Jahresbilanz der YPJ 2019


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 01.01.2020, Jahresrückblick:
Die Rolle der YPJ im Widerstand von Rojava

Die Journalistin Avrîn Masûm vom kurdischen Fernsehkanal Ronahî TV sprach mit Kurdistan Waşokanî, der YPJ-Kommandantin der Euphrat-Region, über die Entwicklungen im Jahr 2019, die Ziele der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien sowie die Pläne der Frauenverteidigungseinheiten YPJ für 2020.

Was waren die wichtigsten Entwicklungen
im vergangenen Jahr in Nord- und Ostsyrien?

Vom Winter 2018 bis zum Frühjahr 2019 haben die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), darunter die YPG und die YPJ sowie alle regionalen Kräfte, am großen Widerstand in der Wüstenregion Deir ez-Zor teilgenommen. Im Frühjahr wurde Daesh („Islamischer Staat“) in der Region al-Bagouz besiegt. Deshalb brachte die Feier des Newroz-Tages die schönste Botschaft an die kurdische Bevölkerung, den Sieg der Freiheitskämpfer*innen. Die Niederlage von Daesh zwang ihre Förderer wie den türkischen Staat, Katar und die imperialistischen Kräfte, neue Pläne zu entwickeln, um Daesh zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen. Der türkische Staat wurde zum Repräsentanten von Daesh, indem er drohte, Rojava und die Regionen Nord- und Ostsyriens anzugreifen. Mit diesen Drohungen sollte Angst in den Herzen der Menschen geschürt sowie die Stabilität und Freundschaft, die sich in dieser Region zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, zerstört werden. Daesh hat durch brutale Enthauptungen Angst verbreitet, der türkische Staat tat dies mit seinen Drohungen und Angriffen.

Mit der Feier von Newroz trafen wir uns als Verteidigungskräfte mit der Bevölkerung in der ganzen Euphrat-Region, um ein neues Leben mit zivilen und militärischen Volksräten aufzubauen. Auf diese Weise wollten wir als militärische Kraft unsere Bevölkerung mobilisieren, sich dem Widerstand anzuschließen und unseren Erfolg gegen Daesh zu sichern. Auf dieser Grundlage begannen wir in allen Bezirken der Euphrat-Region Räte aufzubauen, wie in Tabqa, Raqqa, Minbic, Kobanê und Girê Spî. Unser Ziel war es, die Gesellschaft wieder aufzubauen und zu reorganisieren, die Menschen zu informieren und ihnen das System und die Ideen Rebêr Apos [Abdullah Öcalans] näher zu bringen. Die arabische, kurdische und turkmenische Bevölkerung hat diese Arbeiten mit Freude aufgenommen. Sie sahen darin eine Möglichkeit, in Frieden und auf einer selbst geschaffenen Basis leben zu können.

Rebêr Apo sagte: „Jede Pflanze wächst auf ihren eigenen Wurzeln.” Seit acht Jahren haben sich die Menschen in dieser Region dem enormen Widerstand gegen Daesh angeschlossen und schließlich haben wir Daesh besiegt. Das war eine große Freude für die Menschen in der Region. Deshalb wollen wir dieses Glück in ein System des Lebens, eine Philosophie, eine Idee verwandeln, die wir mit allen Menschen teilen. Alle wollten Lösungen für ihre Probleme in der Region finden und einen neuen Willen als Menschen dieser Region entwickeln.

Welche Rolle haben die Frauen beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und den Selbstverteidigungsräten gespielt?

Wenn du die Frau befreien kannst, kannst du die Gesellschaft befreien. Wenn eine Gesellschaft um Frauen herum aufgebaut wird, entsteht auch eine gewisse Ethik. Das erschreckt die reaktionären Kräfte des dominanten männlichen Systems am meisten. Viele Menschen schauen mit Zweifel auf diese Versammlungen und Räte und fragen sich, ob die Menschen der Region in der Lage sein werden, sich selbst zu verwalten, zu schützen und zu organisieren. Wir, als Kinder und Kämpferinnen dieses Landes, glauben an uns selbst, weil wir eine achtjährige Prüfungsphase bestanden haben. Unsere Prüfung war eine Revolution. Das hat den Wandel unseres Kampfes in eine soziale, kulturelle und politische Revolution ermöglicht. Diese Realität hat Frauen dazu gebracht, an sich selbst zu glauben. Die kurdischen Frauen und auch die arabischen Frauen haben an Moral und Mut gewonnen. Dies ermöglichte es Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen der Region, diese Philosophie besser kennen und verstehen zu lernen und Teil dieses Widerstandes zu werden. Damit gaben sie ihren eigenen Völkern eine Antwort. Das hatte auch großen Einfluss auf die Männer und die arabische Gesellschaft.

In Minbic, Kobanê, Tebqa und Girê Spî sind 50 Prozent der Frauen in den YPJ-Einheiten junge arabische Frauen. Wir wissen, dass in der kurdischen und arabischen Gesellschaft Frauen seit langer Zeit nur als Hausfrauen gesehen wurden, die Kinder aufziehen, Essen zubereiten und die Bedürfnisse der Männer erfüllen. Aber heute haben der Wille der Frauen und ihr Einsatz in den Verteidigungseinheiten eine Angst im Herzen des reaktionären und staatstragenden Mannes ausgelöst. Das schafft großen Mut in den Herzen aller Frauen, die in den Räten die Stimme der eigenen Bevölkerung werden wollen. Der Stolz über ihre Teilnahme bringt ihren natürlichen Willen zum Vorschein. So werden sie zu einem Vorbild für alle Frauen in der Region.

Die Teilnahme der syrisch-arabischen Frauen bei den QSD wurde zu einem Thema, das die Welt interessiert. Der Widerstand dieser Frauen gibt auch den Frauen in anderen Teilen der Welt großen Mut. Die Frauenarmee der YPJ hat das materielle und moralische Erbe der Gesellschaft zurückgewonnen, das der Gesellschaft vorenthalten worden war.

Das Engagement von Führern der arabischen Stammesgemeinschaften hat zu einem größeren Respekt gegenüber den politischen und militärischen Räten geführt. Alle Frauen, sowohl kurdische als auch arabische, spielen eine wichtige Rolle in diesen Räten. Auch die Suryoye-Frauen haben eigene Räte aufgebaut. Sie haben auch anderen Frauen des Mittleren Ostens vorgeschlagen, diese Erfahrungen zu nutzen und sie als Basis für den Widerstand in ihren eigenen Ländern zu nehmen.

