Atatürk und die Nationalsozialisten

Quelle: ANF – Atatürk und die Nazis

Türkische Handelskammer in Berlin am 26. Februar 1943


Eine blutige Operation

Schätzungsweise 50.000 kurdische Alevit*innen wurden in den Jahren 1937/38 im Zuge des Massakers in Dersim getötet – zuvor hatte die kemalistische Türkei 1937 bei den Nazis in Deutschland Giftgas eingekauft, um es gegen die rebellischen kurdischen Alevit*innen in Dersim einzusetzen. Ein geheimes Dekret über die Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas und Chloracetophenon nebst einer automatischen Abfüllanlage vom 7. August 1937 trägt die Unterschrift Atatürks. Die Bestellung erfolgte, nachdem die türkische Regierung in einem Geheimbeschluss eine „Endlösung“ für die Bergprovinz Dersim beschlossen hatten, deren kurdisch-alevitische Bewohner sich der von Ankara erzwungenen Türkisierung widersetzten und auf althergebrachten Autonomierechten bestanden. Schätzungsweise 50.000 kurdische Aleviten wurden in den Jahren 1937/38 in Dersim, das von der Regierung in den türkischen Namen Tunceli (Bronzefaust) umbenannt worden war, von der türkischen Armee ermordet. Dass damals auch Giftgas zum Einsatz kam, hatten Zeitzeug*innen berichtet. Auch der ehemalige türkische Außenminister Ihsan Sabri Caglayangil bestätigte in einem Tondokument den Einsatz solcher Waffen. „Sie hatten in Höhlen Zuflucht gefunden. Die Armee hat Giftgas benutzt – durch Eingänge der Höhlen. Sie wurden vergiftet wie die Ratten. Sieben- bis siebzigjährige Dersimer Kurd*innen wurden geschlachtet. Es war eine blutige Operation.“

Von türkischen Soldaten gefangen genommene Zivilist*innen in Dersim, 1937


CHP: Reflexartig Gewehr bei Fuß

Die in der ARD-Sendung („Das vergessene Massaker – Wie Kemal Atatürk Aleviten ermorden ließ„) präsentierten Dokumente mit Atatürks Unterschrift waren im Frühjahr 2019 erstmals in der Dersim Gazetesi und anschließend u.a. von Arti Gercek und Yeni Özgür Politika veröffentlicht worden, ohne aber außerhalb linker, kurdischer und alevitischer Kreise größere Wogen zu schlagen. Damals war Oberbürgermeisterwahlkampf in Istanbul und der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu war auf die Stimmen der kurdischen und alevitischen Wähler angewiesen. Über die Vergangenheit wurde daher von Seiten der Kemalist*innen lieber geschwiegen, um diese Wählergruppen nicht wieder zu entfremden. Derartige Rücksichtnahme ist heute, wo ein Großteil der Kemalist*innen einschließlich Imamoglu angesichts des türkischen Angriffskrieges auf die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien wieder reflexartig Gewehr bei Fuß an der Seite des Staates steht, nicht mehr nötig. Stattdessen wird jetzt der antikurdische Schulterschluss zwischen Kemalist*innen aus CHP und Dogu Perinceks Vaterlandspartei, AKP-, MHP- und IYI-Anhänger*innen geprobt.

Hakenkreuze gegen Halbmond ausgetauscht

Hitler selbst war ein großer Bewunderer Atatürks und unter den Nazis gab es ein regelrechtes „Türkenfieber“. In einem Interview mit der türkischen Zeitung „Milliyet“ erklärte Hitler im Juli 1933, Atatürk sei für ihn in seiner Münchner „Kampfzeit“ ein „leuchtender Stern“ gewesen. Eine Atatürk-Büste des NS-Bildhauers Jose Thorak soll eine von Hitlers liebsten Besitztümern gewesen sein. Und 1933 veranstaltete die SA in Berlin eine Feierstunde zum zehnjährigen Bestehen der türkischen Republik.

Türkischer Armeegeneral Cemil Cahit Toydemir (Mitte) mit Adolf Hitler und Wilhelm Keitel im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“, Juni 1943

Umgekehrt beklagte Atatürk nach Aussagen seiner Adoptivtochter Sabiha Gökcen im Jahr 1937, dass Hitler ein „Rassist“ sei. „Er ist ein Wahnsinniger, der die Deutschen als eine besondere, gehobene Rasse betrachtet“ erklärte Atatürk. Da Atatürk schon die Türken als eine solche besondere gehobene Rasse ansah, mussten die Weltanschauungen der Nazis und der Kemalisten in diesem Punkt zwangsläufig kollidieren. Es ist zwar richtig, dass die Regierung in Ankara von den Nazis politisch oder rassisch als Juden verfolgten deutschen Wissenschaftlern Zuflucht bot, um deren Fähigkeiten für den Aufbau des türkischen Staates zu nutzen. Doch gleichzeitig zeigte die kemalistische Führung offene Sympathie mit zentralen Elementen der faschistischen Ideologie, was die Nazis zur Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Türkei nutzten. Der deutsche Botschafter in Ankara, Franz von Papen, beeinflusste die Panturkisten-Bewegung um Alparslan Türkeş – den späteren Führer der Grauen Wölfe – im Sinne der völkischen Weltanschauung der Nazis. Und deutsche Berater bauten damals den Militärgeheimdienst der Türkei auf. Auch Flugzeuge, die zum Abwurf von Gasbomben über Dersim eingesetzt wurden, kamen zum Teil aus Deutschland. So orderte Ankara 24 zweimotorige Bomber vom Typ He 111 J. Die in den Heinkel-Werken Oranienburg (HWO) gefertigten Flugzeuge wurden ab Oktober 1937 über Bulgarien nach Istanbul geliefert. Es gibt noch Bilder, die zeigen, wie türkische Soldaten die Hakenkreuze an den Flugzeugen gegen den türkischen Halbmond austauschen.

1937: Türkischer Soldat ersetzt Hakenkreuz an einem Heinkel-Bomber durch einen türkischen Halbmond


Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt

Das Deutsche Reich wurde zwischen 1933 und 1938 zum größten Rohstoffimporteur und wichtigsten Partner beim Aufbau der türkischen Industrie. Die Beziehungen beider Länder erreichten einen ähnlichen Stand wie vor dem Ersten Weltkrieg. Die offiziell neutrale Türkei hielt unter Atatürks Nachfolger Ismet Inönü dem Deutschen Reich mit Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes vier Tage vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 militärisch den Rücken frei.

Am 18. Juni 1941 unterzeichneten der deutsche Botschafter Franz von Papen und der türkische Außenminister Şükrü Saracoğlu in Ankara den deutsch-türkischen Freundschaftsvertrag und den Nichtangriffspakt.

Dazu kamen umfangreiche Rohstofflieferungen für die deutsche Rüstungsproduktion. „Seit die Donau ins Schwarze Meer fließt, sind die Deutschen und die Türkei gezwungen, in einem sich ergänzenden Wirtschaftsraum zu leben. Die Welt muss der Realität entsprechend gesehen werden“, rechtfertigte Yunus Nadi, Chefredakteur der kemalistische Zeitung Cumhuriyet, 1941 diese Politik. Die Cumhuriyet schmückte ihre Titelseite mit den Bildern Inönüs und des „Führers“. Lediglich von symbolischer Bedeutung war am 23. Februar 1945 die Kriegserklärung Ankaras an das bereits besiegte Deutsche Reich.

