Jahresbilanz der YPJ 2019


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 01.01.2020, Jahresrückblick:
Die Rolle der YPJ im Widerstand von Rojava

Die Journalistin Avrîn Masûm vom kurdischen Fernsehkanal Ronahî TV sprach mit Kurdistan Waşokanî, der YPJ-Kommandantin der Euphrat-Region, über die Entwicklungen im Jahr 2019, die Ziele der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien sowie die Pläne der Frauenverteidigungseinheiten YPJ für 2020.

Was waren die wichtigsten Entwicklungen
im vergangenen Jahr in Nord- und Ostsyrien?

Vom Winter 2018 bis zum Frühjahr 2019 haben die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), darunter die YPG und die YPJ sowie alle regionalen Kräfte, am großen Widerstand in der Wüstenregion Deir ez-Zor teilgenommen. Im Frühjahr wurde Daesh („Islamischer Staat“) in der Region al-Bagouz besiegt. Deshalb brachte die Feier des Newroz-Tages die schönste Botschaft an die kurdische Bevölkerung, den Sieg der Freiheitskämpfer*innen. Die Niederlage von Daesh zwang ihre Förderer wie den türkischen Staat, Katar und die imperialistischen Kräfte, neue Pläne zu entwickeln, um Daesh zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen. Der türkische Staat wurde zum Repräsentanten von Daesh, indem er drohte, Rojava und die Regionen Nord- und Ostsyriens anzugreifen. Mit diesen Drohungen sollte Angst in den Herzen der Menschen geschürt sowie die Stabilität und Freundschaft, die sich in dieser Region zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, zerstört werden. Daesh hat durch brutale Enthauptungen Angst verbreitet, der türkische Staat tat dies mit seinen Drohungen und Angriffen.

Mit der Feier von Newroz trafen wir uns als Verteidigungskräfte mit der Bevölkerung in der ganzen Euphrat-Region, um ein neues Leben mit zivilen und militärischen Volksräten aufzubauen. Auf diese Weise wollten wir als militärische Kraft unsere Bevölkerung mobilisieren, sich dem Widerstand anzuschließen und unseren Erfolg gegen Daesh zu sichern. Auf dieser Grundlage begannen wir in allen Bezirken der Euphrat-Region Räte aufzubauen, wie in Tabqa, Raqqa, Minbic, Kobanê und Girê Spî. Unser Ziel war es, die Gesellschaft wieder aufzubauen und zu reorganisieren, die Menschen zu informieren und ihnen das System und die Ideen Rebêr Apos [Abdullah Öcalans] näher zu bringen. Die arabische, kurdische und turkmenische Bevölkerung hat diese Arbeiten mit Freude aufgenommen. Sie sahen darin eine Möglichkeit, in Frieden und auf einer selbst geschaffenen Basis leben zu können.

Rebêr Apo sagte: „Jede Pflanze wächst auf ihren eigenen Wurzeln.” Seit acht Jahren haben sich die Menschen in dieser Region dem enormen Widerstand gegen Daesh angeschlossen und schließlich haben wir Daesh besiegt. Das war eine große Freude für die Menschen in der Region. Deshalb wollen wir dieses Glück in ein System des Lebens, eine Philosophie, eine Idee verwandeln, die wir mit allen Menschen teilen. Alle wollten Lösungen für ihre Probleme in der Region finden und einen neuen Willen als Menschen dieser Region entwickeln.

Welche Rolle haben die Frauen beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und den Selbstverteidigungsräten gespielt?

Wenn du die Frau befreien kannst, kannst du die Gesellschaft befreien. Wenn eine Gesellschaft um Frauen herum aufgebaut wird, entsteht auch eine gewisse Ethik. Das erschreckt die reaktionären Kräfte des dominanten männlichen Systems am meisten. Viele Menschen schauen mit Zweifel auf diese Versammlungen und Räte und fragen sich, ob die Menschen der Region in der Lage sein werden, sich selbst zu verwalten, zu schützen und zu organisieren. Wir, als Kinder und Kämpferinnen dieses Landes, glauben an uns selbst, weil wir eine achtjährige Prüfungsphase bestanden haben. Unsere Prüfung war eine Revolution. Das hat den Wandel unseres Kampfes in eine soziale, kulturelle und politische Revolution ermöglicht. Diese Realität hat Frauen dazu gebracht, an sich selbst zu glauben. Die kurdischen Frauen und auch die arabischen Frauen haben an Moral und Mut gewonnen. Dies ermöglichte es Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen der Region, diese Philosophie besser kennen und verstehen zu lernen und Teil dieses Widerstandes zu werden. Damit gaben sie ihren eigenen Völkern eine Antwort. Das hatte auch großen Einfluss auf die Männer und die arabische Gesellschaft.

In Minbic, Kobanê, Tebqa und Girê Spî sind 50 Prozent der Frauen in den YPJ-Einheiten junge arabische Frauen. Wir wissen, dass in der kurdischen und arabischen Gesellschaft Frauen seit langer Zeit nur als Hausfrauen gesehen wurden, die Kinder aufziehen, Essen zubereiten und die Bedürfnisse der Männer erfüllen. Aber heute haben der Wille der Frauen und ihr Einsatz in den Verteidigungseinheiten eine Angst im Herzen des reaktionären und staatstragenden Mannes ausgelöst. Das schafft großen Mut in den Herzen aller Frauen, die in den Räten die Stimme der eigenen Bevölkerung werden wollen. Der Stolz über ihre Teilnahme bringt ihren natürlichen Willen zum Vorschein. So werden sie zu einem Vorbild für alle Frauen in der Region.

