Internationale Interessen im Syrienkrieg

Quelle: ANF – Syrienkrieg: Dritter Weg im Wirrwarr
internationaler Interessen
(Dez 2019)

Seit 2011 herrscht ein internationaler Bürgerkrieg in Syrien. Regionale und internationale Mächte wirken in diesem Krieg mit. Der Kampf gegen den IS hat die widersprüchlichen Interessen auf dem syrischen Schlachtfeld temporär in den Hintergrund geraten lassen. Doch spätestens seit dem militärischen Sieg über die Organisation in al-Baghuz sind die gegensätzlichen regionalen und internationalen Interessen in voller Härte wieder zum Vorschein gekommen. Wir wollen mit diesem Artikel einen Blick auf die Interessenslagen und die damit verbundenen Widersprüche in Syrien werfen. Welche regionalen und internationalen Mächte verfolgen welche Ziele in dem kriegsgebeutelten Land? Welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch für die lokalen Akteure in dem Konflikt? Und wie sieht in diesem Zusammenhang die Perspektive für einen Frieden in Syrien aus? Wir möchten versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Assad als großer Sieger des Bürgerkriegs?

Als im Jahr 2010 der arabische Frühling über die Länder Nordafrikas und des Mittleren Ostens hinwegfegte, entbrannte die Hoffnung auf einen Wandel in einer Vielzahl von autoritär geführten Staaten der Region. Die Menschen rebellierten grenzübergreifend und waren nicht mehr gewillt, die diktatorischen Regime in ihren Ländern zu akzeptieren. Der Wunsch nach einer Demokratisierung war vielerorts zu spüren. Doch der Wind sollte sich bald drehen. Denn verschiedenste Regional- und Großmächte waren nicht bereit, den Wandel in der Region den Massen zu überlassen. Sie mischten in verschiedenen Ländern mit, unterstützten dort, wo es sie gab, ihnen genehme Akteure oder erschufen sie dort, wo es sie nicht gab.

Im Zuge des „Arabischen Frühlings“ geriet bald auch Syrien ins Visier der regionalen und internationalen Akteure. Die Proteste gegen das Baath-Regime im Jahr 2011 wurden rasch vereinnahmt. Aus friedlichen Protesten entwickelte sich so schon bald ein blutiger bewaffneter Bürgerkrieg. Ausgerufenes Ziel war es, die Regierung von Bashar al-Assad zu stürzen. Doch im Jahr 2019 ist Assad weiterhin an der Macht und er hat nach dem anfänglichen Verlust weiter Territorien nun einen Großteil Syriens wieder unter seine Kontrolle gebracht. Der Sieg über die sogenannte Freie Syrische Armee in Aleppo war ein Wendepunkt im Bürgerkrieg. Das nächste Ziel der Regimekräfte ist die Provinz Idlib.

Was Assad beabsichtigt, ist die Wiederherstellung des Status quo ante bellum in Syrien. Mit der großzügigen Unterstützung Russlands, des Irans und der libanesischen Hisbollah hat er ein großes Stück auf der Strecke zu diesem Ziel genommen. Die zentrale Herausforderung zur vollständigen Umsetzung seines Vorhabens stellen neben dem Kampf um Idlib, der Umgang mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens sowie mit den von der Türkei besetzten Gebiete in Nordsyrien dar. Das Vorhaben der arabischen Golfstaaten, der Türkei und des Westens, sein Regime zu stürzen, scheint bereits jetzt erfolgreich abgewendet. In die Karten des Assad-Regimes hat in jedem Fall das zwischenzeitliche Erstarken des IS gespielt. Denn diejenigen Mächte, die ihn eigentlich stürzen wollten, mussten dadurch ihren Fokus im syrischen Bürgerkrieg neu legen. Aufgrund der internationalen Gefahr, die von dieser Organisation ausging, erschien Assad für viele seiner einstigen Gegner nun als das kleinere Übel. Das Interesse an einem Regimewechsel in Syrien rückte dadurch jedenfalls in den Hintergrund. Ob Assad aber sein Land vollständig in den Zustand vor dem Bürgerkrieg zurückführen kann, bleibt zumindest fraglich.