Im Jahr 2019 haben sich viele Menschen den Verteidigungskräften angeschlossen, besonders den YPJ. In den Regionen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung arabisch ist, gab es anfangs eine Art Angst vor der Beteiligung von Frauen, weil dadurch meist eine Revolution in der eigenen Familie ausgelöst wird. Die Teilnahme von Frauen an den YPJ findet nicht nur auf militärischer Ebene statt, sondern schafft eine soziale, politische, kulturelle und moralische Revolution. Besonders in feudalen arabischen Gesellschaften, in denen Frauen ans Haus gefesselt sind und ohne Erlaubnis des Mannes nirgendwo hingehen können, bedeutet dies eine grundlegende Veränderung. Heute diskutieren Frauen in ihren Räten soziale und familiäre Fragen. Dass sie politische Fragen diskutieren, um eine Lösung für die Region und für Syrien zu finden, ist eine Revolution an sich. Dies ist der Erfolg der sozialen Revolution, die einen politischen und kulturellen Wandel in der arabischen Gesellschaft ermöglicht hat.

Welche Auswirkungen hat die Beteiligung von Frauen
auf die verschiedenen Teile der Gesellschaft?

Frauen haben mehr an Einfluss gewonnen. Aus der Sicht des Mittleren Ostens findet ein Mann, der in die Armee eintritt, nicht viel Interesse, weil es als Arbeit für Männer angesehen wird. Alle Armeen werden von Männern aufgebaut und Männer haben die Pflicht, zum Militär zu gehen. Aber die Teilnahme von Frauen an den militärischen Verteidigungskräften, insbesondere von arabischen Frauen, ist keine gewöhnliche Sache. Das trägt dazu bei, dass in allen Köpfen eine Revolution ausgelöst wird. Denn die Frauen hatten Augen, konnten aber nicht sehen. Sie hatten eine Zunge, konnten aber nicht sprechen. Diese Situation hat sich nun geändert. Die Frauen sind jetzt zu Vorreiterinnen der Revolution und der Zukunft einer ethischen und politischen Gesellschaft geworden.

2011 begann die Revolution im Mittleren Osten im Namen einer Revolution der Völker. Danach machte sich die Muslimbruderschaft diese zunutze und wollte die Revolution an sich reißen. Sie startete die ersten Angriffe auf Rojava. Aber die Revolution ließ sich nicht ersticken. Trotz der Angriffe des Systems verlor die Revolution hier nicht ihre Hoffnung. Nur in Rojava wurde der Wille der Bevölkerung nicht verfälscht und nicht seiner Essenz beraubt. Gegen die Angriffe Erdogans auf Rojava hat sich die Welt erhoben. Denn Daesh ist der Feind der ganzen Welt und der Menschheit. Es war die kurdische Bevölkerung, die Menschen dieser Region und besonders die Frauen, die gegen Daesh gekämpft haben.

Zur gleichen Zeit haben wir unsere Institutionen aufgebaut. Der Demokratische Syrienrat (MSD) wurde als die Generalversammlung Syriens gegründet, um ein Projekt für ein demokratisches Syrien zu entwickeln, das die Krise überwinden kann. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurden zu ihrer militärischen Kraft. Die Revolution wurde zu einer Revolution im Mittleren Osten und beeinflusste die ganze Welt. Denn generell gibt es gerade einen Mangel an ethischen und politischen Bewegungen. Die europäischen Bewegungen, die behaupten, die ethischsten zu sein, führen oft eine Politik der Täuschung mit sich. Aber Politik ist ein Weg sowie eine Methode des Lebens, die Lösung des Lebens und die Einheit des Denkens und Handelns. Aus diesem Grund hat das Beispiel der Revolution in Rojava und der Aufbau ihrer Institutionen einen großen Einfluss auf die Region gehabt. Hierdurch wurde das kurdische Volk endlich als Menschen in der globalen Gesellschaft akzeptiert.

Was ist das Ziel der Angriffe des türkischen
Staates auf Nord- und Ostsyrien?

Hinter den Angriffen des türkischen Staates auf Rojava stehen diejenigen, die Erdogan die Erlaubnis zum Angriff gegeben haben. Es sind die Kolonialmächte, die kein Lösungsprojekt für den Mittleren Osten haben und die Krise nur vertiefen wollen. Es gibt zwei Hauptkräfte in der Region, die USA und Russland. Sie erkennen die Bevölkerung nicht an. Sie erkennen ihre regionale, soziale, kulturelle und militärische Existenz nicht an. Mit dieser Revolution hat ihnen die Gesellschaft die Augen geöffnet und ist wieder zum Leben erwacht. Diese Mächte lehnen die Autonomie und Eigenständigkeit der Gesellschaft ab. Deshalb haben sie sie in eine Krise gestürzt.

Seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hat die Türkei Angst davor, weitere Gebiete zu verlieren. Die Kurd*innen, Alevit*innen und Armenier*innen fordern immer noch ihre Rechte ein. Aber die Türkei verweigert sie ihnen. Deshalb versucht die Türkei, die kurdische Bevölkerung, die Stabilität und ein autonomes System geschaffen hat, zu beseitigen.

Aber die Bevölkerung akzeptiert die Allianz zwischen Erdogan, Putin und Trump nicht. Die Angriffe gegen Serêkaniyê und Girê Spî haben die Welt dazu gebracht, sich zu erheben und zu erklären, dass dieser Angriff unmoralisch ist. Es ist ein politischer und imperialistischer Angriff. Auch die amerikanische Bevölkerung und der US-Senat haben sich gegen Trump erhoben. Was den Weg für die türkische Invasion geöffnet hat, war die russische und US-amerikanische imperialistische Politik, die keinen Respekt vor der Bevölkerung hat und ohne jegliche Moral, nur nach ihren Profitinteressen handelt. Jeden Tag werden Frauen und Kinder getötet. Sie werden zu Flüchtlingen und leben in Zelten. Der Angriff wurde von den imperialistischen Staaten gegen die Stabilität, den Widerstand und die Kultur der Menschen in unserer Region verübt.


YPJ-Kommandantin Kurdistan Waşokanî
(Foto: YPJ-Generalkommandantur)


Gegen den Einmarsch des türkischen Staates, der sich „Friedensquelle” nennt, haben Sie die Kampagne „Berxwedana Rûmetê” (Widerstand der Würde) gestartet. Welche Rolle spielen die YPJ in dieser Kampagne, besonders in der Euphrat-Region?

Der Name der türkischen Operation ist ein Schwindel. Hitler hat Millionen von jüdischen Menschen im Namen der Gewinnung von Lebensraum vergast. Jeder Diktator und jeder Tyrann benutzt den Namen der Demokratie, um eine Maske zu schaffen, um sein wahres Gesicht zu verstecken. Also nannte Erdogan diese Operation „Friedensquelle”, um sein wahres Gesicht zu verbergen.