Die Teilnahme der syrisch-arabischen Frauen bei den QSD wurde zu einem Thema, das die Welt interessiert. Der Widerstand dieser Frauen gibt auch den Frauen in anderen Teilen der Welt großen Mut. Die Frauenarmee der YPJ hat das materielle und moralische Erbe der Gesellschaft zurückgewonnen, das der Gesellschaft vorenthalten worden war.

Das Engagement von Führern der arabischen Stammesgemeinschaften hat zu einem größeren Respekt gegenüber den politischen und militärischen Räten geführt. Alle Frauen, sowohl kurdische als auch arabische, spielen eine wichtige Rolle in diesen Räten. Auch die Suryoye-Frauen haben eigene Räte aufgebaut. Sie haben auch anderen Frauen des Mittleren Ostens vorgeschlagen, diese Erfahrungen zu nutzen und sie als Basis für den Widerstand in ihren eigenen Ländern zu nehmen.

Im Jahr 2019 haben sich viele Menschen den Verteidigungskräften angeschlossen, besonders den YPJ. In den Regionen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung arabisch ist, gab es anfangs eine Art Angst vor der Beteiligung von Frauen, weil dadurch meist eine Revolution in der eigenen Familie ausgelöst wird. Die Teilnahme von Frauen an den YPJ findet nicht nur auf militärischer Ebene statt, sondern schafft eine soziale, politische, kulturelle und moralische Revolution. Besonders in feudalen arabischen Gesellschaften, in denen Frauen ans Haus gefesselt sind und ohne Erlaubnis des Mannes nirgendwo hingehen können, bedeutet dies eine grundlegende Veränderung. Heute diskutieren Frauen in ihren Räten soziale und familiäre Fragen. Dass sie politische Fragen diskutieren, um eine Lösung für die Region und für Syrien zu finden, ist eine Revolution an sich. Dies ist der Erfolg der sozialen Revolution, die einen politischen und kulturellen Wandel in der arabischen Gesellschaft ermöglicht hat.

Welche Auswirkungen hat die Beteiligung von Frauen
auf die verschiedenen Teile der Gesellschaft?

Frauen haben mehr an Einfluss gewonnen. Aus der Sicht des Mittleren Ostens findet ein Mann, der in die Armee eintritt, nicht viel Interesse, weil es als Arbeit für Männer angesehen wird. Alle Armeen werden von Männern aufgebaut und Männer haben die Pflicht, zum Militär zu gehen. Aber die Teilnahme von Frauen an den militärischen Verteidigungskräften, insbesondere von arabischen Frauen, ist keine gewöhnliche Sache. Das trägt dazu bei, dass in allen Köpfen eine Revolution ausgelöst wird. Denn die Frauen hatten Augen, konnten aber nicht sehen. Sie hatten eine Zunge, konnten aber nicht sprechen. Diese Situation hat sich nun geändert. Die Frauen sind jetzt zu Vorreiterinnen der Revolution und der Zukunft einer ethischen und politischen Gesellschaft geworden.

2011 begann die Revolution im Mittleren Osten im Namen einer Revolution der Völker. Danach machte sich die Muslimbruderschaft diese zunutze und wollte die Revolution an sich reißen. Sie startete die ersten Angriffe auf Rojava. Aber die Revolution ließ sich nicht ersticken. Trotz der Angriffe des Systems verlor die Revolution hier nicht ihre Hoffnung. Nur in Rojava wurde der Wille der Bevölkerung nicht verfälscht und nicht seiner Essenz beraubt. Gegen die Angriffe Erdogans auf Rojava hat sich die Welt erhoben. Denn Daesh ist der Feind der ganzen Welt und der Menschheit. Es war die kurdische Bevölkerung, die Menschen dieser Region und besonders die Frauen, die gegen Daesh gekämpft haben.

Zur gleichen Zeit haben wir unsere Institutionen aufgebaut. Der Demokratische Syrienrat (MSD) wurde als die Generalversammlung Syriens gegründet, um ein Projekt für ein demokratisches Syrien zu entwickeln, das die Krise überwinden kann. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurden zu ihrer militärischen Kraft. Die Revolution wurde zu einer Revolution im Mittleren Osten und beeinflusste die ganze Welt. Denn generell gibt es gerade einen Mangel an ethischen und politischen Bewegungen. Die europäischen Bewegungen, die behaupten, die ethischsten zu sein, führen oft eine Politik der Täuschung mit sich. Aber Politik ist ein Weg sowie eine Methode des Lebens, die Lösung des Lebens und die Einheit des Denkens und Handelns. Aus diesem Grund hat das Beispiel der Revolution in Rojava und der Aufbau ihrer Institutionen einen großen Einfluss auf die Region gehabt. Hierdurch wurde das kurdische Volk endlich als Menschen in der globalen Gesellschaft akzeptiert.

Was ist das Ziel der Angriffe des türkischen
Staates auf Nord- und Ostsyrien?