„Innige Gratulationen zwischen unserem Nationalen Oberhaupt („Millî Şef“) und dem Führer” , Titeilseite der Cumhuriyet am 21. Juni 1941

BRD als Global Player

Quelle: ANF – Wenn Deutschland weltweit „Verantwortung übernimmt“

Deutschland ist tiefer in die globale politische, wirtschaftliche, soziale und militäri-sche Krise verwickelt, als manch einer wahrhaben möchte. Verfolgt man die De-batten im Land, entsteht der Eindruck, dass bei weiten Teilen der bundesdeutschen Zivilgesellschaft ein Bewusstsein für die Tragweite der globalen Krise und die Ver-wicklung Deutschlands nur sehr schwach ausgeprägt ist. Während deutsche Staats- und Regierungsvertreter unter der Losung »neue deutsche Verantwortung« seit spätestens 2013 eine klare Strategie globaler Machtansprüche verfolgen, bleibt eine gesellschaftliche Antwort aus, die den Gefahren eines deutschen Machtstre-bens in Europa und darüber hinaus gerecht wird. Bürgerinitiativen, zivilgesellschaft-liche Vereine, Stiftungen, Gewerkschaften, die Kirche, politische Parteien oder Me-dien werden daher so schnell wie möglich eine gesellschaftliche Diskussion darü-ber anstoßen müssen, welche Rolle Deutschland im 21. Jahrhundert in Europa und weltweit spielen soll. Konkret bedeutet das, eine demokratische und friedliche Visi-on für Deutschland und Europa zu entwickeln und praktisch werden zu lassen – und damit ein Gegengewicht zu dem Programm »neue deutsche Verantwortung«, das bereits heute deutsche Innen- und Außenpolitik immer kriegerischer, kompro-missloser und menschenverachtender auftreten lässt.


DER SPRUNG AUS DEM SCHATTEN DER USA

Globale Großmachtphantasien der deutschen Eliten sind älter als der deutsche Nationalstaat selbst. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts träumte man hier zu Lande von einem deutsch dominierten Europa, mit dessen Hilfe man in Konkurrenz zu Großbritannien zu einer Weltmacht werden wollte. Zwei verlorene Weltkriege später war man vorerst dazu gezwungen, sich im Schatten der USA einzuordnen und wieder zu Kräften zu kommen. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und dem dadurch entstandenen Machtvakuum weltweit wurden keine fünfzig Jahre später auch deutsche globale Machtbestrebungen wieder le-bendig. Das wiedervereinte Deutschland machte sich mehr oder weniger direkt daran, in Ost- und Südosteuropa die eigene Dominanz durchzusetzen. In Serbien war man dafür zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder bereit, die Bun-deswehr im Ausland Krieg führen zu lassen. Aber auch für den Mittleren Osten, vom Maghreb bis nach Pakistan, zeigt die bundesdeutsche Politik großes Inter-esse. Grund dafür sind neben dem Ressourcenreichtum und den potentiellen Ab-satzmärkten für deutsche Produkte auch die geostrategische Bedeutung der Regi-on. Bei der Durchsetzung deutscher Machtinteressen nahm man seit Anfang der neunziger Jahre auch Konflikte mit engen Verbündeten wie Frankreich und Eng-land, aber auch den USA in Kauf.

Mit einer gezielten Öffentlichkeitskampagne von Außenministerium und Bundes-präsidialamt wurde 2013 der Gesellschaft präsentiert, was Jahre zuvor bereits durch Debatten außenpolitischer, militärischer und wirtschaftlicher Führungskräfte vorbereitet worden war: das Programm »neue deutsche Verantwortung«. Seither bewegt sich Deutschland mit großen Schritten aus dem Schatten der US-Politik heraus. Das Mittel dafür ist altbewährt: Der Hauptpfeiler des globalen Machtstre-bens Deutschlands ist eine global konkurrenzfähige EU, die sich gemäß deutschen Interessen positioniert, und zwar auf so unterschiedlichen Feldern wie Wirtschaft, Außenpolitik, Militär, Kultur oder Sozialem. Jüngstes Beispiel dafür ist der diplomati-sche Vorstoß aus Berlin, eine eigene Marinemission im Persischen Golf zu organi-sieren – in offener Abgrenzung zu ähnlichen Plänen aus den USA. Ähnlich kann auch die Ablehnung Deutschlands gedeutet werden, sich an einer Militärmission in Nordsyrien unter US-Leitung mit Bodentruppen zu beteiligen. Die bundesdeutsche Politik will globale Machtpolitik betreiben – und zwar möglichst weitreichend zum eigenen Vorteil.


DIMENSIONEN »NEUER DEUTSCHER VERANTWORTUNG«

Die Folgen für die Gesellschaft Deutschlands sind weitreichend. Neben einem ste-tig wachsenden Anteil gesellschaftlichen Reichtums, der für militärische Zwecke bereitgestellt wird, bedarf es insbesondere einer gesellschaftlichen Stimmung, die bereit ist, deutsche Interessen global in den Vordergrund zu stellen. Nationalismus, Militarismus oder Sexismus werden in diesem Zusammenhang von verschiedens-ten Kreisen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien bewusst angeheizt. Und auch liberale Diskurse, in denen die deutsche Verantwortung für Demokratie und Wohlstand in der Welt beschworen wird, bezwecken letztendlich die Durch-setzung deutscher Großmachtphantasien. Die bundesdeutsche Politik- und Medi-enlandschaft tritt in dieser Frage immer geschlossener und selbstbewusster auf.

Was einer umfassenden Diskussion bedarf, soll an dieser Stelle nur angedeutet werden. Denn die Dimensionen »neuer deutscher Verantwortung« erstrecken sich von militärischen über wirtschaftliche bis hin zu sozialen Aspekten. Im militärischen Bereich, der aus den oben genannten Gründen eng mit der sozialen Stimmung im Land verbunden ist, lassen sich sieben wichtige Bereiche nennen, die für die Durchsetzung globaler Machtbestrebungen Deutschlands zentral sind:

1. Die Rolle der BRD in der NATO
Deutschland fungiert als NATO-Drehkreuz und nutzt damit seine geostrategische Lage im Herzen Europas, um die eigene Machtposition zu stärken. Ob zehntau-sende US-amerikanische Soldaten auf bundesdeutschem Gebiet, die Lagerung US-amerikanischer Atomwaffen oder die Koordinierung von NATO-Truppenver-legungen nach Osteuropa – bundesdeutsche Politik positioniert sich damit als un-abdingbarer Bestandteil militärischer Pläne westlicher Militärbündnisse.

2. Waffenexporte

Insbesondere die verschiedenen Merkel-Regierungen verfolgen seit Jahren eine Waffenexportpolitik, mit der eigene Bundeswehreinsätze zum Teil überflüssig ge-macht werden und die Kooperation ausländischer Regierungen gesichert wird. Ganz oben auf der Liste stehen faschistische Regime wie die Türkei oder Saudi-Arabien, aber z. B. auch die algerische Regierung, die sich seit Monaten mit Pro-testen der Bevölkerung konfrontiert sieht. Die Besetzung des vorwiegend kurdisch besiedelten Kantons Efrîn in Nordsyrien mithilfe deutscher Leopard-Panzer und G3-Gewehre zeigte Anfang 2018, wozu Partner wie die Türkei durch deutsche Waffen in die Lage versetzt werden.

3. Kriegsbeteiligung der Bundeswehr
Als Ergänzung zu milliardenschweren Waffengeschäften ist die Bundeswehr seit 1999 mit tausenden Soldaten weltweit an Kriegen beteiligt. Afghanistan, Mali, Liba-non, Jordanien, der Balkan, Syrien, der Irak oder das Südchinesische Meer sind nur einige der Einsatzgebiete. Auffällig ist, dass in den Einsatzgebieten der Bundes-wehr auch nach mehrjährigen Operationen keine Stabilität eintritt, geschweige denn demokratische Verhältnisse. Die Aufgabe deutschen Militärs scheint mehr die Stei-gerung des außenpolitischen Gewichts Deutschlands zu sein, als gesellschaftliche Konflikte im Ausland zu lösen.