In unserem Land gab es keinen Krieg, für den die Türkei den Frieden bringen konnte. Alle lebten friedlich in ihrer Existenz. Es gab keine Probleme unter den Menschen. Derjenige, der das Problem erst geschaffen hat, ist der türkische Staat selbst. Unsere Aufgabe als Bevölkerung der Region und der Verteidigungskräfte war es, die Grenztruppen zu mobilisieren, die Region zu schützen und Räte zu bilden. Unser Widerstand gegen diesen Krieg, der großes Elend über die Menschen gebracht hat, wird fortgesetzt.

Junge kurdische und arabische Frauen haben sich in lebendige Schutzschilde verwandelt. Obwohl die Panzer des Feindes über die Leichen unserer Freundinnen rollten, haben sie ihre Stellungen nicht aufgegeben. Sie haben ihr Land verteidigt. Ihre Haltung war ethisch und kulturell. Das Prinzip der Welatparêzî (Liebe und Schutz des Landes) bedeutete, Widerstand zu leisten, ohne den Tod zu fürchten. Junge kurdische Frauen kämpften bis zum letzten Atemzug für die Würde dieses Landes. Sie sagten ‚Frauen sind nicht eure Ehre, unsere Ehre ist unser Land’. Hunderte von jungen Frauen wie Zin, Amara und Sara opferten sich und verließen ihre Positionen nicht. Als Freiheitskämpferinnen setzen wir unseren Widerstand bis zum Sieg fort, damit alle friedlich auf dem Land Rojavas leben können. Alle unsere Freundinnen und Freunde, Weggefährtinnen und Weggefährten, Genossinnen und Genossen stehen an der Front, um gegen diese illegitimen Angriffe Widerstand zu leisten.

Mit der Invasion des türkischen Staates soll der Willen rebellischer Frauen gebrochen werden, wie wir es bei den Angriffen auf die Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, Hevrin Xelef, und YPJ-Kämpferinnen wie Çîçek Kobanê und Amara Rênas gesehen haben. Wie sehen und bewerten Sie das?

Dieser Krieg wird gegen Frauen, Gesellschaft und Moral geführt. Um diesen Krieg zu beenden und den Sieg zu erringen, hatten wir nie einen Ansatz, der auf dem Konzept unseres Daseins als „Ehre” basiert. Denn als Frauen nehmen wir unsere Ehre als unser Land, unsere Kultur, unsere Ethik und unsere politische Identität wahr. Wir überwinden das feudale Konzept, das die Frau nur als Ehre ansieht. Mittlerweile stehen Hunderte von Frauen an der Front. Bei diesen brutalen Angriffen sind viele unserer Freundinnen gefallen, andere fielen in die Hände des Feindes. Sie wollen unseren Willen und unsere Würde brechen. Aber mit dem Mord an einer Frau geben Frauen nicht auf. Unser Körper kann gefangen genommen werden, aber sie werden niemals in der Lage sein, unsere Herzen und unseren Verstand zu erobern. Wir haben unseren Körper diesem Land geopfert. Das ist der Preis für die Freiheit, denn Freiheit kann nicht ohne einen Preis erreicht werden. Der Feind sagt: „Tötet zuerst die Frauen! Verletzt sie, nehmt sie gefangen!” Damit soll der Willen der Frauen und der Gesellschaft gebrochen werden. Denn Frauen sind die Identität der Gesellschaft und repräsentieren die Prinzipien des Lebens. Durch die Versklavung der Frauen will der Feind unsere Gesellschaft domestizieren und unsere Bevölkerung dazu bringen, den Kopf zu senken. Aber wir sagen zu den Menschen: „Geratet nicht in die Fallen des Feindes!“

Jetzt nehmen neue Kämpferinnen die Namen Hevrin und Amara an und schließen sich den Reihen der Verteidigungskräfte an. Dies ist auch eine starke Reaktion auf Erdogan, der den Willen der Bevölkerung und der freien Gesellschaft brechen will. Durch die Verstärkung der YPJ-Einheiten, die Stärkung und Ausbildung der YPJ-Kämpferinnen geben wir die stärkste Antwort auf diese Angriffe.

Wie reagiert die Bevölkerung der Euphrat-Region auf diese Angriffe?

Die Revolution in dieser Region ist noch nicht sehr alt. Minbic wurde 2016 und Tabqa 2017 befreit. Aber die arabische Bevölkerung in dieser Region wurde zu einem lebenden Schutzschild und übernahm ihre Rolle an der Seite der Freiheitskämpfer. Sie machte keinen Schritt zurück. Die arabische Bevölkerung und alle weiteren Menschen kamen zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen Erdogan zusammen.

Dieser Angriff ist das Ergebnis einer politischen Übereinkunft, denn der Vertrag von Lausanne wird damit beendet und das Staatssystem wird wieder aufgebaut. Aber wir akzeptieren diese politischen Vereinbarungen gegen uns nicht und wir werden uns auch nicht ihren Abmachungen und Geschäften unterwerfen.

Was sind Ihre Pläne für 2020?

Unser Plan für das neue Jahr ist es, unsere Ausbildungen zu stärken. Wir bereiten unsere Kräfte vor und bilden sie aus, damit sie in der Lage sind, diesen Angriffen zu widerstehen und unsere Gesellschaft politisch weiterzuentwickeln. So stärken wir unsere Kommunen und Volksräte. Wir werden tun, was notwendig ist, um uns mit einer revolutionären Philosophie schützen zu können, damit die Revolution wieder aufgebaut und verteidigt werden kann.

Meine letzte Botschaft an die kurdische Bevölkerung ist, dass wir uns gegenseitig stärken, wenn wir uns an dem anhaltenden Widerstand beteiligen. Wir müssen aufhören, kleine Berechnungen in Bezug auf Familien- oder Stammesinteressen anzustellen. Wir müssen unsere nationale Einheit aktiv aufbauen und uns zusammenschließen, um einen gemeinsamen politischen und militärischen Willen zu schaffen.

Wir danken den Menschen auf der ganzen Welt, dass sie uns in unserem politischen, sozialen und ethischen Widerstand gegen diesen Besatzungskrieg begleitet haben. Als kurdische Frauen und Frauen des Mittleren Ostens werden wir weiterhin Schulter an Schulter gegen den Faschismus Widerstand leisten.

Die deutsche Übersetzung des TV-Interviews erschien erstmalig bei Women Defend Rojava.