Die Interessenslage Russlands und des Irans

Ein vorläufiger Sieger des syrischen Bürgerkriegs scheint Russland zu sein. Mit breiter militärischer Unterstützung für Assad konnte über diesem das russische Einflussgebiet in Syrien aufrechtgehalten und ein, dem westlichen Interessen entsprechender Regime-change abgewehrt werden. Selbst die Türkei, ein eingeschworener Befürworter des Sturzes von Bashar al-Assad, wurde erfolgreich in die syrische Interessenspolitik Moskaus eingebunden. Die Türkei ist im Laufe des syrischen Bürgerkriegs zu einem besonders nützlichem Partner Russlands geworden. Denn über Ankara gelingt es, den Aktionsradius verschiedener islamistisch-gesinnter Gegner Assads unter Kontrolle zu halten. Der Rückzug der islamistischen Rebellen in Aleppo auf Geheiß der Türkei ist ein Paradebeispiel dieses Erfolgs. Auch in Idlib führt Russland eine ähnliche Diplomatie, um die Rückeroberung der Stadt durch Assad zu erleichtern.

Einen weiteren Vorteil bietet die Türkei aus russischer Perspektive im Umgang mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien. Hier fungiert die Türkei als wichtiges Drohmittel. Die Föderation wird immer wieder vor folgende Wahl gestellt: Entweder akzeptiert ihr die Hoheit des Assad-Regimes über die von euch kontrollierten Gebiete oder wir lassen die Türkei auf euch los.

Ein besonderes Interesse am Machterhalt des Assad-Regimes zeigte von Anfang an auch der iranische Staat. Gerade vor dem Hintergrund des internationalen Drucks auf das eigene Regime verfolgt Teheran eine Politik, mit der es die Konflikte in der Region vor der eigenen Haustür halten möchte. Und so mischt der Iran munter in den Bürgerkriegen im Jemen und Syrien sowie in der politischen Krise im Irak mit. In Teheran ist man sich dessen bewusst, dass der Westen und die Golfstaaten mit herbeigeführten Regimewechseln den Iran umzingeln möchte. Die Abwendung dieses Vorhabens wie derzeit in Syrien ist somit ein ernstzunehmendes Interesse des Mullah-Regimes.

Westliche Interessen: Kampf gegen den IS und der drohende Einflussverlust in Syrien

Maßgeblichen Einfluss an dem Abdriften des syrischen Aufstands in einen Bürgerkrieg haben die westlichen Interessen in der Region. Sie haben die Bewaffnung der syrischen Gegner des Assad-Regimes vorangetrieben und auch über lange Zeit von ihrem Vorhaben, das Regime zu stürzen, nicht abgelassen, als innerhalb des Assad-feindlichen Lagers islamistische Kräfte die Überhand gewannen. Erst mit dem Erstarken des IS in Syrien, das die vom Westen unterstützte Opposition im Land samt ihrer Waffen aus dem Westen und den arabische Golfstaaten förmlich überrannte, wurde dieser Kurs korrigiert. Dieselben Mächte, die alles auf einen raschen Sturz von Assad setzten, versammelten sich fortan unter der Anti-IS Koalition. Notgedrungen suchten sie die Kooperation mit einem politischen Akteur, den sie bis dato mit allen Mitteln im syrischen Bürgerkrieg zu ignorieren versuchten – der Demokratischen Föderation in Nordsyrien. Deren Selbstverteidigungskräfte, die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), galten als letzte effektive Bodentruppen, die dem IS etwas entgegen zu bieten hatten. Diese Kooperation war auch im Sinne der Demokratischen Föderation, galt doch der IS mit der Unterstützung der Türkei als ernstzunehmende Gefahr für die radikaldemokratische Revolution von Rojava. Parallel zur militärischen Kooperation, die letztlich zum militärischen Sieg über den IS führte, setzt der Westen allerdings bis heute alles daran, eine politische Anerkennung der Föderation zu unterbinden. So werden dieselben Akteure, welche die größten Opfer im Kampf gegen den IS aufgebracht haben, von allen internationalen Friedensverhandlungen für Syrien konsequent herausgehalten. Dass dieser Kurs allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, zeigen die zuletzt von der UN initiierten Verfassungsverhandlungen für Syrien in Genf (http://civaka-azad.org/die-loesung-slosigkeit-syrischer-friedensverhandlungen/).