4. Aufrüstungsbestrebungen
Auch innenpolitisch zeigen sich deutliche Folgen. Die Steigerung militärischer Ausgaben auf ca. siebzig Milliarden Euro in den nächsten Jahren ist erklärtes Ziel bundesdeutscher Politik. In der Öffentlichkeit und in Schulen wirbt die Bundeswehr mit professionellen Imagekampagnen für den Kriegsdienst. Weite Teile deutscher Staats- und Regierungsvertreter scheinen sich als Ziel für die nächsten Jahre auf eine militärisch schlagkräftige Bundeswehr und ein gesellschaftliches Klima geei-nigt zu haben, das Krieg im Interesse Deutschlands gutheißt. Eine materiell und ideell militarisierte Gesellschaft wird die Folge sein.

5. Militär- und Kriegsforschung
Auch bedeutende Teile des deutschen Wissenschaftsbetriebs beteiligen sich aktiv an der Umsetzung der Doktrin »neue deutsche Verantwortung«. Zahlreiche Univer-sitäten verweigern sich trotz langanhaltender Proteste konsequent einer Zivilklau-sel. Dies ermöglicht ihnen, militärische Forschungsaufträge u. a. von der Bundes-wehr anzunehmen. Grundlagenforschung für die technische Überlegenheit deut-scher Kriegstechnik gehört damit zum Alltag der deutschen Universitätslandschaft.

6. Ausbildungsmissionen im Ausland
Die deutsche Bundeswehr, aber auch die Polizei sind in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern an Ausbildungsmissionen für den dortigen Rep-ressionsapparat beteiligt. Neben dem Training von Aufstandsbekämpfung und auf ähnlichen Feldern wird bereitwillig das materielle Equipment dazu verkauft, offen-sichtlich ohne ein allzu großes Augenmerk auf die Verhältnisse in den jeweiligen Ländern zu legen.

7. Rüstungsprojekte
Rüstungsprojekte auf europäischer Ebene werden von deutschen Staats- und Regierungsvertretern offensiv gefördert. Gemeinsam mit Frankreich und anderen europäischen Ländern läuft z. B. derzeit ein auf mehrere Jahre angelegtes und ca. hundert Milliarden Euro umfassendes Projekt, in dessen Rahmen die nächste Ge-neration eines europäischen Kampfjets entwickelt und gebaut werden soll. Damit würde der Eurofighter von einem Verbund aus modernem Kampfflugzeug, Drohnen und Drohnenverbänden abgelöst. Außenpolitische und militärische Verantwortungs-träger aus Deutschland diskutieren zudem zunehmend darüber, die französischen Atomwaffen zu europäisieren. Das würde letztendlich bedeuten, dass Deutschland Zugriff auf Atomwaffen bekäme, die man sicherlich gerne mit europäischem Siegel für deutsche Interessen einsetzen würde.

Die vielfältigen Maßnahmen auf dem Feld von Militär und Polizei begleitend nutzt die deutsche Außenpolitik traditionell Stiftungen und wirtschaftslobbyistische Ver-bände für die Durchsetzung eigener Interessen. Das ist insbesondere kulturell und sozial interessant, ist man sich doch des Umstandes bewusst, dass militärische Maßnahmen allein kostspielig und riskant sind. Über Institutionen wie das Goethe-Institut oder Parteistiftungen wie die Friedrich-Naumann-Stiftung kann man kontinu-ierlich und ohne viel Aufmerksamkeit politische Kreise im Ausland unterstützen, die man in das eigene Großmachtstreben einbinden will. Ob Wirtschaftsdelegationen nach Brasilien unter Bolsonaro oder Friedrich-Naumann-Delegationen in das von Protesten erschütterte Hongkong – die deutsche Außenpolitik weiß, wie man leise und zielgerichtet Einfluss nehmen kann.


NEUER GESELLSCHAFTLICHER PROTEST GEGEN EINEN ALTEN TRAUM DES DEUTSCHEN STAATES

»Neue deutsche Verantwortung« bedeutet, Deutschland in der Welt eine Stellung zu erkämpfen, die Staat und Wirtschaft möglichst viel Macht und Profit sichert. Die oben nur kurz angedeuteten Mittel zur Realisierung dieses Projekts verdeutlichen, dass dieser Plan auf dem Rücken der Gesellschaft in Deutschland umgesetzt wird. Seit Anfang der neunziger Jahre findet mit aller Heftigkeit eine globale Krise statt, in deren Rahmen politische und wirtschaftliche Einflussbereiche weltweit neu aufge-teilt werden und in der letztendlich die Krise der kapitalistischen Ordnung ihren Aus-druck findet. Es liegt in der Natur staatlichen Machtdenkens, diese Neuordnung der Verhältnisse für die Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen. Ein Staat wie der deutsche, der seit seiner Gründung Großmachtphantasien hegt, tritt in solchen Zeiten besonders aggressiv auf. »Neue deutsche Verantwortung« ist die Losung der dazugehörigen Imagekampagne. Bleibt gesellschaftlicher Widerstand dagegen aus oder zu schwach, darf befürchtet werden, dass Deutschland düstere Jahr-zehnte erwarten, deren Tragweite auch Profis aus der Werbe- und Medienbranche nur schwer kaschieren können.

Es stellt sich daher die Frage: Wie kann die Zivilgesellschaft Deutschlands ein demokratisches und friedliches Projekt für Deutschland und Europa entwickeln, das sich moralisch-politische Prinzipien zur Grundlage nimmt? Während Staaten und Regierungen traditionell eher eigene Macht- und Profitinteressen in den Vorder-grund stellen und zu deren Durchsetzung auch vor dem Einsatz von Gewalt und Manipulation nicht zurückschrecken, liegt es im Interesse der Zivilgesellschaft, Werten wie Demokratie, Frieden und Vielfalt den Vorzug zu geben. Die deutsche Zivilgesellschaft trägt aufgrund der traditionell aggressiven Machtpolitik des deut-schen Staates eine besonders große Verantwortung für die Umsetzung dieser Werte in Europa und weltweit. Positiv ausgedrückt: Die immense europäische und globale Bedeutung Deutschlands kann von der Zivilgesellschaft genutzt werden, um Moral, Demokratie und Politik in Einklang miteinander über die Grenzen des eigenen Landes hinaus zu einem Gegenmodell zu staatlicher Macht- und Kriegs-politik zu machen. Dafür müssen die verschiedenen demokratischen Kreise im Land zusammenkommen, ein gemeinsames Verständnis der historischen Phase und der politischen Verhältnisse entwickeln und sich auf gemeinsame taktische und strategische Ziele einigen. Essentiell für ein Zusammenkommen wird sein, dass weite Teile der Gesellschaft einsehen, wie gefährlich, menschenverachtend und egozentrisch die Strategie »neuer deutscher Verantwortung« ist; und zwar für die deutsche und andere Gesellschaften. Durch gemeinsame Kongresse, Proteste und den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen wird die Gesellschaft hier zu Lande in die Lage versetzt werden, Verantwortung für sich, Europa und die Welt zu überneh-men und damit staatliches Großmachtstreben mit seinen verheerenden Folgen aktiv zu verhindern.

Ethnische Säuberung zur Lösung der „Flüchtlingsfrage“

Quelle: Civaka Azad: Ethnische Säuberung zur Lösung der „Flüchtlingsfrage“?

„Erdogan plant neuen Flüchtlings-Gipfel mit Merkel“, „Erdogan trifft Putin und Rohani“, „Turkey’s Erdogan attends Trump reception“ – diese Schlagzeilen machen deutlich: In diesen Tagen mischt der türkische Staatspräsident auf der ganz großen Bühne der internationalen Diplomatie mit. Erdogan hat Gesprächsbedarf. Er will mit den internationalen Machthabern über Syrien sprechen, insbesondere über den Norden Syriens. Damit zusammenhängend geht es auch um Idlib, dem syrischen al-Kaida Ableger Tahrir al-Sham, um die Frage der Geflüchteten und natürlich um die Demokratische Föderation Nordsyriens, das eigentliche Anliegen des türkischen Staatspräsidenten.

