Türkei selbstverständlich nicht im Tiefschlaf, sondern von Osten bis Westen der Türkei finden täglich Aktionen gegen die Besatzer, Faschisten und ihrer Handlanger durch sogenannte Racheeinheiten, die YPS und YPS-Jin und die Initiative „Kinder des Feuers“, statt. In Südkurdistan befindet sich von Şîladizê bis Silêmanî die Bevölkerung gegen die Besatzung auf der Straße und Gruppe für Gruppe schließen sich Jugendliche dem Widerstand an. Und auch in Rojava geht der Widerstand weiter. Sosehr auch die Besatzung Serêkaniyês und Girê Spîs ein schwerer Schlag für die Revolution war, ist die Entschlossenheit, die türkischen Soldaten und ihre islamistischen Proxys aus dem Land zu jagen, überall zu spüren.

Es zeichnet sich ab, dass die nächste Eskalation kurz bevorsteht. In gemeinsamer Koordination versuchen sowohl der syrische als auch der türkische Geheimdienst für Durcheinander in den befreiten Gebieten zu sorgen und mit verschiedensten Mitteln die Bevölkerung gegen die Autonomieverwaltung auf die Straße zu bringen. Das zeigte sich in der letzten Woche insbesondere in Deir ez-Zor. In diesem Gebiet, in dem sowieso viele Schläferzellen des IS aktiv sind, werden gezielt von den erwähnten Geheimdiensten einflussreiche Persönlichkeiten, die hinter dem Projekt der demokratischen Nation stehen, ermordet und Probleme zwischen den verschiedenen Stämmen, den QSD und der zivilen Selbstverwaltung geschaffen. Auch das Ölabkommen, welches zuletzt von Seiten der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens unterzeichnet wurde, wird als Anlass dafür genutzt, verschiedenste Anti-Propaganda zu verbreiten und somit Antipathie vor Ort und international zu erzeugen. Dabei ist es doch offensichtlich, dass dem Projekt Rojava nicht wirklich Alternativen zur Verfügung stehen. Denn wenn es seine Selbstständigkeit und politische Unabhängigkeit nicht verlieren will und in der Lage sein möchte, der ökonomischen Krise, dem Embargo und dem Krieg etwas entgegenzusetzen, braucht es verständlicherweise Auswege wie diese. Es ist eines der Grundprinzipien der Föderation Nordostsyriens, dass alle Ressourcen dieses Landes allen Völkern Syriens gehören und vor diesem Hintergrund wurde ein Abkommen mit begrenzter Förderung und auf begrenzte Zeit mit einem US-amerikanischen Unternehmen abgeschlossen. Dies ist auch nebenbei bemerkt direkte Folge der jahrelangen Weigerung des syrischen Staates, sich an den Tisch zu setzen, um gemeinsam ein neues Syrien aufzubauen. Stattdessen gibt es für den syrischen Staat weiterhin nur eine Perspektive, und zwar alles wieder genauso wie vorher zu machen. Im Angesicht der Tatsache, dass das Land quasi ausgeblutet ist, stellt sich das als relativ realitätsfern dar. Man sollte doch meinen, nach so viel Krieg, Leid und Blutvergießen sollte auch eine Regierung wie die des Baath-Regimes mal darüber nachdenken, Dinge zu verändern, aber nein, sie beharrt wie auch der türkische Staat auf ihrer Ideologie: Ein Staat, eine Nation, eine Sprache, usw. – da bleibt kein Platz für Demokratie, Vielfältigkeit und Selbstbestimmung.

Als Teil ihrer speziellen Kriegsführung und der Vorbereitung der weiteren Eskalation hat die Türkei die natürliche Wasserzufuhr in die Region abgeschnitten. Der Euphrat in Syrien steht davor auszutrocknen und auch der Tigris im Irak verliert Schritt für Schritt an Masse. Die Hauptquelle der Wasserversorgung der Region Hesekê liegt im Dorf Allouk östlich von Serêkaniyê und befindet sich in der Hand der faschistischen Schergen. Vor diesem Hintergrund sollte man sich vielleicht nochmal fragen, wer hier eigentlich die natürlichen Ressourcen ausbeutet und seinem eigentlichen Eigentümer, nämlich dem Volk und der Natur, vorenthält.

Im Angesicht von Corona-Pandemie und einem damit zusammenhängenden globalen Angriff auf das Gesellschaftssein, also das Menschsein selbst, und im Angesicht der wachsenden Aggression des türkischen Faschismus in Kurdistan und in der gesamten mittelöstlichen Region heißt es, im Sinne einer internationalen antifaschistischen, antiimperialistischen und antikapitalistischen Front gemeinsam Hand in Hand den Widerstand zu organisieren und sich auf den nächsten Angriff auf Rojava vorzubereiten. Der türkische Faschismus, und das ist offensichtlich, wird weder in Libyen noch im Mittelmeer gestoppt werden, sondern in Rojava, in den Bergen Kurdistans und mit dem Aufstand in der Metropole wird er sein Ende finden.