Hinter den Angriffen des türkischen Staates auf Rojava stehen diejenigen, die Erdogan die Erlaubnis zum Angriff gegeben haben. Es sind die Kolonialmächte, die kein Lösungsprojekt für den Mittleren Osten haben und die Krise nur vertiefen wollen. Es gibt zwei Hauptkräfte in der Region, die USA und Russland. Sie erkennen die Bevölkerung nicht an. Sie erkennen ihre regionale, soziale, kulturelle und militärische Existenz nicht an. Mit dieser Revolution hat ihnen die Gesellschaft die Augen geöffnet und ist wieder zum Leben erwacht. Diese Mächte lehnen die Autonomie und Eigenständigkeit der Gesellschaft ab. Deshalb haben sie sie in eine Krise gestürzt.

Seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hat die Türkei Angst davor, weitere Gebiete zu verlieren. Die Kurd*innen, Alevit*innen und Armenier*innen fordern immer noch ihre Rechte ein. Aber die Türkei verweigert sie ihnen. Deshalb versucht die Türkei, die kurdische Bevölkerung, die Stabilität und ein autonomes System geschaffen hat, zu beseitigen.

Aber die Bevölkerung akzeptiert die Allianz zwischen Erdogan, Putin und Trump nicht. Die Angriffe gegen Serêkaniyê und Girê Spî haben die Welt dazu gebracht, sich zu erheben und zu erklären, dass dieser Angriff unmoralisch ist. Es ist ein politischer und imperialistischer Angriff. Auch die amerikanische Bevölkerung und der US-Senat haben sich gegen Trump erhoben. Was den Weg für die türkische Invasion geöffnet hat, war die russische und US-amerikanische imperialistische Politik, die keinen Respekt vor der Bevölkerung hat und ohne jegliche Moral, nur nach ihren Profitinteressen handelt. Jeden Tag werden Frauen und Kinder getötet. Sie werden zu Flüchtlingen und leben in Zelten. Der Angriff wurde von den imperialistischen Staaten gegen die Stabilität, den Widerstand und die Kultur der Menschen in unserer Region verübt.


YPJ-Kommandantin Kurdistan Waşokanî
(Foto: YPJ-Generalkommandantur)


Gegen den Einmarsch des türkischen Staates, der sich „Friedensquelle” nennt, haben Sie die Kampagne „Berxwedana Rûmetê” (Widerstand der Würde) gestartet. Welche Rolle spielen die YPJ in dieser Kampagne, besonders in der Euphrat-Region?

Der Name der türkischen Operation ist ein Schwindel. Hitler hat Millionen von jüdischen Menschen im Namen der Gewinnung von Lebensraum vergast. Jeder Diktator und jeder Tyrann benutzt den Namen der Demokratie, um eine Maske zu schaffen, um sein wahres Gesicht zu verstecken. Also nannte Erdogan diese Operation „Friedensquelle”, um sein wahres Gesicht zu verbergen.

In unserem Land gab es keinen Krieg, für den die Türkei den Frieden bringen konnte. Alle lebten friedlich in ihrer Existenz. Es gab keine Probleme unter den Menschen. Derjenige, der das Problem erst geschaffen hat, ist der türkische Staat selbst. Unsere Aufgabe als Bevölkerung der Region und der Verteidigungskräfte war es, die Grenztruppen zu mobilisieren, die Region zu schützen und Räte zu bilden. Unser Widerstand gegen diesen Krieg, der großes Elend über die Menschen gebracht hat, wird fortgesetzt.

Junge kurdische und arabische Frauen haben sich in lebendige Schutzschilde verwandelt. Obwohl die Panzer des Feindes über die Leichen unserer Freundinnen rollten, haben sie ihre Stellungen nicht aufgegeben. Sie haben ihr Land verteidigt. Ihre Haltung war ethisch und kulturell. Das Prinzip der Welatparêzî (Liebe und Schutz des Landes) bedeutete, Widerstand zu leisten, ohne den Tod zu fürchten. Junge kurdische Frauen kämpften bis zum letzten Atemzug für die Würde dieses Landes. Sie sagten ‚Frauen sind nicht eure Ehre, unsere Ehre ist unser Land’. Hunderte von jungen Frauen wie Zin, Amara und Sara opferten sich und verließen ihre Positionen nicht. Als Freiheitskämpferinnen setzen wir unseren Widerstand bis zum Sieg fort, damit alle friedlich auf dem Land Rojavas leben können. Alle unsere Freundinnen und Freunde, Weggefährtinnen und Weggefährten, Genossinnen und Genossen stehen an der Front, um gegen diese illegitimen Angriffe Widerstand zu leisten.

Mit der Invasion des türkischen Staates soll der Willen rebellischer Frauen gebrochen werden, wie wir es bei den Angriffen auf die Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, Hevrin Xelef, und YPJ-Kämpferinnen wie Çîçek Kobanê und Amara Rênas gesehen haben. Wie sehen und bewerten Sie das?