Literaturempfehlungen


1. LITERATURLISTE VON CIVAKA AZAD

https://civaka-azad.org/service/literaturliste/

Civaka Azad, das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, hat eine umfang-reiche Literaturliste veröffentlicht. Die verschiedenen Literaturempfehlungen sind in folgenden Kategorien gelistet:

Kurden und Kurdistan allgemein
Kurdische Frage und Befreiungsbewegung
Abdullah Öcalan – Gefängnisschriften
Frauen, Frauenfrage und Frauenbewegung
Demokratischen Konföderalismus
Rojava-Revolution – Nordsyrien
Nordkurdistan
Südkurdistan
Ostkurdistan
Geografie und Ökologie
Literarische Werke
Wissenschaftliche Studien


2. BÜCHER VON ABDULLAH ÖCALAN

Abdullah Öcalan, 1997

Abdullah Öcalan ist der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der ideologische Vorreiter der kurdischen Bewegung. Seit seiner illegalen Verschleppung von Geheimdiensten im Jahr 1999 und der anschließenden Inhaftierung und Isoliation auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali verfasste Öcalan zahlreiche Bücher, welche zumeist in Form von Verteidungsschriften veröffentlicht wurden. Seine Analysen, Ideen und Prinzipien prägen bis heute maßgeblich die kurdische Befreiungsideologie, die praktische Umsetzung der Revolution in Rojava und internationalistische Demokratiebewegungen auf der ganzen Welt. Die Übersetzungen von Abdullah Öcalan’s Büchern in westliche Sprachen wurden in Kooperation mit verschiedenen Publikator*innen veröffentlicht in der „International Initiative Edition“ der internationalen Initiative „Freedom for Ocalan – Peace in Kurdistan“. Auf dieser Seite findet ihr Bücher und Broschüren in 15 verschiedenen Sprachen, welche erworben oder meist auch als PDF-Datei heruntergeladen werden können.

http://ocalanbooks.com/#/


3. GEGEN POLITISCHE ZENSUR UND DIE EINSCHRÄNKUNG DER MEINUNGSFREIHEIT! DAS VERBOT DES MEZOPOTAMIEN VERLAGES

Am 12. Februar 2019 ist die in Neuss ansässige Mesopotamien Verlagsgesellschaft mbH vom Innenministerium per Erlass wegen angeblichen Verstoßes gegen das VEreinsrecht verboten worden. Der kurdisch geführte Verlag hat Bücher in verschiedenen Sprachen zu kurdischer Geschichte, zur kurdischen Frauenbewegung, die Schriften von Abdullah Öcalan, sowie Romane, Wörterbücher, Kinderbücher und vieles mehr veröffentlicht. Außerdem hat der Verlag Bücher auf Türkisch und Kurdisch aus anderen Verlagen vertrieben, darunter viele Klassiker der Weltliteratur. Keines dieser Bücher des Mesopotamien Verlags ist in der Vergangenheit in Deutschland verboten oder auch nur in irgendeiner Weise beanstandet worden. Dennoch wurden sie tonnenweise beschlagnahmt, sodass sie für den Buchhandel und Leser*innen nicht mehr erreichbar sind. Das werten wir als politische Zensur durch die Hintertür.

Die wichtigsten der deutschsprachigen Titel des Mezopotamien Verlags werden nun als „Edition Mezopotamya“ von den drei Verlagen Unrast (BRD), Mandelbaum (Österreich) und Edition 8 (Schweiz) neu aufgelegt. Herausgegeben wird die „Edition Mezopotamya“ von einem Kreis namhafter Persönlichkeiten aus Politik und Medienlandschaft, Buchhandlungen und Verlagen, die sich damit entschieden gegen Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit stellen.

Wir sind solidarisch mit den im Rahmen der Repression gegen den Mezopotamien Verlag betroffenen Personen und unterstützen die Forderungen gegen staatliche Zensur und für Medien- und Meinungsfreiheit. Wir sehen die Verfügungen gegen den Mezopotamia Verlag und gegen MIR Multimedia GmbH als Angriff auf die kurdische Kultur und Identität in der BRD, als Fortführung der repressiven Kurd*innen-Politik der Bundesregierung und als weiteren Beweis für die Teilhabe des Staates an der türkischen Unterdrückungspolitik gegenüber Kurd*innen.

Jedes dieser Bücher ist absolut lesenswert!

https://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/reihen/edition-mezopotamya

Spendenkonto:
Verein z. Förderung kurdischer Kultur e.V. i.Gr.
IBAN: DE78 4306 0967 1011 1214 00
Verwendungszweck: Edition Mezopotamya

Weitere Informationen:

Erneuter Angriff auf die Presse- und Publikationsfreiheit! (ANF, März 2018)
„Gelten Bücher und Musik in Deutschland als terroristisch?“ (ANF, Februar 2019)
Medienschaffende fordern Verbotsaufhebung (ANF, April 2019)
Förderung kurdischer Kultur als „PKK-Aktivität“ verboten (ANF, Juni 2019)


4. BUCHTIPP: REVOLUTION IN ROJAVA – FRAUENBEFREIUNG UND KOMMUNALISMUS ZWISCHEN KRIEG UND EMBARGO

Flach, Ayboga, Knapp – Revolution in Rojava

https://www.rosalux.de/publikation/id/4142/revolution-in-rojava/
(Buch als Printausgabe käuflich, als PDF frei verfügbar)

Unter erschwerten Bedingungen gelang es den Autor*innen dieses Buches, sich im Mai 2014 vier Wochen lang im Kanton Cizîre aufzuhalten und zahlreiche Gespräche zu führen. Ihre Eindrücke und Recherchen sind Inhalt dieses Buches. Wenige Monate nach ihrer Abreise rückte der Kanton Kobanî über Wochen ins Zentrum des Weltinteresses. Der IS griff Kobanî in der Hoffnung an, die Stadt in wenigen Tagen einnehmen zu können. Doch der aufopferungsvolle Widerstand der kurdischen Verteidigungskräfte YPG/YPJ konnte die Angreifer aufhalten und sie nach mehrmonatigen Kämpfen vertreiben – auch dank der auf Druck der Weltöffentlichkeit unternommenen Luftangriffe durch die von den USA geführte Koalition. Am 1. November 2014 beteiligten sich weltweit Hunderttausende an Solidaritätsaktionen mit Kobanî. Während sich zunächst die meisten fragten, woher im Mittleren Osten «plötzlich» bewaffnete Fraueneinheiten kamen, die das Patriarchat radikal infrage stellen, richtete sich das Interesse später immer stärker auch auf das gesellschaftliche Modell, welches diesen Umbruch beförderte. Die Demokratische Autonomie wird von immer mehr Menschen als wirkliche Alternative gesellschaftlicher Organisierung im Mittleren Osten betrachtet.

Dieses Buch liefert eine umfassende Übersicht über die Revolution in Rojava mit all ihren Errungenschaften, die historisch-politischen Kontextbedingungen und die konkrete Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus. Besonders für Leser*innen, die sich intensiver mit der Befreiungsbewegung in Syrien beschäftigen wollen, ist dieses Buch ein optimaler Einstieg.


