Vom Arabischen Frühling zur Demokratischen Föderation Nordsyrien

Rojava ist die Geschichte des kurdischen Widerstands in Syrien

Mitten in den syrischen Bürgerkriegswirren hat die vor allem kurdische Bevölkerung von Rojava eine Zone des Friedens und relativer Sicherheit geschaffen. Bis zu dem berüchtigten Angriff des ›Islamischen Staats‹ (IS) auf Kobanê im Herbst 2014 und seit Januar 2018 der völkerrechtswidrigen Invasion der türkischen Armee in den Kanton Afrîn, hat die Selbstverwaltung den Bürgerkrieg bislang aus den Dörfern und Städten Rojavas heraushalten können und dort eine ausgesprochen demokratische Entwicklung eingeleitet. Durch autonome Selbstverteidigungskräfte (YPG/YPJ) und polizeiliche Sicherheitskräfte (Asayiş) war es möglich, die Grenzen der drei Kantone nach außen gegen die verschiedenen Bürgerkriegsparteien zu sichern und im Innern eine friedliche Gesellschaft auf demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien aufzubauen.

Unter Achtung der verschiedenen kulturellen und religiösen Besonderheiten sind alle Völker und sozialen wie politischen Gruppen, die sich an der Selbstverwaltung und autonomen Regierung Rojavas konstruktiv beteiligen wollen, aufgerufen, an diesem basisdemokratischen Experiment teilzunehmen und mit den alltäglichen praktischen Hürden umzugehen. Doch was ist Rojava eigentlich und warum bietet es eine demokratische und friedliche Perspektive für die ganze Region?

Rojava ist zunächst einmal der Name des mehrheitlich von KurdInnen bewohnten Landstrichs im Norden Syriens, südlich der Grenze zur Türkei. Hier leben etwa 2 Mio. Menschen, zur Zeit noch einmal knapp die gleiche Anzahl an syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Mit Beginn des syrischen Aufstands wurden dort bereits Jahre zuvor vorbereitete politische und soziale Strukturen gebildet, die eine Selbstverwaltung in politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Hinsicht ermöglichen. Es wurden Räte und provisorische Verwaltungen gebildet, Selbstverteidigungskräfte aufgestellt und Wirtschaftskooperativen gegründet.

Die Revolution in Rojava

Im Januar 2014 konstituierten die die drei noch räumlich voneinander getrennten Enklaven Afrîn, Kobanê und Cizîrê sich als unabhängige Kantone, schlossen sich in einer Föderation zusammen und gaben sich eine gemeinsame politische Verfassung: den Demokratischen Konföderalismus. Aus Demonstrationen heraus wurden Regierungs- und Verwaltungsgebäude besetzt und die militärischen Verbände des Assad-Regimes durch Blockaden vor den Kasernen gezwungen, abzuziehen.

Kurz darauf haben die drei Kantone eine schriftliche Verfassung verabschiedet, den sogenannten ›Gesellschaftsvertrag‹, der Frieden, Freiheit, Menschenwürde und Demokratie garantiert und die BürgerInnen vor Nationalismus, Militarismus und religiösem Fundamentalismus schützt. Dieser Gesellschaftsvertrag garantiert die grundlegenden Menschenrechte, die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht auf Arbeit und Wohnen, das Recht auf (kostenlose) Bildung und Gesundheitsversorgung, ein Asylrecht, Pressefreiheit, Religionsfreiheit u.v.m. Er erklärt Kinderarbeit und Kinderheiraten, Folter und Todesstrafe sowie den Missbrauch von Religion für politische Zwecke als verfassungswidrig. Alle diese Praktiken sind in Syrien und die meisten davon auch in den Nachbarstaaten gang und gäbe! Selbst im demokratischen Israel wird Folter toleriert (vgl. AI-Report 2016/2017) und es gibt die Todesstrafe, auch wenn sie zur Zeit nicht vollstreckt wird. Insofern ist der Gesellschaftsvertrag von Rojava bereits eine kleine Menschenrechts-Revolution für sich. Er garantiert darüber hinaus den nachhaltigen Umgang mit der Natur und das Recht auf ein Leben in einer intakten ökologischen Umwelt als Verfassungsrecht. Das ist in der Tat weltweit einmalig!