Dieser Krieg wird gegen Frauen, Gesellschaft und Moral geführt. Um diesen Krieg zu beenden und den Sieg zu erringen, hatten wir nie einen Ansatz, der auf dem Konzept unseres Daseins als „Ehre” basiert. Denn als Frauen nehmen wir unsere Ehre als unser Land, unsere Kultur, unsere Ethik und unsere politische Identität wahr. Wir überwinden das feudale Konzept, das die Frau nur als Ehre ansieht. Mittlerweile stehen Hunderte von Frauen an der Front. Bei diesen brutalen Angriffen sind viele unserer Freundinnen gefallen, andere fielen in die Hände des Feindes. Sie wollen unseren Willen und unsere Würde brechen. Aber mit dem Mord an einer Frau geben Frauen nicht auf. Unser Körper kann gefangen genommen werden, aber sie werden niemals in der Lage sein, unsere Herzen und unseren Verstand zu erobern. Wir haben unseren Körper diesem Land geopfert. Das ist der Preis für die Freiheit, denn Freiheit kann nicht ohne einen Preis erreicht werden. Der Feind sagt: „Tötet zuerst die Frauen! Verletzt sie, nehmt sie gefangen!” Damit soll der Willen der Frauen und der Gesellschaft gebrochen werden. Denn Frauen sind die Identität der Gesellschaft und repräsentieren die Prinzipien des Lebens. Durch die Versklavung der Frauen will der Feind unsere Gesellschaft domestizieren und unsere Bevölkerung dazu bringen, den Kopf zu senken. Aber wir sagen zu den Menschen: „Geratet nicht in die Fallen des Feindes!“

Jetzt nehmen neue Kämpferinnen die Namen Hevrin und Amara an und schließen sich den Reihen der Verteidigungskräfte an. Dies ist auch eine starke Reaktion auf Erdogan, der den Willen der Bevölkerung und der freien Gesellschaft brechen will. Durch die Verstärkung der YPJ-Einheiten, die Stärkung und Ausbildung der YPJ-Kämpferinnen geben wir die stärkste Antwort auf diese Angriffe.

Wie reagiert die Bevölkerung der Euphrat-Region auf diese Angriffe?

Die Revolution in dieser Region ist noch nicht sehr alt. Minbic wurde 2016 und Tabqa 2017 befreit. Aber die arabische Bevölkerung in dieser Region wurde zu einem lebenden Schutzschild und übernahm ihre Rolle an der Seite der Freiheitskämpfer. Sie machte keinen Schritt zurück. Die arabische Bevölkerung und alle weiteren Menschen kamen zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen Erdogan zusammen.

Dieser Angriff ist das Ergebnis einer politischen Übereinkunft, denn der Vertrag von Lausanne wird damit beendet und das Staatssystem wird wieder aufgebaut. Aber wir akzeptieren diese politischen Vereinbarungen gegen uns nicht und wir werden uns auch nicht ihren Abmachungen und Geschäften unterwerfen.

Was sind Ihre Pläne für 2020?

Unser Plan für das neue Jahr ist es, unsere Ausbildungen zu stärken. Wir bereiten unsere Kräfte vor und bilden sie aus, damit sie in der Lage sind, diesen Angriffen zu widerstehen und unsere Gesellschaft politisch weiterzuentwickeln. So stärken wir unsere Kommunen und Volksräte. Wir werden tun, was notwendig ist, um uns mit einer revolutionären Philosophie schützen zu können, damit die Revolution wieder aufgebaut und verteidigt werden kann.

Meine letzte Botschaft an die kurdische Bevölkerung ist, dass wir uns gegenseitig stärken, wenn wir uns an dem anhaltenden Widerstand beteiligen. Wir müssen aufhören, kleine Berechnungen in Bezug auf Familien- oder Stammesinteressen anzustellen. Wir müssen unsere nationale Einheit aktiv aufbauen und uns zusammenschließen, um einen gemeinsamen politischen und militärischen Willen zu schaffen.

Wir danken den Menschen auf der ganzen Welt, dass sie uns in unserem politischen, sozialen und ethischen Widerstand gegen diesen Besatzungskrieg begleitet haben. Als kurdische Frauen und Frauen des Mittleren Ostens werden wir weiterhin Schulter an Schulter gegen den Faschismus Widerstand leisten.

Die deutsche Übersetzung des TV-Interviews erschien erstmalig bei Women Defend Rojava.

Auswirkungen der türkischen Invasion in Rojava auf Frauen und Kinder


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: Women Defend Rojava / November 2019

1. SITUATION VON FRAUEN UND KINDERN IM KONTEXT DER MODERNEN KRIEGSFÜHRUNG IN SYRIEN UND IM MITTLEREN OSTEN

1.1 Historische Einordnung der Rolle von Frauen und Kindern in Kriegen

Es wurden umfangreiche Untersuchungen zu den Auswirkungen der modernen Kriegsführung auf Frauen und Kinder durchgeführt. Viele Aspekte von Kriegen haben die stärksten Auswirkungen auf Frauen und Kinder. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist dies als ein Schema der modernen Kriegsführung bekannt geworden. Sei es aus taktischen oder technologischen Gründen, die Opfer moderner Konflikte sind viel eher Zivilist*innen als Soldaten. Manchmal ist es eine absichtliche Strategie, um Gemeinschaften und widerständige Bevölkerungen zu brechen. Da Frauen in der Regel die Rolle haben, Gemeinschaften zusammenzuhalten, d.h. die Basis für die Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Organisatisierung zu schaffen, nehmen Invasionstruppen in der modernen Kriegsführung üblicherweise Frauen als Zielscheibe, um ihre Besetzung “erfolgreicher” und schneller umzusetzen. Dabei verfolgen sie das Ziel, den Willen von Frauen und der Gesellschaft zu brechen, um Assimilation durchsetzen zu können. Nachdem der Kommandeur der UN-Friedensmission in der Demokratischen Republik Kongo mit seinen Amtskollegen umfangreiche Recherchen zu diesem Thema anstellte, kam er zu dem Schluss, dass es im späten 20. und 21. Jahrhundert “in einem bewaffneten Konflikt wahrscheinlich gefährlicher ist, eine Frau zu sein als ein Soldat.” Frauen sind mit viel höherer Wahrscheinlichkeit von mehreren Formen von Gewalt betroffen als Männer. Das gilt insbesondere für sexuelle Gewalt, auch in Friedenszeiten. Das macht den bloßen Ausbruch eines Krieges bereits zu einer gefährlicheren Situation für Frauen, da sie von Anfang an einer größeren Bedrohung ausgesetzt sind.