5. BUCHTIPP: FRAUEN IN DER KURDISCHEN GUERILLA

Anja Flach – Frauen in der Kurdischen Guerilla

Die kurdische Frauenbewegung stellt die am wenigsten untersuchte, zugleich aber aus vieler Sicht eine der interessantesten Komponenten des kurdischen Befreiungskampfs dar. Frauen in Kurdistan sind einer mehrfachen Unterdrückung ausgesetzt: Als Frauen in einer feudalen islamisch-patriarchal geprägten Gesellschaft, als Kurdinnen in einem besetzten Land und meist auch als Mitglieder einer Unterschicht. In den deutschen und europäischen Medien sind kurdische Frauen in letzter Zeit zunehmend als Opfer von „Ehrenmorden“, Zwangsheirat etc. präsent. Was hierzulande jedoch nur die wenigs­ten wissen: Kurdische Frauen haben die vielleicht größte linke Frauenbewegung im Mittleren Osten, stellen ca. 40 % der GuerillakämpferInnen der PKK und verfügen über eine eigene Armee. Zum ersten Mal ist jetzt eine umfassende wissenschaftliche Arbeit über die kämpfenden Frauen in den Bergen Kurdistans erschienen; geschrieben von Anja Flach, die selbst einige Jahre in der kurdischen Guerilla verbracht hat.

Anja Flachs Buch stellt in vielerlei Hinsicht ein Novum dar. Sie hat mit der Veröffentlichung ihrer überarbeiteten Magisterarbeit für den Fachbereich Ethnologie einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Literatur zur kurdischen Frauenbewegung und zum Befreiungskampf geschaffen. Es ist die erste umfassende wissenschaftliche Arbeit explizit über die kurdische Frauenarmee in deutscher Sprache. Die Besonderheit dieser Untersuchung sind die zwei wesentlichen methodischen Säulen. Die Arbeit beruht einerseits auf Flachs teilnehmenden Beobachtungen, die sie selbst in den 1990er Jahren im Guerillagebiet machen konnte, und andererseits auf den umfassenden Interviews mit Kämpferinnen des kurdischen Freiheitskampfs. Der Autorin geht es nicht darum, die Frauenbefreiungsideologie der PKK/PAJK darzustellen, deswegen geht sie wenig auf die ideologischen Aspekte und Diskussionen ein. Diese Arbeit befasst sich erstmalig mit den Stimmen, Einschätzungen und Erfahrungen von Frauen, die sich dem Guerillakampf angeschlossen haben, um für ihre Überzeugung zu kämpfen, und sich damit aktiv gegen die zugeschriebene Opferrolle stellen. Der Autorin gelingt es, den LeserInnen einen umfassenden Einblick in den Alltag der Frauen und ihre Sichtweise auf den Kampf zu ermöglichen. Es schafft die Möglichkeit, sich mit einer sehr starken und aktiven Frauenbewegung im Mittleren Osten auseinanderzusetzen.


6. BROSCHÜRE: TROTZ ALLEDEM. 25 JAHRE PKK-BETÄTIGUNGSVERBOT – REPRESSION UND WIDERSTAN

Aus Anlass der seit 25 Jahren bestehenden Kriminalisierungspolitik gegenüber Kurdinnen und Kurden in Deutschland, hat AZADÎ mit Unterstützung der Roten Hilfe erneut eine Broschüre erstellt.

Im Vorwort der vorrausgegangenen Broschüre zum 20-jährigen PKK-Verbot hatten die Autor*innen ihre Hoffnung ausgedrückt, dass allen eine Aktualisierung der Chronologie in weiteren fünf Jahren erspart bleiben möge und das PKK-Verbot (schlechte) Geschichte sei. So ist es nicht gekommen. Im Gegenteil verschärfte sich die Situation erneut. Das hat AZADÎ veranlasst, die vergangenen fünf Jahre in den Fokus zu nehmen und nachzuvollziehen, welche Ereignisse zu den heutigen Verhältnissen geführt haben. Weil in der kurdischen Frage nichts isoliert betrachtet werden kann und sie eine internationale Dimension hat, befasst sich der erste Beitrag ausführlich mit den Entwicklungen in der Türkei, in Syrien und in der BRD seit 2013/14.

In weiteren Beiträgen nehmen Rechtsanwälte Stellung zu den Grundlagen der politisch motivierten Verfahren nach §§129a/b StGB sowie der Verbotserweiterung des BMI (Bundesministerium des Inneren) vom März 2017. Duran Kalkan, Mitglied des PKK-Exekutivrats, hat sich in einem langen Interview mit Civaka-Azad zu der Rolle Deutschlands im Zusammenhang mit dem türkisch-kurdischen Konflikt auseinandergesetzt. Er gehörte zu jenem Kreis kurdischer Exilpolitiker*innen, die im ersten großen „Düsseldorfer Prozess“(1989 – 1994) angeklagt und verurteilt wurden. Wir haben dieses Gespräch stark gekürzt und uns auf die politischen Hintergründe und Duran Kalkans Einschätzung der deutschen Kriminalisierungspolitik konzentriert.

Zentraler Teil der rund 130 Seiten umfassenden Publikation bildet die Chronologie der Ereignisse von September 2013 bis Ende Juli 2018.

Die Broschüre ist auf Anfrage bei der Roten Hilfe gegen Erstattung der Versandkosten erhältlich.

Warum braucht Rojava unsere internationale Solidarität?


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


1. DIE ORGANISIERUNG DER MENSCHEN IN ROJAVA IST EINE RADIKALE ABSAGE AN NATIONALISTISCHE, PATRIARCHALE, KAPITALISTISCHE UND FUNDAMENTALISTISCHE IDEOLOGIEN

Rojava (kurd. für Westen) bezeichnet einen in Nordsyrien liegenden Teil Kurdistans. Im Zuge des Zerfalls des Osmanischen Reiches und der Besetzung großer Teile des Mittleren und Nahen Ostens durch Großbritannien und Frankreich (1918) so-wie Gründung der Türkei (1923) kam es zu weitgehenden territorial-politischen Veränderungen in Kurdistan. Kurdistan wurde zwischen Iran, Türkei und europäi-schen Mächten, sowie später Syrien und Irak aufgeteilt. In allen der vier Länder erfuhr der kurdische Teil der Bevölkerung Unterdrückung, Leugnung seiner Exis-tenz, Vertreibung und Gewalt. Diese Zeit kann bezeichnet werden als Geburt der sog. „kurdischen Frage“ und markiert den Beginn des Aufstiegs des Nationalismus und institutionalisierter kapitalistischer Ausbeutung der Region durch westliche Staaten im Mittleren Osten.