Denn der türkische Staatspräsident macht keinen Hehl daraus, dass er die Errungenschaften der Bevölkerung im Norden Syriens zunichtemachen will. Seine Interventionsdrohungen konnten nur durch anstrengende Verhandlungen mit den USA unterbunden werden. Doch kurz nach der Einigung zwischen beiden Parteien zeigte sich der türkische Staatspräsident erneut unzufrieden und begann von Neuem seine Kriegsdrohungen lautwerden zu lassen. Und um diese Pläne wahr werden zu lassen dreht Erdogan nun gleich an mehreren Schaltern.

Mit der Flüchtlingsfrage die EU erpressen

Der türkische Staatschef hat nämlich gelernt, wie leicht er die gesamte Europäische Union unter Druck setzen kann. Spätestens als in der Nacht des 17. Septembers plötzlich 791 syrische Geflüchtete auf mehreren griechischen Inseln ankamen, war die Message in Brüssel angekommen. Erdogan entsandte eine unmissverständliche Drohung: Entweder ihr unterstützt meinen Kurs in der Frage der syrischen Geflüchteten oder ihr könnt euch selbst mit ihnen rumschlagen.

Mit dieser Drohung hat Erdogan bereits mindestens sechs Milliarden Euro Hilfsgelder aus Europa erhalten. Nun tischt er dieselbe Drohung nochmals auf, um Unterstützung für seine Interventionspläne in Nordsyrien zu generieren. Denn seit wenigen Wochen hat sich die Sprachwahl in der türkischen Politik bzgl. der Interventionsbestrebungen verändert: Nun geht es weniger um die „Vernichtung eines Terrorkorridors“, sondern eher um eine „Lösung der Flüchtlingsfrage, welche die Türkei nicht länger alleine schultern kann.“

Erdogan will also, dass seine Truppen in den Norden Syriens einmarschieren und anschließend die rund drei Millionen syrischen Geflüchteten dort ansiedeln. Bei dem Vorhaben gibt es nur zwei Probleme: Einmal stammen die wenigsten syrischen Geflüchteten in der Türkei tatsächlich aus den Gebieten, welche Erdogan besetzen will. Und zum Zweiten ist die Region Nordsyriens kein menschenleeres Gebiet.

Assads arabischer Gürtel soll von Erdogan vollendet werden

Wenn wir verstehen wollen wie das Vorhaben Erdogans genau aussieht, reicht ein Blick auf die seit März 2018 von der Türkei besetzte Provinz Efrîn aus. Auch dort hat der türkische Staatschef Syrerinnen und Syrer ansiedeln lassen. Nur hat er zuvor erst einmal die eigentliche Bevölkerung der Region vertrieben. Während hunderttausende Kurdinnen und Kurden aus Efrîn ihre Heimat hinter sich lassen mussten und bis heute unter schwierigsten Bedingungen in der Region Shehba verweilen, siedelte der türkische Staat islamistische Milizen, die mit der Türkei kooperieren, und ihre Familienangehörigen, in der Provinz an. Diejenigen Einwohner Efrîns, die bis heute versuchen in ihrer Heimat zu bleiben, sind immer wieder Opfer von Entführungen, Raubüberfällen oder Vergewaltigungen. Die Urheber dieser Verbrechen sind türkeitreue Milizen, die aus Aleppo, Idlib und anderen Regionen abgezogen und in Efrîn stationiert worden sind. Ein solches Vorgehens nennt man eine ethnische Säuberung.

Sollte die Türkei ihre Drohungen hinsichtlich einer weiteren Intervention in Nordsyrien verwirklichen, so wird sie ohne Zweifel versuchen, ihr Vorgehen von Efrîn in einem größeren Maßstab zu wiederholen. Um drei Millionen Syrerinnen und Syrer in der Region anzusiedeln, sollen wohl ebenso viele Menschen aus der Region vertrieben werden. Die Opfer eines solchen Szenarios wären natürlich in erster Linie die Kurdinnen und Kurden, die in diesen Regionen beheimatet sind. Knickt also Deutschland und die EU vor Erdogans Drohungen ein, so macht sich Deutschland in der Konsequenz auch für die Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen mitverantwortlich, die der türkische Staatschef im Norden Syriens anordnen wird, um die „Flüchtlingsfrage zu lösen“.

Geht sein Plan auf, wäre Erdogan die syrischen Flüchtlinge los und hätte das Selbstverwaltungsprojekt in Nordsyrien zerschlagen. Zugleich hätte er einen Plan verwirklicht, den bereits 1963 ein gewisser Muhammad Talab al-Hilal, ein syrischer Geheimdienstchef, der syrischen Regierung vorgelegt hatte. Um die „kurdische Gefahr“ zu bändigen, bedürfe es einer umfassenden Umsiedlungspolitik. Nur so ließe sich die „Vernichtung dieses Tumors“ bewerkstelligen. Die Pläne al-Hilals sollten im Rahmen der Politik des arabischen Gürtels später vom Baath-Regime aufgegriffen werden. Auch wenn tausende kurdische Familien in den Süden Syriens deportiert und ebenso viele arabische Familien bis Mitte der 70er Jahre in Nordsyrien angesiedelt wurden, ist der Plan nie in voller Gänze umgesetzt worden.

Nun will Erdogan genau das verwirklichen, was dem Baath-Regime nie gelungen ist: Ein arabischer (Bevölkerungs-)Gürtel, der als Puffer zwischen der kurdischen Bevölkerung in Nordkurdistan und Rojava dienen soll. Ob er das verwirklichen kann, hängt aber nicht nur von seiner Durchsetzungskraft gegenüber der EU, den USA oder Russland ab. Am Ende werden die Verteidigungskräfte Nord- und Ostsyriens auch ein Wort mitzureden haben.

Gesellschaftsvertrag von Rojava

Quelle: Civaka Azad – Der Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation von Nordsyrien

Ein Beispiel für ein friedliches Syrien der Zukunft – Der Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation von Nordsyrien, 25.11.2017

Logo der Selbstverwaltung ab 2018

Die Revolution von Rojava steht im krassen Kontrast zu den monistischen Staaten des Mittleren Ostens, die auf eine Identität, eine Nation und eine Sprache und eine Religion setzen und jede Abweichung diskriminieren oder gar zu vernichten versuchen. Rojava umfasst viele Ethnien, viele Identitäten, viele Religionen und Weltanschauungen und zielte von Beginn der Revolution darauf ab, durch direkte Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen ein Modell von pluralistischer, radikaler Demokratie zu schaffen. Dieses Denken schlägt sich auch im Namen wieder – Rojava ist ein kurdischer Name, doch die Demokratische Föderation Nordsyrien repräsentiert nicht nur Kurdinnen und Kurden, daher reichte die ursprüngliche Bezeichnung der Region nicht aus. Die Demokratische Föderation Nordsyrien grenzt sich von Staatlichkeit und Nation scharf ab, was sich auch in der Präambel des Gesellschaftsvertrags niederschlägt.

Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie stehen als Grundprinzipien gleich am Anfang des Gesetzeswerkes. Insbesondere die Hervorhebung der lokalen Selbstverwaltung der Menschen in Räten und zivilgesellschaftlichen Organisationen hebt dieses Werk von anderen Verfassungen deutlich ab. Im Rahmen des Gesellschaftsvertrages haben alle Menschen in den Kantonen das Recht, über ihre eigenen Anliegen zu entscheiden: Die Macht liegt in der Region und nicht im Zentrum. Das gibt der Bevölkerung die Möglichkeit, sich selbst zu repräsentieren und über ihr Leben zu entscheiden.