1.2 Vertreibung von Frauen und Kindern in Kurdistan

Eine der verheerendsten Auswirkungen der modernen Kriegsführung ist die Vertreibung der Bevölkerung. Laut UNICEF sterben weitaus mehr Kinder an durch Krieg verursachten Folgen von Krankheiten und Unterernährung als durch direkte Angriffe. Vertreibung bedeutet in der Regel eine Unterbrechung der individuellen Entwicklungs- und Bildungsprozesse, sowie eine Gefährdung durch exponentielle Risiken. Vertreibung wirkt sich auch stärker auf Frauen aus, da sie die Hauptlast der reproduktiven Arbeit und Fürsorge in ihren Gemeinschaften tragen. Dadurch sind Frauen für das Überleben und ihre Sicherheit stärker auf eine enge Verbindung zum gewohnten Umfeld und Land angewiesen. Kinder sind verletzbarer und können die Situation häufig nicht verstehen. Frauen erleiden ein viel höheres Maß an psychologischen Traumata durch Vertreibung als Männer und sind zudem viel eher gefährdet, da ihre Heimat und das Land, auf dem sie leben in der Regel für ihre Sicherheit, Identität und ihren Lebensunterhalt von größerer Bedeutung sind.

Ein Beispiel für die langfristigen Folgen der Vertreibung, die derzeit in Nord- und Ostsyrien stattfindet, ist die Situation der “Binnen- vertriebenen”, die derzeit nicht nach Afrin zurückkehren können. Afrin wurde von genau den gleichen Kräften besetzt, Truppen der türkischen Armee und ihren Söldnern, die derzeit daran arbeiten, ihre Herrschaft über den gesamten Nordosten Syriens zu errichten. Ein Bericht über die Situation tausender Binnenvertriebener Frauen und Kinder in der Region Shehba von August 2018 zeigt, dass die Bedingungen bezüglich Unterbringung, Sicherheit, Gesundheit und Bildung deutlich unter den von UNICEF und den Vereinten Nationen festgelegten akzeptablen Richtwerten liegen. Binnenvertriebene sind im allgemeinen viel häufiger Frauen und Kinder als Männer, die mit höherer Wahrscheinlichkeit eher internationale Grenzen überschreiten oder überhaupt nicht fliehen. UNHCR stuft Binnenvertriebene als einige der am stärksten gefährdeten Menschengruppe der Welt ein; sie fliehen oft in Gebiete, die für die UN oder internationale Hilfsgruppen nicht zugänglich sind. Tatsächlich wurde UN-Hilfsorganisationen bisher von der syrischen Regierung nicht genehmigt, nach Nordsyrien einzureisen, und internationale NGOs verließen die Region im Oktober 2019 aufgrund der durch die Invasion verursachten Gefahr. Dies schränkte die Ressourcen und Hilfsmöglichkeiten für die Bewältigung der humanitären Krise sehr stark ein.

All diese Ereignisse müssen im Kontext eines achtjährigen Konflikts auf syrischem Territorium betrachtet und mit den dokumentierten Auswirkungen des kurz- und langfristigen Krieges auf Frauen und Kinder, sowie im Kontext der geschichtlichen Entwicklung der Region analysiert werden, um die verheerenden Auswirkungen der Angriffe auf Frauen und Kinder vollständig verstehen zu können. Die Tatsache, dass dieser Krieg auch Praktiken des Völkermords, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen umfasst, müssen ebenfalls in diesem Kontext benannt werden.

1.3 Feminizid in Kurdistan

Viele Organisationen, darunter die WHO, bezeichnen die Ermordung von Frauen aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie Frauen sind, als „Feminizid“. Der Begriff Feminizid wird auch zunehmend von Frauenrechtler*innen und sozialen Bewegungen verwendet, um systematische geschlechtsspezifische Gewalt als Mittel der Kriegsführung und Besatzung sichtbar zu machen. In internationalen Konventionen und Gesetzen mangelt es jedoch bisher an einer angemessenen Vorgehensweise und Definition. Der Genozid schließt die soziale und psychologische Vernichtung einer ethnischen, religiösen oder kulturellen Gruppe mit ein. Ebenso sollte der Feminizid als ein systematischer Angriff begriffen werden, der nicht allein physische Angriffe beinhaltet, sondern auch soziale, ideologische und psychologische Angriffe auf die Existenz, Identität und Würde von Frauen.

Afrin stellt auch ein Beispiel für die Folgen der langfristigen Besetzung durch die türkischen Armee und ihre verbündeten Truppen dar. Umfangreiche Beweise für Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt, Entführungen, Lösegelderpressungen und gezielte Ermordung von Frauen wurden ebenso dokumentiert wie die Durchsetzung der Sharia-Gesetzte gegen den Willen der Frauen. Diese Verordnungen bedeuten das Einsperren von Frauen in ihrem Haus, den Entzug jeglicher Rechte von Frauen und ihres Zugang zu Gerechtigkeit.