Der jüngste NATO-Gipfel zeigt zudem, wie der Westen einerseits zwar seinen Einfluss in Syrien nicht aufgeben will, andererseits aber auch, welche Risse innerhalb dieses Machtblocks sich aufgetan haben. Soll man auf die Türkei setzen, um einen Fuß in Syrien zu halten (Tendenz innerhalb der deutschen Bundesregierung) oder doch den Kontakt zur Föderation Nordsyriens suchen, um nicht vollständig vom unverlässlichen türkischen Partner abhängig zu sein (eher die französische Haltung). Dass sich die Großmacht USA in dieser Frage auch noch nicht vollständig entschieden hat, zeigt der von Washington vollzogene Rückzug in Syrien. Die ernstzunehmende Gefahr eines Widererstarkens des IS im Zuge des aktuellen türkischen Besatzungskriegs lässt diese Frage umso dringender erscheinen.

Türkei: Neoosmanische Träume und die „kurdische Gefahr“

Eine der Mächte, die von Anfang an am vehementesten für den Sturz Assads in Syrien eingetreten ist, war die Türkei. Hierfür hat sie mit am aktivsten an der Bewaffnung und Ausbildung der Anti-Assad-Truppen mitgewirkt. Im Gegensatz zum Westen, der ein gewisses Unbehagen am Erstarken islamistischer Kräfte in Syrien zeigte, ist dies der Türkei herzlich egal. Ankara hat, als es das Blatt in Syrien sich wenden sah, sogar mit dem Abschuss eines russischen Jets versucht, einen Krieg zwischen der NATO und Russland auf syrischem Boden zu provozieren. Als diese Rechnung allerdings nicht aufging, sah sich das Erdogan-Regime plötzlich Moskau ausgeliefert. Heute ist auch das kleinste Handeln der Türkei in Syrien ohne die Einwilligung Putins nicht denkbar.

Aktuell ist das der Türkei noch recht, hat sich doch die Syrienpolitik Ankaras mit der Entstehung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien bedeutend verändert. Vom Sturz des Assad-Regimes ist keine Rede mehr. Der einzige Fokus der türkischen Politik ist die Bekämpfung der Föderation Nordsyriens, einschließlich eines genozidalen Kurses gegen die dort lebende kurdische Bevölkerung. Dafür werden weiterhin islamistische Truppen massiv von der Türkei unterstützt. Wie bereits oben beschrieben, nutzt die kurdenfeindliche Politik Ankaras bis zu einem gewissen Grad auch der russischen Syrienpolitik.

Die Türkei hat allerdings auch ihre neoosmanischen Träume nicht aus dem Blick verloren. Ankara hat eigentlich seit der Neuordnung des Mittleren Ostens infolge des Ersten Weltkrieges nie aufgehört, Ansprüche auf die Gebiete im Norden Syriens und im Norden des Iraks zu erheben. Die Besatzungsoperationen in Nordsyrien passen da ins Konzept. Die ethnischen Säuberungen in den besetzten Gebieten sind ebenfalls Teil einer längerfristig ausgelegten Politik. Doch wie wird die Haltung Russlands zu der Besetzung dieser Gebiete aussehen, wenn die Türkei ihre Rolle als nützlicher Dienstleister der russischen Syrienpolitik ausgespielt hat? Und wie lange kann die Türkei die kostspielige Besatzung vor dem Hintergrund des anhaltenden Widerstands der Völker Nordsyriens aufrechterhalten? Diese Fragen müssen aktuell noch unbeantwortet bleiben.

Die Politik des Dritten Weges als Konstante der Föderation Nordsyriens

Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Interessen im syrischen Bürgerkrieg hält die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyriens als eine der wenigen Akteure an ihrem politischen Kurs konsequent fest. Dieser Kurs lässt sich als Politik des dritten Weges umschreiben. Erstmals deklariert wurde diese Leitlinie, als sowohl das Baath-Regime wie auch die vermeintliche syrische Opposition versuchten, die politischen Vertreter der Revolution von Rojava auf ihre Seite zu ziehen. Der dritte Weg wurde vor diesem Hintergrund als selbstbewusste Haltung deklariert, die keine Bereitschaft zeigte, sich in fremde Interessen einbinden zu lassen. Stattdessen verfolgte die Revolution von Rojava stets den Kurs, die von ihr befreiten Gebiete gegen äußere Angriffe zu verteidigen und den Aufbau einer basisdemokratischen, geschlechterbefreiten und pluralistischen Gesellschaftsordnung voranzutreiben.