Auch menschenrechtlich ist dieser Vertrag beispielhaft. So dürfen Asylsuchende nicht gegen ihren Willen abgeschoben werden und jeder Bürger und jede Bürgerin haben das Recht auf medizinische Versorgung, Arbeit und Wohnraum. Sicher ist es ein langer Weg, bis eine Realität geschaffen ist, in der die Menschen ihre im Gesellschaftsvertrag verankerten Rechte vollkommen in Anspruch nehmen können. Dass die Menschen in Nordsyrien in dieser Situation ein solche Verabredung treffen und sich auf ein solches Dokument einigen, untermauert die immense Bedeutung ihres Projekts – Friede bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern gesellschaftliche Versöhnung, Demokratie, Ökologie, Frauenbefreiung und soziale Gerechtigkeit.

Die Demokratische Föderation Nordsyrien sieht sich ganz klar im Kontext einer zukünftigen Demokratischen Föderation Syrien – jenseits des Baath-Regimes und imperialistischer Einflussnahme der Großmächte. So sollen die Bodenschätze gerecht geteilt und eine gemeinsame Verfassung ausgearbeitet werden. Dieser Gesellschaftsvertrag stellt ein Beispiel für eine mögliches friedliches Syrien der Zukunft dar und gibt Hoffnung, dass eine demokratischen Alternative zur kapitalistischen Moderne und nationalstaatlicher Barbarei in die Welt ausstrahlen kann.

PDF: Der Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation von Nordsyrien

PDF: Social Contract of the Democratic Federalism of Northern Syria

Repression der Türkei gegen Kurd*innen

Norman Paech : Krieg der Türkei gegen die Kurden
(weltnetzTV, Dez 2018)

Die Kritik hierzulande gegen Recep Erdoğan und den türkischen Staat konzentriert sich hauptsächlich auf die Unterdrückung der Pressefreiheit und Massenverhaftungen von politischen Gegnern. Übersehen wird dabei zumeist der Krieg gegen die Kurden. Seit der Beendigung des Dialoges mit Abdullah Öcalan im Jahre 2015 bekämpft Erdoğan die Kurden wieder militärisch. Norman Paech, Jurist und emeritierter Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht, kommentiert auf weltnetz.tv die Unterdrückung der Kurden durch die Türkei und das Zuschauen der Bundesregierung sowie der NATO-Staaten.

Kurzer Umriss der Kurdischen Frage

https://www.youtube.com/watch?v=DMKJPkPkkxE

1. Die Teilung Kurdistans durch imperialistische Mächte

Die folgende Ausführung handelt von einer spezifischen Periode der kurdischen Geschichte, die eine wichtige Markierung darstellt und die gegenwärtige Situation der Kurden, die Ausprägung der Kurdenfrage sowie den damit zusammenhängenden Kurdenkonflikt umfasst. Sie kennzeichnet die Aufteilung und Zersplitterung Kurdistans und die weitreichende Umwälzung der traditionellen kurdischen Gesellschaft. Die Zeiträume 1915 bis 1925 und 1925 bis in unsere Gegenwart markieren die zeitlichen Abschnitte der benannten Phase, in der die Quellen und Ursachen des gegenwärtigen Kurdenkonflikts und der Kurdenfrage liegen. Sie inkludiert aus regionaler und globaler Sicht den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und die Inkorporierung des Nahen und Mittleren Ostens durch westliche Staaten, die sich durch und kraft der industriellen Revolution in England und der (politischen) Französischen Revolution in einer „erneuten Expansion“ befanden. Wenn es heute eine kurdische Frage gibt und diese Frage bis heute überdauert hat, dann sind die Ereignisse, die diese Frage geprägt haben, in den Jahren zwischen 1915 und 1925 geschehen. In dieser Epoche herrschte ein imperialistischer Verteilungskampf über Kurdistan, der zu dieser Aufteilung führte. Auf die globalpolitischen Verhältnisse und ihre komplexen und verwobenen Details kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden und das Folgende mag primär aus einer kurdischen Perspektive aus betrachtet sein. Es sei zudem wiederholt daran erinnert, dass der Kurdenkonflikt stets in einem regionalen und internationalen Kontext, Zusammenhang und der wechselseitigen Verflechtung diverser Aspekte und Entitäten zu betrachten ist. Des Weiteren wird sich der Fokus und Inhalt dieses Abschnitts gegen Ende primär auf Nordkurdistan bzw. die Türkei verlagern. Dies deshalb, weil sich die Entstehung der kurdischen Bewegung dort vollzog und die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs den wichtigsten regionalen Akteur im Hinblick auf die kurdische Frage darstellt.

Diese Periode kurdischer Geschichte hatte nicht nur sehr verlustreiche politische Folgen und brachte die Gefahr der physischen und kulturellen Vernichtung der Kurden mit sich, sondern auch, bedingt durch mehrere Faktoren, die Grundlegung neuer Oppositionsformen in Kurdistan. Diese neuen Formen, entstanden im Kontext der damals bipolar geordneten Welt, waren „supra tribal“ (höhergeordnet als stammesgesellschaftliche Organisierung), säkular bzw. nicht mit Konfession oder Religion in Beziehung stehend und hatten den Charakter von Volksbewegungen, wohingegen die traditionelle kurdische Opposition elitär gekennzeichnet war. Dieser Abschnitt soll die Entstehungsbedingungen und -ursachen dieser Emergenz skizzenhaft darlegen und zum besseren Verständnis der kurdischen Bewegung um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) führen.

Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts, der Zeit der osmanischen End- und Krisenphase, wackelt das alte Machtverhältnis in Kurdistan, bestimmt durch eine schwache osmanische Kontrolle und weitgehende Unabhängigkeit kurdischer Herrscher und es kommt zu Aufständen kurdischer Fürsten, deren Ursachen je nach Blickwinkel und Historiker unterschiedlich begründet werden. Wichtig ist, dass die Aufstände im 19. Jahrhundert nicht nationalen Zwecken dienten, sondern um Ausweitung oder gegen Verringerung der uralten Autonomie vollzogen wurden. Die kurdische Frage in ihrer heutigen Form ist das Ergebnis der von den Großmächten betriebenen Aufteilung des Nahen- und Mittleren Ostens nach dem [Ersten] Weltkrieg. Schon lange vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, bei dem das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands und Österreichs militärisch vernichtend unterlag und zusammenbrach, ist 1916 in Geheimabkommen zwischen den wesentlichen alliierten Siegermächten Großbritannien und Frankreich die Zukunft der Region abgestimmt worden. Der auf diese Verhandlungen basierende, zwar unterschriebene aber nie ratifizierte Vertrag von Sevres (10.08.1920) sah die Errichtung eines armenischen Staates im Nordosten und eine gewisse kurdische Souveränität – eine anfängliche Autonomieregierung mit der Aussicht auf einen eigenen Staat – vor. Gegen diesen Vertrag, der das türkische Territorium auf ein kleines Stück in Mittelanatolien reduzierte, mobilisierte der türkische General Mustafa Kemal die anatolischen Bauern und zahlreiche kurdische Stämme. Seine Strategie beinhaltete die Hervorhebung der gemeinsamen islamischen Identität der Kurden und Türken, die taktische Lüge der Loyalität dem Kalifat und dem Sultanat gegenüber sowie das Versprechen einer gemeinsamen Republik von Türken und Kurden. Es sei noch erwähnt, dass der Vertrag von Sevres aus diversen Gründen auch bei vielen Kurd*innen trotz der Aussicht auf Autonomie auf Ablehnung stieß. Einer der Gründe war, dass der in ihm vorgesehene armenische Staat große Teile der kurdischen Siedlungsgebiete mit einschloss, damit zusammenhängend auch die Angst und Ablehnung unter einer christlich-armenischen Herrschaft zu leben. Ferner klammerte der Vertrag den Status Ostkurdistans (Iran) aus, und auch im Allgemeinen betrachtete die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung die internationale Entscheidung als aufgezwungen und bevorzugte, unabhängig zu sein oder notfalls weiter mit den Türken zu leben, mit denen sie immerhin die Gemeinschaft des Islam verband.