Derartige Verbrechen wurden und werden von Gruppen wie dem IS, Al Qaida, Al Nusra oder Boko Haram und Staaten wie der Türkei begangen. Es erfordert die Errichtung eines neuen rechtlichen und politischen Rahmens, um diese spezifischen Verbrechen zu verurteilen, zu verfolgen und weitere dieser Verbrechen zu verhindern. Die zunehmende Verbreitung dieser Verbrechen erfordert, dass wir Feminizid auf der gleichen Ebene wie Genozid bewerten und verurteilen müssen, wenn eine Häufung von Verbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen, die sich systematisch gegen Frauen als eine spezifische soziale Gruppe richten.

1.4 Besondere Gefährdung von Frauen und Kindern durch Daesh

Der türkische Staat hat in seinem Besatzungskrieg weitgehend Stellvertreterarmeen benutzt. Seine langjährige Verbindung mit dem Islamischen Staat wurde ausgiebig dokumentiert. Darüber hinaus haben viele Mitglieder jener Stellvertretertruppen, die derzeit in Nord- und Ostsyrien tätig sind und den türkischen Staat unterstützen, eine Vergangenheit als Mitglieder des Islamischen Staates und sind Mitglieder von Organisationen, die auf den gleichen Prinzipien basieren.

Um die Auswirkungen dieses Konflikts auf Frauen, Mädchen und Kinder verstehen zu können, ist es deshalb notwendig, dass wir diesbezüglich die klar belegte Bilanz der Verbrechen des Islamischen Staates betrachten. In einem der berüchtigtsten der dokumentierten Fälle wurde festgestellt, dass der IS während des Völkermords an der ezidischen Bevölkerung von Shengal im Jahr 2014 Methoden wie sexuelle Sklaverei, systematische Entführung, Vergewaltigung und Feminizid einsetzte. Ein Großteil der von diesen Verbrechen Betroffenen sind minderjähriger Mädchen. Im gesamten Gebiet, das durch den Islamischen Staat in Syrien besetzt wurde, gab es unzählige Fälle von sexueller Gewalt, Vergewaltigungen, Ehrenmorden, Missbrauch, Sklaverei sowie von Folter und Entführungen, die sich insbesondere gegen Frauen richteten. Frauen wurden jegliche Rechte und ihr Zugang zur Justiz verweigert, ihre Gesundheit wurde vernachlässigt und es war ihnen untersagt, ohne ein männliches Familienmitglied aus dem Haus gehen, was ihr Zuhause oft de facto zu einem Gefängnis werden ließ. Auch Kinder, insbesondere Mädchen, litten unter Kinderheirat, fehlender Schulbildung und fehlendem Zugang zu Gesundheitsversorgung.


2. ÜBERBLICK ÜBER DIE KRIEGSSITUATION IN ROJAVA


2.1 Die militärischen Angriffe der Türkischen Armee und ihrer verbündeten Dschihadisten auf die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien

Seit dem 9. Oktober um 16:00 Uhr (EEST/ GMT+3) führt die Armee des türkischen Staates mit verbündeten Söldnertruppen eine militärische Operation in Nordsyrien durch. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts dauert dieser Angriff bereits seit sechs Wochen an. Der Angriff begann mit schweren Luftangriffen auf die Regionen Serekaniye (Ras al-Ayn) und Gire Spi (Tel Abyad) sowie mit Bombardierungen und Granatenangriffen entlang der gesamten Grenze, einschließlich auf Städte und Dörfer in den Regionen Derik, Rimelan, Qamishlo, Amude, Dirbesiye, Serekaniye, Gire Spi, Kobane, Manbij und Ayn-Issa. Luftangriffe und Artilleriebeschüsse der türkischen Armee werden von einer Bodenoffensive durch Truppen begleitet, die von der türkischen Armee aufgestellt wurde und sie unterstützt.

Der Großteil dieser Bodentruppen besteht aus Söldnern der Freien Syrischen Armee, die sich nun „Syrische Nationale Armee“ nennen. Diese Truppen wurden von der Türkei aus verschiedenen sunnitisch-muslimischen arabischen und turkmenischen bewaffneten Gruppen zusammengestellt. Alle Gruppen, die nun diese neue Bodentruppe bilden, sind in der Vergangenheit durch Kriegsverbrechen bekannt geworden. Die Mehrheit von ihnen hat direkte oder indirekte Beziehungen zum Islamischen Staat (IS). Die Aufstellung und Unterstützung von dschihadistischen Söldnertruppen durch die Türkei, deren Zusammenarbeit sowie weitreichenden Verbindungen zum IS sind ebenfalls während dieser Invasion dokumentiert worden. Der türkische Staat setzt dabei dschihadistische Gruppen als institutionellen Bestandteil seiner Bodentruppen ein, um die Besetzung aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung in den eroberten Gebieten zu unterdrücken.

Die türkische Armee und ihre verbündeten Truppen haben nun die Städte Serekaniye und Gire Spi sowie die dazwischen liegenden Gegenden besetzt. Es gibt anhaltende Invasionsangriffe seitens der türkischen Armee und der mit ihr verbündeten Truppen auf die Regionen und Städte von Tel Temer und Ayn Issa sowie an vielen Stellen entlang der internationalen Verkehrsstraße M4, um diese Städte zu kontrollieren und zu isolieren. Zudem wird die Bodeninvasion weiterhin durch Luftangriffe von türkischen Kampfflugzeugen und Drohnen (UAV) unterstützt.