Das bedeutet nicht, dass jeglicher Dialog zu anderen Akteuren rundweg abgelehnt wurde. Im Gegenteil, die Vertreter der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens suchten von Anfang an den Dialog zu allen Akteuren auf dem Feld. Eine Zusammenarbeit wurde allerdings nur dann eingegangen, wenn dies den oben genannten Eigeninteressen diente. Das geschah beispielsweise im gemeinsamen Kampf mit der internationalen Koalition gegen den IS.

Heute stellt die türkische Invasion die größte Gefahr für den Fortbestand der Föderation in Nordsyrien dar. Auch vor diesem Hintergrund bemühen sich ihre politischen Vertreter darum, mit allen Akteuren in den Dialog zu treten und auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Haltung gegen die türkische Gefahr zu drängen. Auch die militärischen Vereinbarungen mit dem Assad-Regime sind vor diesem Hintergrund zu werten.

Doch der Dialog mit dem Assad-Regime ist keiner, der allein aus einer Notsituation heraus entstanden ist. Tatsächlich bemühen sich unter dem Dach des Demokratischen Syrienrats (MSD) die Völker Nordsyriens seit geraumer Zeit, einen lösungsorientierten Dialog mit Damaskus aufzubauen. Ziel ist ein demokratischer Wandel des Landes, das dezentral strukturiert ist und somit den Raum für die demokratische Selbstverwaltung Nordsyriens und anderer Regionen eröffnet. Noch stehen die Vorstellungen Assads und der Föderation von einem zukünftigen Syrien sehr weit auseinander. Doch wenn beide Seiten einen weiteren langanhaltenden Krieg aus dem Weg gehen wollen, müssen sie einen Kompromiss finden. Wie dieser letztlich aussehen könnte, wird die Zeit zeigen. Im Kampf gegen eine längerfristige türkische Besatzung in Nordsyrien scheinen beide Seiten jedenfalls einig zu sein. Das ist ein Anfang, auf dem aufgebaut werden kann.

USA, Russland und Türkei gegen Rojava

Quelle: Civaka Azad – Die Furcht vor dem demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaftssystem (Januar 2020)

Trump, Putin und Erdogan

Die Phase des türkischen Besatzungskrieges in Cerablus, Azaz, Efrîn und später in ganz Rojava begann im Wesentlichen am 19. Dezember 2018, dem Tag, an dem US-Präsident Donald Trump den Rückzug aus Syrien ankündigte. Infolge dieser mit den US-Verantwortlichen vor Ort unabgesprochenen Erklärung trat der US-Sonderbeauftragte für die internationale Koalition gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS), Brett McGurk, zurück. An seine Stelle wurde der ehemalige US-Botschafter in Ankara, James Jeffrey, gesetzt. Jeffrey hat vom ersten Tag an mit seinen Erklärungen und Entscheidungen eine völlig andere Linie in Bezug auf Nordsyrien und Rojava gefahren als Brett McGurk, indem er die aggressive Besatzungspolitik der Türkei unterstützte.

Der klarste Ausdruck dessen ist der Plan der »Sicherheitszone«, gänzlich eine Idee von James Jeffrey. Er kam zusammen mit einer Delegation am 22. Juli 2019 zu einem dreitätigen Besuch nach Ankara, bei dem er mit türkischen Staatsvertretern das Thema der Sicherheitszone in Nordsyrien besprach. Parallel dazu führte er auch Gespräche mit den Kurden in Syrien und traf sich mit Kommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und der Selbstverteidigungskräfte von den YPG.

Im Rahmen dieser Gespräche wurde Anfang August beschlossen, einen gemeinsamen Sicherheitsmechanismus zu entwickeln, um die »sichere Zone« aufzubauen. Es wurden Vereinbarungen getroffen, denen zufolge fünf Kilometer hinter der türkischen Grenze Verteidigungsmaßnahmen wie Stellungen, Kanäle, Barrikaden und Tunnel zerstört und die dort befindlichen schweren Waffen zurückgezogen werden sollten. Dementsprechend wurden die Stellungen und Verteidigungssysteme mit Baumaschinen niedergerissen, QSD und YPG zogen ihre schweren Waffen aus Serê Kaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) zurück. Im Rahmen dieses Mechanismus unternahmen die Türkei und die USA im kurdisch kontrollierten Norden Syriens Patrouillenflüge und auf dem Land gab es gemeinsame Patrouillen entlang der Grenze.

Auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. September hielt der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan eine Rede, in der er seine Pläne der ethnischen Säuberung, die den UN zufolge als Kriegsverbrechen gilt, offen zur Sprache brachte und seinen Rojava-Besatzungsplan mithilfe einer Landkarte Syriens illustrierte.

Erdoğan erklärte, dass die Vorbereitungen zur Sicherheitszone zusammen mit den USA durchgeführt werden würden, und führte aus: »Östlich des Euphrats können wir eine sichere Zone einrichten. Dort können wir die Flüchtlinge ansiedeln. Wir können drei Millionen Syrer zurück in ihre Heimat bringen.« Diese dreiste und anmaßende Haltung Erdoğans, der von der Besetzung Syriens zum Zwecke der Ausdehnung der türkischen Grenzen so sprach, als sei es das Natürlichste auf der Welt, fand in der UN-Generalversammlung keine ernsthafte Reaktion und ist als schändliche Haltung in die Geschichte eingegangen.

Am 13. Oktober 2019 erklärte US-Präsident Trump gegenüber FoxNews: »Die Türken und Kurden bekriegen sich seit Jahrhunderten, sollen sie weitermachen. Die Kurden können den Luftangriffen der Türkei nichts entgegensetzen und müssen sich von der Grenze zurückziehen. Die Zeit unserer Rückkehr ist gekommen. Wir werden Syrien verlassen.«

Einzigartiges »Waffenstillstandsabkommen«

Das war die Entscheidung, die von den USA seit 2014 geführte Koalition gegen den IS in der Region zu beenden. Auf diese Weise haben die USA die von Erdoğan und anderen türkischen Vertretern seit Monaten geäußerte Drohung gegenüber Rojava überhört und dem Angriff den Weg geebnet. So zogen sie einen Tag vor dem Angriff ihre Soldaten aus Serê Kaniyê und Girê Spî ab und beendeten offiziell und de facto die Zusammenarbeit mit den QSD.

Das zwischen den USA und der Türkei am 16. Oktober 2019 getroffene »Waffenstillstandsabkommen« ist hierbei einmalig in der Geschichte. Es wirkt wie ein lächerlicher Taschenspielertrick, dass zwei Staaten, die sich nicht gegenseitig bekriegen und sich sowohl im gleichen Lager befinden als auch NATO-Partner sind, ein »Waffenstillstandsabkommen« abschließen.

Die USA, die die türkische Besatzung genehmigten, veröffentlichten im Rahmen des Treffens mit türkischen Staatsvertretern in Ankara einen Text, in dem in 13 Punkten die »Besatzung« legitimiert wird. Nach dem Treffen erklärte Trump, die Kurden müssten aus ihren Gebieten geschafft und nach Deira Zor gebracht werden: »Der Waffenstillstand läuft gut. Es ist Zeit, dass die Kurden in die Ölgebiete gehen. Sie gehen in neue Gebiete. Das Öl ist gesichert.«

»Waffenstillstandsabkommen« ist gleichzeitig ein Friedensvertrag mit den dschihadistischen Gruppen

Dieses Abkommen legitimiert die Besetzung Rojavas durch die Türkei und den IS. Es legt die türkische Besatzung auf syrischem Boden fest und sieht vor, dass die Kurden entlang der türkisch-syrischen Grenze in einer Tiefe von 35 Kilometern aus der Region vertrieben werden. Das zwischen den USA und der Türkei getroffene »Abkommen« zur Waffenruhe sieht für beide keinerlei Pflichten vor. Nicht der Besatzer wird dazu angehalten, sich zurückzuziehen, sondern die Gesellschaft, deren Territorium besetzt wird, und deren Selbstverteidigungskräfte werden dazu gezwungen, sich zurückzuziehen.

Das von bilden Staaten vereinbarte »Waffenstillstandsabkommen« ist gleichzeitig ein Friedensvertrag mit den dschihadistischen Gruppen, die zuvor von den USA als terroristisch erklärt worden waren. Denn abkommengemäß ziehen sich die Kurden 35 km von der Grenze zurück und Mitglieder der dschihadistischen Gruppen und deren Familienangehörige sollen dort angesiedelt werden.