Der spätere »Atatürk« (»Vater aller Türken«) hatte ihnen dafür die Gründung eines gemeinsamen Staates der Türken und Kurden zugesagt. Auf der ersten Sitzung der Großen Nationalversammlung im April 1920 in Ankara waren rund siebzig kurdische Abgeordnete anwesend, die offiziell als »Abgeordnete Kurdistans« bezeichnet wurden. Als dieser Staat gegründet und vom Lausanner Vertrag im Juli 1923 anerkannt war, brach Mustafa Kemal seine Versprechen für die kurdische Autonomie sofort und löste die Nationalversammlung auf, in der auch 75 kurdische Abgeordnete gesessen hatten. Er schloss sogar kurdische Schulen und verbot jeden Ausdruck kurdischer Kultur in der Türkei.

Die irakischen Kurden lernten aus dieser bitteren Erfahrung, und als sie im Januar und Februar 1925 von einer Delegation des Völkerbundes befragt wurden, entschied sich eine überwältigende Mehrheit von sieben Achteln für einen unabhängigen kurdischen Staat und kategorisch gegen die Rückkehr unter türkische Souveränität und Annektion durch den Irak. Der Rat des Völkerbundes beachtete diese klare Stellungnahme jedoch nicht und beschloss am 16. Dezember 1925 auf Verlangen des Britischen Imperiums, das Mandatsträger für den Irak war, dieses kurdische Territorium mit seinem Erdöl-Reichtum dem Staat des Irak einzugliedern. Im Austausch für ihr Einverständnis mit diesem ungerechten britischen Plan erhielten Frankreich und die Vereinigten Staaten je 23,7 % der Einkommen der Turkish Petroleum Company, die später in die Iraq Petroleum Company umgewandelt wurde, in Berechnung der Ausbeutung aller Ölreserven Kurdistans.
1921 wurde kraft eines türkisch-französischen Abkommens Westkurdistan (Rojava, Nordsyrien) an Syrien angegliedert, das damals unter französischem Mandat stand, während der Iran die Unabhängigkeitsbewegung unter Führung des kurdischen Oberhauptes Simko überwältigt hatte. Nach dem durch den erfolgreichen Befreiungskrieg unter Mustafa Kemal erzwungenen Lausanner Vertrag vom 24. Juli 1923 war die Aufteilung und Zersplitterung der Kurd*innen und Kurdistans vollendet und das Bühnenbild für die zukünftige Tragödie des kurdischen Volkes war erstellt. Bei den Vertragsverhandlungen wurden die Kurd*innen gar nicht bzw. angeblich von der Türkei und Großbritannien vertreten. Die britische Delegation wurde vom Hauptaktionär der westlichen Turkish-Petroleum Company, Lord Curzon, angeführt. Der Vertrag legt die bis heute gültigen Grenzen fest, im Gegensatz zum Vertrag von Sevres wurden die Kurd*innen in Lausanne nicht mehr erwähnt. Plötzlich war das (wahrscheinlich) zahlenmäßig drittgrößte Volk des Nahen Ostens in den jeweiligen Staaten jeweils zu einer Minderheit geworden, doch noch nicht einmal Minderheitenrechte wurden ihnen in den auf Homogenisierung basierenden neu entstandenen Nationalstaaten zugestanden.
Der türkische Soziologe Ismail Besikci beschreibt die Zementierung der Lage des Nahen Ostens im Lausanner Vertrag, in seinem für die anfängliche PKK zentralem Werk folgendermaßen: „Kurdistan hat weder einen politischen Status, noch eine politische Identität. Die Kurd*innenen sind ein Volk, welches man versklaven und seiner Identität berauben will, klarer ausgedrückt, es soll mit seiner Kultur und Sprache von der Erdbodenfläche getilgt werden.“ (1991). Zwar heißt sein Buch Kurdistan. Internationale Kolonie, doch durch die imperialistische Aufteilung mit der Hilfe „regionaler Kollaborateure“ verwehrte man Kurdistan selbst den Status einer typischen Kolonie oder Halbkolonie: „Kurdistan ist noch nicht einmal eine Kolonie, das kurdische Volk ist noch nicht einmal kolonisiert. Der politische Status Kurdistans und des kurdischen Volkes befindet sich sehr weit unter dem einer Kolonie.“ (ebd.). Damit ist die Gleichzeitigkeit der kolonialen Ausbeutung Kurdistans und die Verleugnung der Kurd*innen gemeint. Klassische Kolonien hatten noch einen Status als Kolonien und erlangten im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialismus ihre heutige (staatliche) Unabhängigkeit. Die kulturelle, nationale oder ethnische Identität der Kolonialländer wurde anerkannt, nicht so in Kurdistan. Wegen seiner Forschungen zum Thema Kurden wurde Besikci insgesamt acht Mal verurteilt und saß 17 Jahre im Gefängnis.

Durch den Vertrag von Lausanne wurde viel von dem Zündstoff gelegt, der den Nahen Osten bis heute zum Pulverfass macht. Mit der Vierteilung Kurdistans wurde ein bis heute ungelöster nationaler Widerspruch erzeugt, der vom Imperialismus immer wieder zur Einflussnahme in der ganzen Region genutzt wird. Die Kurd*innen sind sowohl die Verlierenden als auch das Instrument dieser Situation der „Teile-und-herrsche-Politik“ geworden. Mit verheerenden Folgen, z. B. mehrmaligen Giftgasangriffen, nicht nur von Diktatoren wie Saddam Hussein (1988) oder dem Kemalismus in Dersim 1937/38, sondern auch von Großbritannien gegen die „unzivilisierten Stämme“, die in Südkurdistan Mitte der 1920er Jahre von Scheich Mahmud Berzencî angeführt wurden.