2.2 Der angebliche Waffenstillstand

Am 17. Oktober 2019 um 22 Uhr wurde nach einem Abkommen zwischen der Türkei und den USA ein Waffenstillstand verkündet. Ein weiteres Abkommen wurde am 22. Oktober zwischen Russland und der Türkei beschlossen: das “Abkommen von Sotschi”. Gemäß dieser Vereinbarung wurde der Waffenstillstand unter der Bedingung verlängert, dass sich die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) 30 km weit von der Grenze zurückziehen und die türkische Armee von Russland begleitete Patrouillen in bestimmten Regionen entlang der Grenze auf syrischem Territorium durchführen kann. Obwohl die SDF die Bedingungen des Abkommens einhält, haben die Türkei und ihre verbündeten Truppen wiederholt gegen den Waffenstillstand verstoßen sowie ihre Angriffe weiter ausgeweitet. Während der gesamten Zeit der andauernden Invasion wurden kontinuierlich Beweise für Kriegsverbrechen festgestellt. Experten stellten deutliche Beweise für den Einsatz verbotener Waffen (Weißer Phosphor) fest und legten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) nah, eine offizielle Untersuchung durchzuführen.

2.3 Binnengeflüchtete in Rojava und
Demographischer Wandel nach türkischen Vorstellungen

Die aktuelle Invasion des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien findet in einem historischen Kontext und als Teil einer breiteren geopolitischen Situation statt. Die laufenden Angriffe vom Oktober 2019 sind eine Fortsetzung der Invasion und Besetzung Afrins durch den türkischen Staat im Jahr 2018. Hier wird ein Muster fortgesetzt, demzufolge der türkische Staat in der Region einseitige Maßnahmen unter dem Label der „Sicherheit“ durchführt, welche anstreben die demografische Zusammensetzung zu verändern und Bevölkerungsgruppen weitreichend aus diesen Regionen zu vertreiben. Die Türkei versucht demographische Veränderungen in dieser Region zu bewirken, indem sie durch ihre Angriffe Massenvertreibungen verursacht. Erdogan plant, tausende von Geflüchteten, welche ursprünglich aus anderen Teilen Syriens stammen, aus der Türkei zu deportieren und im Norden und Nordosten Syriens “anzusiedeln”. Viele von ihnen wurden ganz bewusst aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dschihadistischen Gruppen ausgewählt.

Durch die türkische Invasion in Nordsyrien wurden hunderttausende Menschen zu Geflüchteten und Binnenvertriebenen, die sich noch immer in dem von der autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens verwalteten Gebiet befinden. Seit dem 2. November wurden ca. 200.000 – 300.000 Menschen durch die türkische Invasion vertrieben, Frauen und Kinder sind dabei von gravierenderen Auswirkungen betroffen. 150.000 davon befinden sich nun in der Jazeera-Region. Allen Berichten zufolge sind die überwiegende Mehrheit davon Frauen und Kinder. Tausende von Kindern leben bereits als Vertriebene mit all den hierdurch erzeugten physischen und psychischen Schäden. Die Situation der Binnenvertriebenen ist kritisch, da die Nahrungsmittel- und Wasserknappheit durch Angriffe auf die Infrastruktur, wie beispielsweise die Wasserstation Alouk, noch weiter verschlimmert wird. Die Menschen sind hochgradig durch ansteckende Krankheiten gefährdet und anfällig für andere Gefahren. Nach Angaben lokaler NGOs, die in den Camps arbeiten, zeigen Kinder Anzeichen von psychischen Folgeerscheinungen. Es gibt keine Infrastruktur für Bildung, Beratung oder Kinderförderung. In vielen Camps, die kontinuierlich um Ressourcen kämpfen, fehlt es an Gesundheitsversorgung.

Das Washokani-Camp wurde ohne internationale Unterstützung in der Nähe von Heseke, Kanton Jazeera, neu errichtet. Der Anteil der erwachsenen männlichen Bewohner des Camps ist weniger als 20%, was eine sehr typische Situation der Binnenvertriebenen in diesem Konflikt darstellt. Alle im Washokani-Camp untergebrachten Menschen sind Vertriebene aus den Städten und der Umgebung von Serekaniye und Tel Temer. Der Leiterin des Camps liegen Berichte vor, die die Ursache dafür, dass die Anzahl der Frauen im Camp so viel höher ist als die der Männer, darauf zurückführen, dass Frauen in vielen Fällen meist früher fliehen, da sie zusätzlich durch sexuelle Gewalt und Vergewaltigung von den Angreifern bedroht sind. Darüber hinaus tragen sie auch die Hauptverantwortung für die Versorgung und Betreuung ihrer Kinder. Frauen und Kinder werden nicht nur mit größerer Wahrscheinlichkeit vertrieben, sondern sind auch von den Auswirkungen viel stärker betroffen.