Das am 22. Oktober 2019 in Sotschi nach dem Treffen zwischen Putin und Erdoğan verabschiedete 10-Punkte-»Abkommen« hat die »Waffenstillstandsvereinbarung« bestätigt. Russland erklärte entsprechend den türkischen Forderungen, dass sich die Kurden 35 Kilometer von der Grenze zurückziehen müssten und die Besatzung durch den türkischen Staat und die zuvor als terroristisch erklärten Gruppen in Rojava und Nordsyrien unterstützt werde.

Das in Russland unterzeichnete Sotschi-Abkommen hat die Verantwortung zum Schutz der territorialen Einheit und politischen Souveränität Syriens nicht der syrischen Armee, sondern der »Syrischen Nationalarmee« (SNA) übertragen, die aus von der Türkei abhängigen Gruppen zusammengesetzt ist. Somit bestätigte Russland die Legitimität der als Syriens Nationalarmee betitelten »Armee«, die aus Gruppen von Al-Qaida, Al-Nusra, Ahrar al-Scham und IS besteht.

Zusammenfassend ist festzustellen: Der türkische Staat hat zusammen mit seinen dschihadistischen Verbündeten mit Zustimmung und Unterstützung Russlands und der USA Rojava besetzt. Die USA haben ihre Soldaten zurückgezogen und ihre Stützpunkte aufgelöst. Die Kurden schlossen daraufhin mit Syrien und Russland eine Vereinbarung über die gemeinsame Verteidigung der Grenzen. Doch Syrien schickte seine Soldaten nicht an die Grenze und wartete auf die Realisierung der Besatzung.

Im Zuge der Angriffe der Türkei haben die USA und Russland den syrischen Luftraum für die türkischen bewaffneten Drohnen und Kampfflugzeuge geöffnet und somit der Überlegenheit der QSD und YPG/YPJ über die türkische Armee am Boden ein Ende gesetzt. Dadurch bekamen die türkische Armee und ihre dschihadistischen Verbündeten die Möglichkeit, mithilfe von Luftangriffen vorzurücken.

UNO, USA und Russland scheinen sich darüber verständigt zu haben, der Türkei eine mögliche »Sicherheitszone« an der Grenze zu übergeben. Die Besuche Erdoğans am 22. Oktober in Russland und am 13. November in den USA verfolgten das Ziel, diese Besatzungspläne auszuweiten.

Strategische Allianz zur Zerschlagung der Selbstverwaltung in Rojava

Die Besatzung der Türkei zuerst in Cerablus und Azaz, Efrîn und nun in Girê Spî und Serê Kaniyê geschah nicht trotz der USA und Russland, sondern mithilfe ihrer Zustimmung und Unterstützung. So wurde die Verbindung zwischen den Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê getrennt und das in Rojava aufgebaute System der demokratischen Selbstverwaltung physisch und de facto auseinandergerissen.

Die USA, Russland, die Türkei und Syrien stecken beim Thema der Zerschlagung der Selbstverwaltung in Rojava von Anfang an in einer strategischen Allianz. Die erneute Integration der Türkei in Syrien durch die USA und Russland hängt damit zusammen.

Während des Verfassens dieser Zeilen fand am 3. und 4. Dezember der NATO-Gipfel in London statt. Die Türkei hatte vorab erklärt, den von der NATO angesichts der Russland-Gefahr vorgesehenen Baltikum-Verteidigungsplan blockieren zu wollen. Die Türkei zielte darauf ab, vor den Diskussionen über den Baltikum-Verteidigungsplan die Differenzen innerhalb der NATO auszunutzen, um die Besatzung in Nordsyrien in eine gemeinsame »NATO-Besatzung« umwandeln zu lassen. Türkische staatliche Vertreter erklärten, die für das Baltikum und Polen vorgesehene NATO-Verteidigung müsse auch für die Türkei gewährleistet werden. Man werde den Baltikum-Plan angesichts der Gefahren an der syrischen Grenze nicht akzeptieren, wenn die YPG nicht in die Terrorliste aufgenommen werden würden. Wenn die Türkei diese Sichtweise durchsetzt und die NATO in einer gemeinsamen Entscheidung PYD und YPG in die Terrorliste aufnimmt, wird die Besatzung in Rojava und Nordsyrien als NATO-Operation an Legitimation gewinnen. Der Türkei wird so garantiert, als NATO-Partner in den besetzten Gebieten bleiben zu dürfen.