Vom Widerstand in Kobanê zur Demokratischen Föderation Nordsyrien

Das freiheitliche Projekt Rojava musste notwendigerweise die Feindschaft aller Despoten um sich herum auf sich ziehen. Während man mit dem an allen Fronten unter Druck geratenen Assad-Regime eine Stillhaltevereinbarung treffen konnte, schwang sich der Despot im Norden, der türkische Präsident Erdoğan, zum aggressivsten Gegner auf. Heute ist bekannt, dass der türkische Geheimdienst den IS massiv finanziert und aufgerüstet hat, unter der Absprache dass er Rojava angreift. Der fundamentalistische IS war Ankaras natürlicher Bündnispartner, denn insbesondere die Erfolge hinsichtlich der Frauenbefreiung und die säkulare Haltung Rojavas sind mit dem Fundamentalismus des IS unvereinbar.

Wir wissen alle noch, wie diese Intrige ausgegangen ist: Die zunächst überlegenen islamistischen Banden konnten unter fürchterlichen Kriegsgräueln bis in das Stadtzentrum von Kobanê vordringen, wo sie dann von den letzten verbliebenen Selbstverteidigungskräften (YPG & YPJ) in einem aufopferungsvollen Kampf aufgehalten wurden. Der weltweite Aufschrei der Zivilgesellschaften gegen den drohenden Genozid und die massiven Unterstützungsaktionen der internationalen Solidaritätsbewegungen hatten schließlich die USA so weit unter Druck setzen können, dass sie – in sprichwörtlich letzter Sekunde – zugunsten der YPG/YPJ eingriffen. Im Februar 2015 war die Stadt Kobanê von den Schergen des IS schließlich befreit.

Weil die Menschen in Rojava verstanden hatten, dass die Integrität der Region und somit ihre Sicherheit nur gewährleistet werden kann, wenn der IS vollständig aus Syrien vertrieben sein würde, hatte die Selbstverwaltung den Entschluss gefasst, von nun an weitere Regionen Syriens vom Joch des IS zu befreien. Da diese Regionen aber nicht alle mehrheitlich kurdisch besiedelt sind, aber auch weil die Freiheitsbewegung sich gar nicht als national kurdisch versteht, wurde das bereits während des Abwehrkampfes von Kobanê gestrickte Bündnis mit arabischen, assyrisch-christlichen, ezidischen und turkmenischen Bewegungen, die alle ebenfalls ein föderatives basisdemokratisches Politikmodell für Syrien anstreben, intensiviert und gemeinsam die „Demokratische Föderation Nordsyrien“ ins Leben gerufen.

Ein erstes wichtiges Ziel war die territoriale Verbindung der drei Kantone, was bisher nur zwischen Kobanê und Cizîrê gelingen konnte. Als das gemeinsame Militärbündnis der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) den Euphrat Richtung Afrîn überquerte und die IS-Verbände entlang der türkisch-syrischen Grenze bereits so gut wie vertrieben waren, intervenierte zum ersten Mal türkisches Militär direkt auf syrischem Boden und marschierte genau in der Region ein, die Kobanê und Afrîn miteinander hätte verbinden sollen. Afrîn blieb somit ein völlig isolierter Kanton in der Föderation, was den Menschen dort im Frühjahr 2018 durch die erneute türkisch-islamistische Aggression zum Verhängnis geworden ist.

Im Süden von Rojava hingegen gelang es den SDF unter größtmöglichem Einsatz bis zur ehemaligen IS-Hauptstadt Raqqa vorzudringen und die Bevölkerung dort von der Terrorherrschaft der Islamisten zu befreien.

Heute ist die Demokratische Föderation Nordsyrien in drei föderale Regionen gegliedert, in denen sich jeweils zwei Kantone zusammengeschlossen haben: Cizîrê (mit den Kantonen Hesekê und Qamişlo), Firat (Kobanê und Girê Spî) und Afrîn (Afrîn und Şehba). Auch wenn der Kanton Afrîn zur Zeit von türkischen und dschihadistischen Truppen besetzt ist, so zählt er weiterhin zu Rojava. Die Selbstverteidigungskräfte haben sich nach Wochen des Widerstands entschieden, die Bevölkerung in Richtung Aleppo und nach Şehba zu evakuieren und fortan in einem Guerillakampf um die Befreiung Afrîns einzutreten. Die Zukunft wird zeigen, wie lange sich die fremden Mächte dort halten können. Vieles hängt auch von den Interessen Russlands, Syriens, der EU und der USA ab.