Der ideologische Vorläufer des türkischen Nationalismus entstand bereits in der späten Periode des Osmanischen Reichs als Idee des Turanismus. Angestrebt wurde eine sog. „Wiedervereinigung aller Turkvölker“, als Basis wurde ein gemein-samer Ursprungsmythos konstruiert. Seit der Machtergreifung der türkischen Be-freiungsbewegung (1920) wurde im Wesentlichen von Kemal Atatürk die Idee des bürgerlich-völkischen Nationalismus geprägt, die den Tyrranismus in Teilen ein-schloss (Kemalismus). Infolgedessen kam es in den späten Jahren des Reichs zum Genozid an den Armenier*innen und in den frühen Jahren der Republik zu ethnischen Säuberungen in Kurdistan sowie dem Verbot kurdischer Identität und Sprache. Heute greifen sowohl die türkische Regierungspartei AKP als auch die ultra-nationalistische MHP auf diese Ideologien zurück, um Kriege gegen die eigene Bevölkerung und Angriffskriege auf die kurdischen Gebiete in Nordirak und Nord-syrien zu legitimieren.

Der arabische Nationalismus entstand als Folge des osmanischen und europäi-schen Expansionismus in der Region. So wurden mit dem antikolonialen Befrei-ungsanspruch der arabischen Bevölkerung durch nationale Bewegungen zahl-reiche arabische Nationen konstituiert. Der ideologische Charakter des Nationa-lismus konnte jedoch der realen Situation im Mittleren Osten seinen vielfältigen Ethnien, Religionen und Kulturen nicht gerecht werden und führte zur Verbreitung eines menschenfeindlichen Weltbildes. Er trug zugleich zur Bildung des Nährbo-dens für fundamentalistische Bewegungen bei. Als Folge der nationalistischen Politik des Baath-Regimes wurde die kurdische Bevölkerung in Syrien umfang-reicher Ausgrenzung unterworfen. So wurde ihnen die Berechtigung zum Leben in Syrien oder gar ihre Existenz abgesprochen, indem Volkszählung politisch mani-puliert (Volkszählung in Dschazira / Cizire, 1962) und ihre Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Bürgerrechte somit staatenloser Kurd*innen wurden stark einge-schränkt. So konnten die meisten von ihnen keine Hochschulausbildung genießen und durften sich nicht politisch betätigen.

Der sog. „Arabische Frühling“, eine internationale Protestwelle gegen die autoritären Regime arabischer Staaten, endete in Syrien im Jahr 2011 in einem Bürgerkrieg, welcher bis heute andauert. Dem Regime Assads, der das politische System in Syrien mittlerweile in eine Autokratie verwandelt hat, gelang es immer weniger, die Kontrolle über Syrien zu behalten. Den in Nordsyrien politisch organisierten Struktu-ren, wie der Partei PYD und der syrisch-kurdischen Frauenbewegung Kongra Star, gelang es, zu einer weitgehenden demokratischen gesellschaftlichen Organisierung und Stabilität in der Region beizutragen. Seit dem Sommer 2012 werden schrittwei-se vielfältige gesellschaftliche Organisationen, Kommunen, Räte sowie Frauenor-ganisationen, die konföderal miteinander verflochten sind, aufgebaut und entwickelt. Zusammen mit den christlichen Assyrer*innen, der arabischen Bevölkerung und anderen gesellschaftlichen Gruppen in Nordsyrien hat die überwiegend kurdischen Bevölkerung von Nordsyrien am Rande des Bürgerkriegs eine regionale autonome Selbstverwaltung auszurufen: Demokratische Föderation Nord- und Ost-Syrien (Rojava). Seitdem wird in Rojava das Gesellschaftsmodell des Demokratischen Konföderalismus erprobt, welches sowohl für den Mittleren Osten ein Vorbild sein kann, als auch weltweit neue Hoffnung und Perspektiven entstehen lässt.

Der Demokratische Konföderalismus muss im Zusammenhang der Neufindung sozialistisch-linker Ideen und Bewegungen seit dem Zusammenbruch des Real-sozialismus betrachtet werden. Nach der Niederlage des Realsozialismus ge-genüber dem kapitalistischen Liberalismus haben linke Denker*innen und Theo-retiker*innen Ieen zu entwickeln versucht, die “Politik jenseits von Staat, politische Oganisation jenseits von Partei und politische Subjektivität jenseits von Klasse“ (Badiou) ermögichen sollten. Der libertäre Kommunalismus (Murray Bookchin und Janet Biehl), das Konzept der Maltitrude und des Commonwealth (Antonio Negri und Micheal Hardt) oder der Demokratische Konföderalismus (Abdullah Öcalan) sind Beispiele dieser Versuche.

Der demokratische Konföderalismus betrachtet đie Bedeutung von Frauenbefrei-ung als Voraussetzung für die Befreiung der gesamten Gesellschaft. Dieses Para-digma basiert auf der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Zivili-sation und damit einhergehenden Herrschaftsverhältnissen, von denen das Patriar-chat – also die Herrschaft des Mannes über die Frau* – als der grundlegende Wi-derspruch der Gesellschaft angenommen wird. Die Herausbildung der Ideologie des Patriarchats hätte demnach erst die Entstehung und Festigung weiterer Herr-schaftstrukturen ermöglicht (mehr dazu bei „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ von A. Öcalan). Basierend auf dieser Gesellschaftskritik hat die demokratische Be-wegung in Rojava ein Konzept der gesellschaftlichen Organisierung ausgearbeitet, bei dem es parallel zu allen Entscheidungsgremien auch autonome Frauen*räte gibt. Solche Räte werden als notwendig gesehen, da sie Räume jenseits von patri-archaler Herrschaft schaffen und als Voraussetzung für Selbstermächtigung von Frauen gesehen werden. Teile der europäischen feministischen Bewegung organi-sieren sich nach ähnlichen Prinzipien.


2. ROJAVA IST EIN FEMINISTISCHES UND ANTIRASSISTISCHES PROJEKT

Neben der Frauenverteidigungseinheiten der YPJ, die spätestens seit der Befreiung von Kobane vom sog. IS bekannt geworden sind, sind Frauen* auch im zivilen Be-reich ein integrativer Bestandteil der gesellschaftlichen Organisation. So existiert, zusätzlich zu separaten autonomen Frauen*strukturen, entsprechend der paradig-matischen Bedeutung der Frauen*befreiung als Basis für die Befreiung der Gesell-schaft, in allen geschlechtlich gemischten Strukturen der Selbstverwaltung eine Frauenquote von 40% und jeweils ein quotiert besetzter Vorstand (Prinzip der Dop-pelspitze: immer eine Frau und ein Mann). Die Umsetzung dessen wird bedingt durch enorme Brüche mit traditionellen, patriarchalen Unterdrückungsmechanis-men und gewährleistet eine aktive Rolle und öffentliche Präsenz der Frauen bei allen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.