2. Nordkurdistan (Türkei)

Gegen den Umstand der politischen und rechtlichen Nichtexistenz und dem Abhandenkommen der aus Sicht der kurdischen Aristokratie ewigen Autonomie führten die Kurd*innen in allen vier Teilen Kurdistans sowohl vor als auch nach dem Ende des Weltkriegs zahlreiche Aufstände. Nie waren sie kooperativ oder koordiniert zwischen den Stämmen, Konfessionen oder Regionen Kurdistans, obgleich sie nationalistisch begründet waren. Dem muss hinzugefügt werden, dass alle Aufstände der Kurd*innen entweder durch aktive militärische Beteiligung oder indirekte Unterstützung der westlichen Mächte niedergeschlagen worden sind. Gegen die junge Türkische Republik fanden ab 1924 zahlreiche Revolten statt, deren Anfang der Scheich Said Aufstand machte; alle wurden blutig niedergeschlagen. Sie richteten sich gegen die Verleugnung der Kurd*innen, dem Einzug der politischen Autonomie und die faschistische Türkisierungspolitik. Nach 1922 sprachen die Kemalist*innen nicht mehr von der kurdisch-türkischen Brüderschaft, sondern allein von den Wünschen und Rechten der Türken. Die an den Westen orientierte moderne Türkei sollte nach der Vorstellung Mustafa Kemals eine schnelle Verwestlichung (Industrialisierung, Säkularisierung, repräsentativ-demokratische und rechtstaatliche Konstitution) durchgehen; das Prinzip des Nationalismus wurde dahingehend interpretiert, verfassungsrechtlich festgelegt und institutionell weitergegeben, dass in der Türkei keine andere Nationalität außer der türkischen existiert. Der Nationalismus wurde nach dem (ethnischen) deutschen, der Nationalstaat nach dem (zentralistisch-) französischem Modell etabliert. Dies impliziert die zentrale Herrschaft der türkischen »Ethnie« und legt den Grund für die Assimilation und Unterdrückung anderer ethnischen Gruppen. Ein schlechtes Modell, um das Vielvölkerreich der Osmanen abzulösen. Atatürks Reformen prägten (auch ohne Erfolg) die Türkei grundlegend, jedoch war dies nur ein kaum gelungener Top-Down-Prozess, der von einer dünnen Schicht in den Städten ausging; Offiziere und Teile der Oberschicht. Die Masse der anatolischen Landbevölkerung stand auch Jahrzehnte später nicht hinter den Umwälzungen, da sie keinen Wandel der Grundlagen ihrer sozialen Existenz herbeiführten. Der Kemalismus beschränkte sich auf eine Veränderung des Überbaus, ließ aber die sozialen Verhältnisse bestehen. Aus dieser Perspektive lassen sich auch die beiden bis heute bestehenden Opponenten der sich gegenwärtig in einem Auflösungsprozess befindenden kemalistischen Türkei festmachen: die islamisch-konservative türkische Basis und die kurdische Bevölkerung. Die Kemalist*innen haben die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Türkei nicht als Ausgangspunkt genommen und auch nie Programme konzipiert, die die Strukturen religiöser, ethnischer oder politischer Art integrieren hätten können und sollen. „Es wurden im Gegenteil große Anstrengungen unternommen, all diese als feindlich angesehenen Strukturen zu bekämpfen“.

Dem Scheich Said Aufstand folgten weitere Revolten und Aufstände. Der letzte große Aufstand in Nordkurdistan war der von Seyid Riza angeführte Widerstand von den kurdischen Aleviten in Dersim (1936-1938). Diese waren einige der gänzlich autonomen Stämme, von denen bereits die Rede war. Dersim ist eine sehr bergige und bewaldete Region, so dass der Rückzug und der Widerstand vorteilhaft waren. Der Aufstand lehnte sich wie die anderen zuvor gegen die Verleugnungs- und Assimilierungspolitik Atatürks, welches auch die Aufhebung der Autonomie Dersims bedeutete. In einem Schreiben vom 30. Juli 1937 richtet sich Seyid Riza an den britischen Außenminister:

„Seit Jahren versucht die türkische Regierung, die kurdische Bevölkerung zu assimilieren, indem sie sie unterdrückt. Sie verbietet, ihre Zeitungen und Bücher in kurdischer Sprache zu lesen, verfolgt jene, die ihre Muttersprache sprechen und organisiert so die systematische Vertreibung von den fruchtbaren kurdischen Ländern in das unkultivierte Anatolien, wo ein großer Teil der Flüchtlinge umkommt. Drei Millionen Kurden leben in diesem Land und bitten nur darum, in Frieden und Freiheit leben zu können, um ihr Volk, ihre Sprache, ihre Traditionen und Zivilisation zu erhalten. Im Namen des kurdischen Volkes bitte ich Eure Exzellenz, das kurdische Volk mit Ihrem großen moralischen Einfluss zu unterstützen, damit diese grause Ungerechtigkeit bald ein Ende hat.“

Dieser Hilferuf blieb ohne Reaktion. Seyid Riza wurde zusammen mit seinem Sohn und anderen zentralen Figuren des Aufstands erhängt. Wie auch nach anderen Aufständen und als Grundelement türkischer Kurdistanpolitik, wurden tausende von Menschen und ganze Stämme vertrieben, deportiert oder umgesiedelt. Die Kommunistische Partei der Türkei schätzte als Opfer der Vertreibungen und niedergeschlagenen Aufstände zwischen 1925 und 1938 mehr als 1,5 Millionen deportierte und massakrierte Kurden. Nach dem Dersim Aufstand brach eine „Friedhofsruhe“ in Nordkurdistan ein, es folgte eine lange Phase der militärischen Besatzung, ökonomischen Ausbeutung und Benachteiligung sowie der zwangsassimilatorischen Maßnahmen. Feudale Institutionen wie die des Scheichs oder Großgrundbesitzers (Agha) in Kurdistan wurden und werden bis heute bewusst am Leben gehalten. Mit den übriggebliebenen Großgrundbesitzern und Stammesführern ging der Staat – unter der Bedingung der Verleugnung der kurdischen Identität – ein Bündnis ein, auf das sich die Kurdistanpolitik der Türkei stützte.

In den Jahren 1937 und 1938 wurde der Aufstand von Dersim mit Völkermordmethoden unterdrückt. Auf diese Weise wurden in Nordkurdistan alle Widerstandsnester ausgelöscht. Alle Zentren, die über ein Aufstandspotential verfügten, wurden aufgelöst. Danach begann man, Kurdistan organisch im Staatskörper aufgehen zu lassen. Die Lösung hierfür bestand zweifellos in der Einberufung von Soldaten zum Wehrdienst, der Eintreibung von Steuern und der regelmäßigen Durchsetzung dieser Maßnahmen. Die Existenz des türkischen Staates wurde bis in den letzten Winkel der Gesellschaft spürbar, das türkische Ausbildungswesen wurde eingeführt und jede Möglichkeit zur Verbreitung der türkischen Kultur ergriffen. Die Massen sollten von der kurdischen Identität losgelöst und assimiliert werden. Während dieses Prozesses konfrontierte der Staat die herrschenden kurdischen Klassen – die Scheichs, die Sippenchefs und die Großgrundbesitzer – mit folgender Alternative: Entweder ihr verzichtet vollkommen auf das Kurdentum, streitet ab, daß ihr Kurden seid und werdet zu Türken, oder ihre werdet wie Scheich Said oder Seyid Riza und andere am Galgen enden. Eine dritte Möglichkeit wird es nicht geben. Ihr müßt wissen, daß es keine andere Möglichkeit gibt, um am Leben zu bleiben, als Türken zu werden. (Besikci 1991)

Erst Mitte der 60er Jahre regten sich in der Türkei einzelne kurdische Intellektuelle wieder und es gab erste Zeichen von politischer Mobilisierung der Kurden, meist in türkisch-linkspolitischen Kreisen, wo das Beanstanden ungerechter ökonomischer und feudaler Verhältnisse in der damals bipolar geordneten Welt leicht Anschluss fand. In diesem Kontext entstand auch die PKK.

3. Ostkurdistan (Iran)

Auch in anderen Teilen Kurdistans kam es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederholt zu Aufständen und zu Versuchen einer Staatsgründung. Dabei wurden die Kurden oft im Rahmen globalpolitischer Auseinandersetzungen instrumentalisiert und fallen gelassen, ferner wurden sie zum Opfer der Geschichte, wie z. B. 1946 in Ostkurdistan, als die dort von Gazi Mohammed ausgerufene Republik von Mahabad – der erste kurdische Staat der Neuzeit – ein Jahr nach seinem Bestehen durch das Fallenlassen der Sowjetunion die Existenz aufgeben musste. Es folgten noch andere Beispiele in Südkurdistan während des achtjährigen Iran-Irak-Kriegs oder des ersten Golfkriegs.