»PKK gefährlicher als der IS«

Das Projekt der ethnischen Säuberung und der Vertreibung der Kurden wird Schritt für Schritt realisiert. Aber auch der Kampf der Kurden und der Völker Nordsyriens dagegen dauert weiter an. Die Basis für diese sehr komplizierten, flexiblen und schwer verständlichen Beziehungen und Bündnisse bildet der antagonistische Widerspruch und Konflikt zwischen kapitalistischer und demokratischer Moderne.

UNO, USA und Russland sind besorgt, dass sich ein demokratisches, ökologisches und geschlechterbefreites Gesellschaftssystem – ein Projekt des kurdischen Vordenkers Öcalan und unterstützt von der PKK – in einer Region wie dem Mittleren Osten als lebendiges Beispiel und als Alternative zum bestehenden System weiter ausweitet. Die Äußerung Trumps, der hier direkte Beziehungen mit den QSD, YPG und YPJ pflegt, dass »die PKK gefährlicher als der IS« sei, ist Ausdruck dieser Furcht. So werden QSD, YPG und YPJ offen als Verbündete der Koalition anerkannt, nicht aber der Demokratische Rat Syriens (MSD) und die Räte der Kantone sowie die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) als politischer Wille.

Es ist eine gemeinsame Haltung der UNO, der USA und Russlands, dass im Rahmen der Lösungsverhandlungen für Syrien wieder kein politischer Vertreter der demokratischen Selbstverwaltung zur siebten Runde der Genfer Friedensgespräche und in die Verfassungskommission für Syrien eingeladen wurde. Diese Haltung demonstriert den strategischen und tiefen Krieg zwischen kapitalistischer und demokratischer Moderne.

Die Kriegsverbrechen des deutschen Staates in Kurdistan

In Deutschland hergestellte Giftgase und chemische Waffen wurden im Laufe des letzten Jahrhunderts in Kriegen in Kurdistan eingesetzt, nicht nur beim Massaker von Dersim 1938. Die Beteiligung wurde immer wieder belegt.

Neue Dokumente ergaben, dass beim Völkermord von Dersim zwischen 1937 und 1938 deutsches Giftgas verwendet wurde. Die Bundesregierung behauptete dennoch, keine Kenntnisse über die Geschehnisse zu haben. Die Dersim-Zeitung und die Zeitung Yeni Özgur Politika veröffentlichten jedoch Dokumente, wonach Mustafa Kemal „Atatürk“ von Nazideutschland Giftgas für den Dersim Genozid gekauft hat.

Die Bundesregierung nahm keine Stellung zu den Dokumenten. Die Bundestagsabgeordnete und innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, erklärte gegenüber ANF, in Deutschland hergestellte Giftgase würden von Dersim bis Halabdscha wiederholt bei Verbrechen gegen Kurd*innen eingesetzt. Deutsche Waffen in den Händen türkischer Soldaten, aber auch des Saddam-Regimes, haben schwere Schäden in Kurdistan angerichtet. Das irakische Baath-Regime kaufte von Deutschland Waffen, die es gegen Kurd*innen in Südkurdistan einsetzte. Die deutsche Firma Züblin, schon aus der Nazizeit wegen Zwangsarbeit berüchtigt, stellte Infrastruktur für die Herstellung des beim Massenmord in Halabscha eingesetzten Giftgases her. Auch beim schmutzigen Krieg in Nordkurdistan in den 90er Jahren waren es deutsche Panzer, Leopard und BTR-60, die aus NVA-Beständen stammten, welche Menschen zu Tode schleiften und über 4.000 kurdische Dörfer zerstörten. Deutsche Panzer rollten auch 2016 bei der Zerstörung der Städte Cizîr (Cizre), Sûr, Şirnex (Şırnak) und vielen anderen Orten durch die Straßen. Hunderte Zivilist*innen wurden bei den Ausgangssperren durch mit deutscher Lizenz produzierten G-36-Gewehren ermordet.