Umso wichtiger ist es für die internationale Solidarität, Zuhause immer wieder auf die Zustände in Afrîn aufmerksam zu machen, wo neuerdings Kopftuchzwang herrscht, wo geplündert, gemordet und vergewaltigt wird, wo Frauen und Mädchen entführt werden, entweder um Lösegelder zu erpressen oder sie sexuell zu versklaven. Am dramatischsten ist die Situation für die EzidInnen in Afrîn, die von massenhaften Zwangskonvertierungen zum Islam berichten. Dem gegenüber steht das auf humanistischen Werten, auf Gleichberechtigung und Solidarität fußende Gesellschaftsmodell des Demokratischen Konföderalismus, das in Rojava und neuerdings auch in den vom IS befreiten arabisch besiedelten Gebieten rund um Raqqa im Osten Syriens praktiziert wird.

Interview mit Radio Corax – Besetzung und Kampagne

Radio Corax ist ein Freies Radio im Raum Halle, welches eng mit diversen Subkulturen und Musik-Szenen verbunden ist. Als nichtkommerzielles Lokalradio sendet Radio Corax 24 Stunden täglich. Corax ist Mitglied im Bundesverband Freier Radios (BFR) und im Community Media Forum Europe (CMFE). Seit 2013 ist Radio Corax auch Mitglied bei AMARC. Getragen wird der Sender vom gemeinnützigen Radioverein Corax e. V., der 1993 gegründet wurde. Die Sendungen werden zum größten Teil von eigenen Redaktionen gestaltet. Diese bestehen aus Einzelpersonen, Künstler*innen, Migrant*innen, Schüler*innen, Kindern, antirassistischen und anderen Projektgruppen.

Beitrag vom 20.05.2020

Radio Corax: Im Oktober [2019] gab es die [CDU-]Besetzung. Was war der Anlass für die Besetzung?

CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!: Der Anlass war der Krieg gegen die Selbstverwaltungsgebiete in Rojava also praktisch Nordostsyrien. Der türkische Staat hat am 9. Oktober 2019 mit einer Großoffensive begonnen, die kurdisch besiedelten Städte anzugreifen und einen ethnischen Säuberungskrieg durchzuführen. Wir sahen die CDU in der Verantwortung, durch ihre Waffenexporte, durch die Duldung des Krieges und die Finanzierung von Erdogans Regime. Der Anlass, die CDU zu besetzen, war auch, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass die Verantwortlichen auch hier sind, nicht nur in Chemnitz und Leipzig, dass die Kriegsverantwortlichen nicht nur aus Ankara und Moskau stammen, sondern auch in Berlin im Bundestag organisiert sind.

Radio Corax: Inwiefern gibt es eine Verantwortung von der deutschen Politik für den türkischen Angriffskrieg?

CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!: Die deutsche Politik war in den letzten 20 Jahren verantwortlich für fast alle Kriege auf diesem Planeten. Wenn wir uns die Studien anschauen, die 2018 raus kamen, zeigen sie, dass alle elf Minuten ein Mensch durch eine deutsche Kugel stirbt. Wir müssen uns die Statistiken anschauen, wie das Geschäft von Waffenexporten in Deutschland den weltweit den dritten Platz einnimmt und Milliardengeschäfte gemacht werden und vor allem an die Türkei verkauft wird, seien es leichte oder schwere Waffen, wie Leopard II Panzer, die auch in dem Krieg [in Rojava] eingesetzt werden. Die Panzer, die in Deutschland produziert wurden, sind gerade in den Händen der Dschihadisten, die mit der türkischen Armee Städte [in Rojava] besetzt haben und der Krieg geht immer noch voran.

Radio Corax: Die Besetzung zielte darauf ab, eine Öffentlichkeit zu schaffen. Was wurde durch die Besetzung erreicht?

CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!: In meinen Augen wurde durch die Besetzung der CDU vieles erreicht, weil der Öffentlichkeit gezeigt wurde, dass die Hauptursache von Flucht Krieg ist und diese Kriege zwar, wie deutsche Politiker*innen immer behaupten, im Hintergrund stattfinden, also in Lybien, Syrien, im Irak oder in Kurdistan, aber diese Kriege nicht nur von Ankara befürwortet werden, sondern auch von Berlin, Moskau und Washington vorbereitet sind. Die Öffentlichkeit muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch wir Verantwortung tragen.

Radio Corax: Welche Reaktionen gab es [auf die CDU-Besetzung] in Chemnitz?

CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!: Es gab verschiedene Reaktionen. Einerseits haben Teile der Bevölkerung die Aktion befürwortet, als sie davon erfahren haben, andererseits kam es auch dazu, dass sich [zwei] Neonazis um die Kundgebung versammelten und Provokationen stattfanden. Wie man sieht, wird der Faschismus, werden die Neonazis hinter der CDU stehen, weil auch sie die Waffenexporte befürworten, aber die demokratische Zivilgesellschaft steht hinter uns und hat ihre Solidarität bekundigt. Zum Beispiel die Jugendlichen aus Chemnitz [von Fridays For Future] haben spontan eine Kundgebung angemeldet.

Radio Corax: Wie lief die Besetzung ab? Wann ist die Polizei eingeschritten?

CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!: Die Polizei kam höchstens zehn Minuten nach Beginn der Besetzung, als es schon die erste Mitteilung der Aktion über Social Media gab. Die [Mitarbeiterin der CDU] hat der Polizei so schnell wie möglich Bescheid gegeben und diese erschien mit einer Aggressivität, als wäre in dem CDU-Büro in Verbrechen begangen worden. Einige Genoss*innen wurden auch verletzt, weil die Polizist*innen der Meinung waren, dass man ihnen weh tun kann.

Radio Corax: Welche Strafverfahren wurden im Nachgang eröffnet?

CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!: Es gibt gegen jede*n Besetzer*in Strafverfahren wegen Hausfriedensbruch und Nötigung [sowie wegen Verstoß gegen das Sächsische Versammlungsgesetz. Eine Person, welche vor dem CDU-Büro eine Pressemitteilung abgegeben hat, wurde wegen Mittäterschaft angezeigt]. Die meisten haben noch keine Post von der Staatsanwaltschaft bekommen, aber dass polizeiliche Ermittlungen gegen uns laufen, ist uns bekannt.

Radio Corax: Kann man schon absehen, in welchem Rahmen sich die zu erwartenden Strafen bewegen?

CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!: Ich erwarte keine hohen Strafen, wir werden allerdings versuchen, diesen Prozess so politisch wie möglich zu halten, weil es einen Anlass für diese Aktion gab. Es gibt einen Anlass dafür, dass hunderttausende Menschenleben gefährdet wurden und sind und dafür, dass sich die Politik ändern muss.

Radio Corax: Jetzt gibt es eine Spendenkampagne für diejenigen, denen Strafprozesse drohen. Wie kann die Kampagne unterstützt werden?

CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!: Es gibt [Flyer und] Plakate mit dem Spendenkonto, [sowie eine Website der Kampagne]. Auch auf anderen Websites wie Indymedia oder Social Media wie Facebook und Twitter wurde der Spendenaufruf verbreitet. Die Kampagne ist auch ein Aufruf, zur Legitimität von Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie Besetzungen von politischen Parteibüros, und dass diese nicht in die Illegalität rücken dürfen. Die Jugendlichen, die sich in der Verantwortung gesehen haben, sich gegen so einen Krieg zu stellen, gegen ein Menschheitsverbrechen, müssen weiterhin unterstützt werden, damit sie nicht nur politische Aktionen wegen Rojava machen können, sondern [wegen den Zuständen] überall auf der Welt, zum Beispiel weil während der Corona-Pandemie das Mittelmeer ein noch viel düsterer Friedhof wird. Solchen Jugendlichen muss die Möglichkeit gegeben werden, weiterhin Aktionen zu machen.