4. Südkurdistan (Irak)

Wichtig ist festzuhalten, dass alle Aufstände der Kurden im frühen 20. Jahrhundert von einzelnen Herrschern oder religiösen Figuren angeführt wurden; die Revolten waren durch Stammesloyalitäten gekennzeichnet und religiöse Symbole spielten dabei eine wichtige Rolle (z. B. Scheich Said für Sunniten oder Seyid Riza für Aleviten). Damit zusammenhängend waren die Gebilde Religion und Stamm zentrale Mechanismen der Mobilisierung, auch wenn es sich dabei um Bestrebungen nach nationaler Selbstbestimmung handelte. Dies änderte sich 1946 mit der Gründung der ersten kurdischen Partei, Kurdisch Demokratische Partei (KDP), unter der Führung von Mustafa Barzani. Obgleich die KDP bis heute tribalistische Züge aufweist wurde sie zu einer Volkspartei in Südkurdistan und beeinflusste die politische Organisierung der Kurden auch in den anderen Teilen Kurdistans. Wie auch die in den 1970er Jahren gegründete und erste »supra-tribale« kurdische Partei, die PKK, wurden auch die KDP und die PUK (Patriotische Union Kurdistans) in den 2001 Jahren als nichtstaatlicher Akteur von den USA als Terrororganisationen aufgelistet.


Quelle: ANF – Kurzer Umriss der Kurdischen Frage

Kriegsbilanz der HPG 2018


Quelle: ANF, 03.01.2019

Das Oberkommando des Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte hat seine Jahresbilanz zum Krieg in Nordkurdistan und den südkurdischen Medya-Verteidigungsgebieten vorgestellt. Demnach fanden im vergangenen Jahr 556 Guerillaaktionen statt.

Symbolbild HPG

Das Oberkommando des Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte HPG (Hêzên Parastina Gel) hat eine Bilanz für das vergangene Jahr zum Krieg gegen die türkische Armee in Nordkurdistan und den südkurdischen Medya-Verteidigungsgebieten (Qadên Parastina Medya) vorgestellt. Darin heißt es: „Das Jahr 2018 geht als ein sehr wichtiges Jahr in die Geschichte des Freiheitskampfes in Kurdistan ein und war ein Jahr voller Unterdrückung und Widerstand.“

„Das System des türkischen Staates konnte keines seiner Ziele erreichen“

Der türkische Staat sei auf ganzer Linie mit seinen Plänen, Südkurdistan und die Medya-Verteidigungsgebiete zu besetzen, gescheitert und habe auch im Norden schwere Niederlagen einstecken müssen, teilt das HPG-Oberkommando mit. Weiter heißt es in der Erklärung: „Ganz gleich in welchem Teil Kurdistans, das faschistische AKP-Regime versucht überall, die Errungenschaften unseres Volkes zu zerschlagen. Im vergangenen Jahr wollte es sein Vernichtungskonzept weiter vertiefen. In diesem Sinne fand bereits im ersten Abschnitt des Jahres 2018 ein Widerstandskampf von historischem Ausmaß gegen die Invasion in Efrîn statt. Mit Beginn des Frühlings stieß der Krieg auch in den Medya-Verteidigungsgebieten sowie in Nordkurdistan auf einen großangelegten Widerstand.

Der AKP/MHP-Faschismus setzte all seine Hoffnungen auf die fortschrittlichste Waffentechnologie und führte das ganze Jahr über massive Luftangriffe in allen Teilen Kurdistans durch, um sich gegen die Freiheitsguerilla durchzusetzen und sie zu vernichten. Mit diesen Angriffen sollte unsere Bewegung neutralisiert, unser Volk eingeschüchtert und auf unseren Vorsitzenden Apo Druck ausgeübt werden.

Doch das System der türkischen Republik hat im Kampfjahr 2018 keines seiner Ziele erreicht. Weder konnte es sich gegenüber der Revolution in Rojava noch durch Angriffe in Nordkurdistan und den Medya-Verteidigungsgebieten behaupten. Die HPG haben in historischem Ausmaß Widerstand geleistet und so den Besatzungsplan der kolonialistischen türkischen Armee zerschlagen.“

Türkei verbirgt wahre Verluste

Das HPG-Oberkommando betont, der türkische Staat versuche seine schweren Verluste zu verbergen und die Öffentlichkeit zu täuschen. In der Erklärung heißt es:

„Die Freiheitsguerilla Kurdistans ist bemüht, die für das 21. Jahrhundert notwendige neue Form des Guerillakampfes auf effektivste Weise umzusetzen. Mit einem Verteidigungskrieg hat sie 2018 einerseits den kolonialistischen Feind daran gehindert, Kurdistan vollständig zu besetzen, und ihm andererseits mit wirksamen Aktionen schwere Schläge versetzt. Das AKP-Regime erlitt bei dem Angriff auf die türkische Militärbasis Süngü nahe Bêsosin (Ortaklar) im Kreis Şemzînan (Şemdinli) sowie bei Einsätzen in Bradost, Serhat, an der Zap-Front, in Botan und überall in Kurdistan schwere Niederlagen. Das Regime sieht es als seinen einzigen Ausweg, diese Wahrheit zu verbergen. In diesem Sinne wurden kleine Erfolge zu Siegesmeldungen aufgeblasen und so der Öffentlichkeit präsentiert und andererseits trotz Videodokumentation der Guerillaaktionen Verluste in den Reihen des Militärs verheimlicht und die Bevölkerung somit getäuscht. Aber mittlerweile wissen alle, dass die Wahrheit der kurdischen Freiheitsbewegung nicht zu verbergen ist. Der Krieg in Kurdistan wurde der Öffentlichkeit vom HPG-Pressezentrum auf gewissenhafte und nachvollziehbare Weise vermittelt. Menschen, die eine präzise und korrekte Bilanz des Krieges erfahren möchten, können diese durch Erklärungen der Volksverteidigungskräfte verfolgen.

Ohne jeden Zweifel sind alle Erfolge, die unsere Bewegung und unsere Bevölkerung trotz massiver feindlicher Angriffe im Jahr 2018 verbuchen konnte, auf unsere heldenhaften Gefallenen, die ihr Leben für die Freiheit geopfert haben, zurückzuführen. Wir gedenken unserer gefallenen Kommandantinnen und Kommandanten, angefangen bei Zekî Şengalî, Atakan Mahir, Çetin, Cuma, Medya, Dicle, Tarik, Cudi, Vedat, Jîndar, Rizgar, Roza, Sorxwîn und all unserer anderen mutigen Gefallenen mit tiefem Respekt und großer Dankbarkeit.

Als Volksverteidigungskräfte Kurdistans werden wir die uns übergebene Fahne der Freiheit aufrecht halten. Im Jahr 2019 werden wir den Kampf zur Befreiung des Vorsitzenden Apo und der Bevölkerung Kurdistans wirksam weiterführen. Wir erfüllen mit der Veröffentlichung dieser Bilanz des Jahres 2018 im Krieg gegen den türkischen Kolonialstaat unsere revolutionäre Pflicht.“

Die Kriegsbilanz für das Jahr 2018 lautet:

Luftangriffe und Bodenoperationen des türkischen Militärs

Bodenoperationen: 163

Luftangriffe: 370

Kampfhubschrauberangriffe: 313

Artillerieangriffe: 558

Bilanz der Aktionen gegen die Angriffe

Durchgeführte Guerillaaktionen: 556

Nahkampfgefechte: 59

Aktionen mit unklarem Ergebnis: 220

Getötete feindliche Kräfte (Polizei, Militär u.a.): 2103

Getötete ranghohe Angehörige von Militär, Polizei etc.: 12

Verletzte feindliche Kräfte (Polizei, Militär u.a.): 418

Vernichtete Militärfahrzeuge (gepanzert): 43

Vernichtete Militärfahrzeuge (ungepanzert): 13

Vernichtete Baumaschinen: 29

Beschädigte Militärfahrzeuge (gepanzert): 33

Abgeschossene Kampfdrohnen (SIHA): 1

Abgeschossene Drohnen: 5

Beschädigte Aufklärungsflugzeuge: 1

Beschädigte Hubschrauber: 10

In Gefangenschaft geratene Freundinnen und Freunde: 19

Gefallene Freundinnen und Freunde: 523