2.4 Angriffe auf Zivilist*innen und das zivile Leben

Erste Berichte und Zeugenaussagen machen deutlich, dass die gleichen Praktiken, die im besetzten Afrin angewandt werden, auch in Serekaniye und Gire Spi zu beobachten sind. Die Besetzung und der Angriff auf Nordsyrien durch die türkische Armee und ihre Verbündeten ist wiederholt mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit einhergegangen, wie sie in der UN-Dekleration definiert sind und entsprechen der UN-Definition eines Genozids an der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens, der insbesondere auf die kurdischen und christlichen Gemeinschaften abzielt. Seit Beginn der Invasion sind Frauen zunehmend von Vergewaltigung, sexuellen Übergriffe und andere Formen geschlechts- spezifischer Gewalt bedroht. Es gab auch gezielte Angriffe auf Frauen aus der Zivilgesellschaft, wie die brutale Ermordung der Politikerin Hevrin Khalaf. Frauen in Gire Spi und anderen besetzten Gebieten wurden die Scharia-Gesetze durch die Besatzungstruppen aufgezwungen. Auch Kriegsverbrechen, die sich bewusst gegen Kämpferinnen der YPJ richten, wurden dokumentiert.

Es wurde dokumentiert, dass sowohl die türkische Armee als auch ihre verbündeten Truppen ganz gezielt Zivilist*innen und zivile Infrastruktur angegriffen haben. Der historische Kontext hat eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit den Angriffen auf das Gebiet der Demokratischen Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien, innerhalb dessen die Selbstverwaltung und die Frauenbewegung Frauengesetze und Zentren zur Umsetzung von Frauenrechten etabliert haben. Hierdurch hat die Gemeinschaft eine aktive Rolle bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt gespielt und das Empowerment von Frauen institutionalisiert. Die Zerstörung dieser Zentren durch Besatzungstruppen stellt einen Rückschlag dar und macht Frauen von nun an viel angreifbarer. Diese Angriffe beeinträchtigen insbesondere das Leben und die Existenzgrundlage von Frauen und Kindern. Angriffe auf die Infrastruktur ziehen die gesamte Gesellschaft und alle Lebensbereiche in Mitleidenschaft, in denen die Rolle von Frauen zumeist zentral ist. Frauen und Kinder befinden sich häufig in einer verletzlicheren gesellschaftlichen Position und können sich daher weniger frei bewegen, um Gefahren zu entkommen.

Ein Angriff auf das derzeitig pluralistische und multiethnische Zusammenleben der Menschen in den Gebieten der Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien stellt auch einen Versuch dar, die Harmonie zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen zu zerstören, sowie Chaos und Gewalt zu erzeugen. Diese Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und die Zerstörung des zivilen Lebens sind gezielte Taktiken der türkischen Armee und ihrer verbündeten Truppen, und stellen einen Völkermord und Feminizid dar. Diese Tatsache erfordert eine massive internationale Intervention.


3. PLÄDOYER VON KONGRA STAR

Basierend auf den hier erörterten und allgemein verfügbaren Beweisen geht Kongra Star davon aus, dass in Nordsyrien ein Genozid und zugleich ein Feminizid im politischen Sinne verübt wird, der sich gegen Frauen als eine soziale Gruppe richtet. Die Angriffe auf das System der demokratischen Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens sind ein Angriff auf die Sicherheit und Freiheit von Frauen. Hinzu kommen die extremen humanitären Auswirkungen dieser Invasion, von der Frauen und Kinder und damit auch die Gemeinschaften am schwersten betroffen sind. Kongra Star sieht die dringende Notwendigkeit, eine politische Lösung für den Konflikt in Syrien zu finden, bei der die Stimmen aller ethnischen Gruppen, aller Altersgruppen, Religionen und Organisationen und vor allem die Stimmen und Bedürfnisse der Frauen Gehör finden und berücksichtigt werden müssen. Um diesen Prozess einzuleiten, müssen die Frauen Nord- und Ostsyriens die Möglichkeit haben, Delegierte zu entsenden, die sie bei der Ausarbeitung einer neuen syrischen Verfassung und aller damit verbundenen Prozesse vertreten. Darüber hinaus ist es wichtig, dass alle Kriegsverbrechen sowie alle beteiligten Täter in rechtlichen Verfahren zur Anklage gebracht werden. Um Gerechtigkeit zu erlangen, müssen die vom türkischen Staat und seiner Söldnertruppen verübten Genozide und Feminizide offiziell anerkannt und verurteilt werden.

Unverzüglich müssen folgende Maßnahmen von der internationalen Gemeinschaft ergriffen werden, um die physische und soziale Krise zu beenden, die durch die türkische Invasion verursacht wurde und in deren Rahmen Gewalt, Vertreibung, Kriegsverbrechen, Not und Menschenrechtsverletzungen verübt werden:

• Einrichtung einer “Flugverbotszone” über Nordsyrien zum Schutz Zivilbevölkerung vor willkürlicher Gewalt und Massakern

• Sofortiger Rückzug der türkischen Besatzungsarmee und aller mit ihr verbundenen bewaffneten Gruppen aus dem Territorium Syriens; Beendigung der Besetzung, der Völkermordpraktiken und des Feminizids

• Einrichtung einer Friedensmission der internationalen Gemeinschaft an der türkisch-syrischen Grenze zur Verhinderung weiterer Angriffe der türkischen Armee und all ihrer verbündeter Milizen

• Verhängung von umgehenden Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei und sofortige Einstellung des gesamten Waffenhandels mit der Türkei

• Sofortmaßnahmen zur umfangreichen humanitären Unterstützung der Regionen der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens

PDF ZUM WEITERLESEN : Dossier von Kongra Star zu Auswirkungen der türkischen Invasion auf Frauen und Kinder in Rojava