Gleichzeitig garantiert die Verfassung ein angemessenes Verhāltnis an Vertreter*-innen verschiedener ethnischer und religiöser Minderheiten in allen Entscheidungs-gremien. Dazu gibt es prozentuale Vorgaben, denn in Nordsyrien leben neben Kurd*innen, Menschen mit arabischer, armenischer, aramäischer, assyrischer, tscherkessischer, turkmenischer und jezidischer Identität. Das Bildungssystem bietet zudem Möglichkeiten zum Unterricht in der jeweiligen Muttersprache.


3. DAS DEMOKRATISCHE PROJEKT IN NORDSYRIEN
STREBT NACH EINER EGALITÄREN GESELLSCHAFT

Der Nationalstaat, basierend auf der Idee der ethnisch-kulturell gleichförmigen Nation und Patriotismus, wird in der Freiheitsbewegung Kurdistans als rückschritt-lich betrachtet. Dieser Kritik zugrunde liegt die Annahme, dass die exklusiven Merkmale der Nation eine Voraussetzung für nationalistisches Denken bilden und zur Verschleierung der Ungleichheit und Herrschaftsverhältnisse innerhalb der Gesellschaft führen. Dem widerstehend soll eine inklusive Gesellschaft, die von Vielfalt und geteilten Werten geprägt ist, aufgebaut werden. Entgegen irrtümlicher Annahmen, stellt die Föderation keine nationale oder separatistische Bewegung dar, sondern möchte eine Perspektive auf ein demokratisches Syrien eröffnen, die den vielen dort lebenden Menschen, Ethnien und Kulturen gerecht wird. Bezüglich einer gesamtgesellschaftlichen Lösung der Konflikte in Kurdistan wird seitens der Föderation immer wieder das Gespräch gesucht.


4. DAS DEMOKRATISCHE PROJEKT IN NORDSYRIEN SPIELT EINE SCHLÜSSELROLLE BEI DER TERRITORIALEN UND IDEOLOGISCHEN BEKÄMPFUNG DES IS

Die Kurdischen Volks-/Frauenverteidungseinheiten YPG/YPJ waren als Teil der SDF (Syrian Democratic Forces / Demokratische Kräfte Syriens) maßgeblich an der territorialen Befreiung Syriens vom IS beteiligt. Der IS hat jedoch in ehemals von Dschihadisten besetzen Gebieten eine Ideologie hinterlassen, die weiterhin aufgearbeitet und bekämpft werden muss. Im Falle eines Wiedererstarkens des Daesh (IS), dem Fortbestand autoritärer Regime in Kurdistan und weiterer neoko-lonialistischer Ausbeutung der Region, würde die Situation in Syrien jedoch umso anfälliger für fundamentalistische Bewegungen. Dagegen schafft das demokrati-sche Projekt in Rojava gesellschaftliche Voraussetzungen für eine emanzipatori-sche Praxis, friedliche und demokratische Austragung sozialer Konflikte und eine kritisch-analytische Haltung gegenüber Ideologien und Dogmatismus. Die von kapi-talistischen Krisen und politischem Rechtsruck erschütterte Welt befindet sich im Umbruch. Eine Lösung kann nur eine emanzipatorische Praxis bieten. Das demo-kratische Projekt in Rojava ist ein Teil davon.


5. VERSCHLECHTERUNG DER HUMANITÄREN LAGE

Lokale und internationale Beobachter*innen vor Ort beschreiben eine desaströse und höchst unsichere humanitäre Lage. Trotz des vereinbarten Waffenstillstands- abkommens sind Wohngebiete sowie Teile der zivilen Infrastruktur durch Luftan-griffe der Türkei gezielt zerstört worden. Betroffen sind Strukturen der medizini-schen, Nahrungs- und Wasserversorgung. Es findet willkürliche Ermordung von Zivilist*innen durch türkeitreue dschihadistische Söldnermilizen statt. Außerdem wurde durch ein Schweizer Institut der Einsatz von verbotenem Chemiewaffen aus weißen Phosphor durch die Türkei nachgewiesen, welche gegen Zivilist*innen ein-gesetzt wurden. Es ist zu befürchten, dass in den von der Türkei eroberten Gebie-ten weitere Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen begangen werden.


6. DEMOGRAFISCHE VERÄNDERUNG DER BEVÖLKERUNGSSTRUKTUR

Nach den UN wurden durch den Angriff der Türkei knapp 300.000 Menschen ver-trieben. Aktuell leben in Rojava ca. 2 Millionen Menschen (Stand 2018), Sollten die Pläne des türkischen Staates umgesetzt werden, also knapp 3,6 Millionen aus an-deren Teilen Syriens stammende Geflüchtete nach Rojava abgeschoben werden, ist zu erwarten, dass die gesamte Region dafür entvölkert werden muss.


7. SCHAFFEN WEITERER FLUCHTURSACHEN UND MIGRATIONSSTRÖME

Der Vernichtungskrieg der Türkei gegen die Völker in Rojava hat bereits seit der Invasion im Oktober 2019 über 300.000 Menschen in die Flucht getrieben. Bereits zuvor hat Rojava knapp zwei Millionen Binnengeflüchtete aus dem syrischen Bür-gerkrieg aufgenommen. In dem 2018 von der Türkei annektierten Êfrin geschieht bereits der demographische Wandel, den Erdogan auch für den Rest der kurdi-schen Region im Norden und Osten Syriens geplant hat: Die Türkei lässt neu an-gesiedelte Dschihadisten und Türkische Soldaten ein Islamistisches Kalifat errich-ten, in welchem die Gesetze der Sharia gelten. Die Menschen, welche nicht aus Êfrin fliehen konnten oder wollten, sind der Unterdrückung und Gewalt der selbster-nannten „Gotteskrieger“ ausgesetzt. Jeden Tag verschwinden Menschen, Frauen und Kinder werden versklavt und misshandelt. Alle Errungenschaften der Revolu-tion und kulturelles Welterbe werden systematisch zerstört. (Oftmals arabische) Geflüchtete aus dem syrischen Bürgerkrieg werden von der Türkei aus nach Êfrin zwangsdeportiert und umgesiedelt – in eine Region, welche durch den Krieg infra-strukturell sowie sicherheitsmäßig weitgehend destabilisiert ist.