Die Türkei setzte wiederholt chemische Waffen sowohl gegen die Zivilbevölkerung als auch gegen die Guerilla in Kurdistan ein. Dieses Giftgas stammt auch aus Deutschland. Einige Beispiele sollten folgen:

Der Massenmord von Halabdscha

Am 16. März 1988 wurden in Halabdscha mindestens 5.000 kurdische Zivilist*innen vom Regime Saddam Husseins mit Giftgas ermordet. Das Gas wurde in einer Fabrik in Samarra vom Regime hergestellt. Aber an vielen Phasen der Produktion waren deutsche Unternehmen beteiligt. So beteiligte sich Züblin am Bau der Fabrik. Water Engineering Trading GmbH aus Hamburg lieferte die Verschraubungstechnik zur Herstellung des Gases. Andere Profiteure sind unter anderem die hessische Karl Kolb AG in Hessen, die Ausgangsstoffe und Laborgeräte lieferte. Die Firmen aus Deutschland, wie Karl Kolb / Pilot Plant und WET, die die Ausgangsprodukte für die Giftgasproduktion geliefert hatten, behaupteten, dass es sich um Unkrautvernichtungsmittel gehandelt habe. Mindestens 52 Prozent aller Giftgasanlagen im Irak kamen von deutschen Firmen, andere Quellen sprechen sogar von 70 Prozent. Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten, die Bundesregierung scheint die Aufrüstung des Saddam-Regimes mit Giftgas nicht gestört zu haben. Insbesondere die Kohl-Regierung unterstützte die Waffenhändler, von denen nur drei belangt wurden. Sie erhielten geringe Bewährungsstrafen.

Die deutschen Journalisten Hans Leyendecker und Richard Rickelmann haben ein Buch mit dem Titel „Exporting Death: Deutscher Waffenskandal im Nahen Osten“ veröffentlicht. In dem Buch beschreiben sie ausführlich, wie deutsche Unternehmen mit Saddam Hussein kooperierten und wie Deutschland sich am Halabdscha-Genozid beteiligte.

Chemiewaffen gegen die Guerilla

Obwohl völkerrechtlich verboten, wurde in den 30 Jahren Krieg der türkischen Armee gegen die PKK immer wieder Giftgas eingesetzt. Auch dieses Gas stammte oftmals aus Deutschland. Ein Beispiel ist der Mord an 20 PKK-Guerillas in einer Höhle in Şirnex am 11. Mai 1999.

Videomaterial, das während der Zusammenstöße an diesem Tag von der türkischen Armee aufgenommen wurde, wurde 2011 von Roj TV und ANF veröffentlicht. Ein Soldat sagte in dem Video: „Unsere Soldaten sind gerade mit der Gefahr einer Vergiftung konfrontiert. Aber sie marschieren weiter, wie Bestien, wie Helden. Wir haben uns einen Tag frei genommen, aber das Gas ist immer noch wirksam.“ Türkische Soldaten sind zu sehen, wie sie unter dem Kommandanten Necdet Özel, späterer Generalstabschef, in die Höhle vorrückten.

Giftgaseinsatz gegen kurdische Guerillakämpfer
(kurdistannuce, Nov 2011, german subtitles)

Einige Bombenfragmente aus der Ballikaya-Region wurden von einem Reporter nach Deutschland gebracht und durch ein Labor untersucht. Die Inspektion im Forensic Science Institute der Universität München ergab Spuren des im Krieg verbotenen CS-Gases an den Fragmenten. Im ZDF wurde am 27. Oktober 1999 im Fernsehmagazin „Kennzeichen D“ gezeigt, dass das Gas RP707 seit 1995 von der Firma Buck & Depyfag mit Zustimmung der Bundesregierung an die Türkei verkauft wurde.

Insbesondere in der jüngeren Vergangenheit gab es immer wieder Giftgaseinsätze der türkischen Armee. Die effektive Untersuchung sowohl der Leichen als auch genommener Proben wurde jedoch vom deutschen Staat verhindert und Anzeigen nach dem Völkerstrafrecht verschleppt und eingestellt.

Quelle: ANF – Die Kriegsverbrechen des deutschen Staates in Kurdistan

Rojava ist Widerstand

BETEILIGUNG VON INTERNATIONALIST*INNEN IN ROJAVA

International Volunteers of the Rojava Revolution
(Unicorn Riot, Feb 2019)

In 2019, Unicorn Riot interviewed three New Yorkers who volunteered to fight alongside the Peoples’ Protection Units (YPG) and Syrian Democratic Forces against ISIS and Turkey. The documentary features their oral accounts overlaid with contributed footage from anonymous sources to bring you a first person point of view of what happened to fighters as they held the front line in defense of Rojava, an autonomous zone in northern Syria. The three men share their perspectives of what they witnessed while playing a small role in the Syrian Civil War as international volunteers for the YPG.

Foreigners Fighting ISIS in Syria: The War of Others
(VICE, April 2016, deutsch, english subtitles)