Die kriegerische Innen- und Außenpolitik der Türkei, welche seit Beginn der Inva-sion in Syrien (Oktober 2019) auch wieder massiv gegen die kurdische Bevölke-rung im eigenen Staatsgebiet (Nordkurdistan / Bakur) vorgeht, treibt Hunderttau-sende in die Flucht. Die Europäische Union zeigt kaum Reaktionen und scheint auch weiterhin auf die eurozentristische Abschottungspolitik zu setzen. Insbeson-dere in Europa, das derart rasanten Zuwachs rechtspopulistischer und faschisti-scher Bewegungen erlebt, werden dadurch bestehende rechte Strukturen befeuert. Der Rechtsterrorismus wird in Europa voraussichtlich zunehmen, wenn weiterhin rechten Stimmen und rassistischem Denken in die Hände gespielt wird.


8. BEDROHUNG DER FRAUENBEWEGUNG: VERSCHLECHTERUNG DER SITUATION VON FRAUEN UND MINDERHEITEN

Es ist zu befürchten, dass die Zerstörung der in Rojava aufgebauten Strukturen der Selbstverwaltung, worin Frauen, sowie ethnische und religiöse Minderheiten eine besondere politische Rolle einnehmen, eine Verschlechterung der Situation dersel-ben hervorrufen wird. Die von Frauenorganisationen als höchst frauenfeindlich be-schriebene patriarchale Gesellschaftsordnung in Syrien und der Türkei wird weitge-henden Einfluss auf die Sicherheit von Frauen in Nordsyrien haben. Zudem ist das potenzielle Wiedererstarken des IS eine Gefahr, die insbesondere für Frauen* und Minderheiten eine existenzielle Bedrohung darstellt. Durch die Destabilisierung der Region wird die konfliktträchtige Situation in Syrien eine Fortsetzung des Kriegszu-standes im Land zur Folge haben. Zahlreiche Studien bestätigen, dass insbeson-dere die Sicherheit von Frauen* in Kriegssituationen am stärksten gefährdet ist. Zudem steht der Angriff auf feministische Ideen und Errungenschaften im Zeichen der Angriffe auf das Selbstbestimmungsrecht der Frauen durch rückständige Kräfte weltweit – sei es der Angriff auf die Strukturen der Selbstverwaltung in Rojava, die Zwangsehen minderjähriger Mädchen in der Türkei, das Abtreibungsgesetz in Eu-ropa oder die täglichen Morde an Frauen* weltweit.


9. WIEDERERSTARKEN DES IS

Anhand der Analyse zahlreicher Dokumentationen über die Unterstützung des IS durch den türkischen Staat lässt sich vermuten, dass es zahlreiche aktivierbare IS-Schläferzellen gibt, die in einer günstigen Situation wie z.B. durch die türkische Kontrolle über Nordsyrien zum Wiedererstarken des IS führen könnten. Diese Be-fürchtung hat sich in Ansätzen bereits bestätigt: laut Rojava Information Center haben seit dem 9. Oktober 2019 Anschläge der IS-Schläferzellen in nordsyrischen Städten rasant zugenommen. Hinzu kommen die in der Föderation (Rojava) inhaf-tierten IS-Kämpfer und deren Familien. Im Zuge der türkischen Invasion wurden nicht nur permanent Dschihadisten über die türkische Grenze nach Syrien ge-schleust, von türkischen Soldaten ausgebildet und mit schweren Waffen versorgt, sondern auch Camps und Gefängnisse in Rojava bombardiert, um IS-Kämpfer zu befreien. Bisher konnten aufgrund der türkischen Luftschläge hunderte Islamisten fliehen.

Reorganisierung des IS unter MIT-Schirmherrschaft, ANF Februar 2020
https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/reorganisierung-des-is-unter-mit-schirmherrschaft-17278

All dies stellt nicht nur für die Zivilbevölkerung in Syrien und ganz Kurdistan eine lebensbedrohliche Situation dar, sondern hat auch für die gesamte Welt schwer-wiegende Folgen. Weitere militärische Einsätze in bedrohten Regionen, konkrete terroristische Gefahr durch den Islamischen Staat im Verlauf einer weltweiten Ausbreitung und ein umfassender Ausbau der Überwachungsapparate europäi-scher Staaten sind nur einige davon.


10. RÜCKKEHR UND FORTBESTAND AUTORITÄRER REGIME

Vom aktuellen Angriffskrieg in Syrien profitieren vor allem höchst autokratische, autoritäre und militaristische Regime wie die von Erdogan (Türkei), Chamenei (Iran), Assad (Syrien) und Putin (Russland). Durch den Rückzug der USA, sowie weitgehendes Fernbleiben der EU aus dem Konflikt, entsteht eine neue multipolare Weltordnung, die zur Folge haben wird, dass immer mehr rückständige politische Kräfte Bestätigung der internationalen Gemeinschaft finden und die Schicksale der Weltgemeinschaft bestimmen werden. Diese Entwicklungen werden zwangsläufig weiteren Widerstand der unterdrückten Bevölkerung verursachen. Der Fortbestand geduldeter kapitalistischer und neo-kolonialer Ausbeutung der Region durch repres-sive Regierungen würde die Situation in Syrien politisch und ökonomisch weiter destabilisieren und sie umso anfälliger für fundamentalistische Gedanken machen.


11. WELTWEITES ERSTARKEN DES FASCHISMUS

Im Zusammenhang mit der Stabilisierung autoritärer Regime in Westasien muss insbesondere kritisiert werden, dass in einer Welt, in der selbst vermeintlich demo-kratische Staaten völkerrechtswidrigen Kriegseinsätzen nicht mit Widerspruch be-gegnen, da dem wirtschaftlichen Wachstum und den Umsatzbedürfnissen globaler Konzerne mehr Relevanz zugesprochen wird als Menschenleben und fundamen-talen Menschenrechten, der Faschismus immer mehr Bestätigung finden wird. Allein am Beispiel der Zusammenarbeit der BRD mit der Türkei wird diese politi-sche Linie deutlich. Die Rückwirkung einer solchen Kooperation äußert sich auch in der Menschenrechtssituation in der BRD und Europa, indem Meinungsfreiheit ein-geschränkt wird, staatliche Überwachungsapparate weiter ausgebaut werden, Poli-zei uneingeschränkte Befugnisse erhält, emanzipatorischen Bewegungen mit zu-nehmender Repression begegnet wird und Schutzsuchende an Europas Grenzen sterben gelassen oder in Kriegsgebiete abgeschoben werden.


12. EINE UTOPIE WENIGER

Die Bedeutung alternativer gesellschaftlicher Projekte jenseits von Staat und Nation ist vor dem Hintergrund sozialer, ökologischer und ökonomischer Konflikte weltweit höher denn je. Durch die Akzeptanz der Angriffe auf das demokratische Projekt in Rojava nimmt sich die Menschheit selbst die Möglichkeit, eine praktikable Lösung zu suchen, für einen gemeinschaftlichen Ausweg aus dem Patriarchat, der kapita-listischen Krise und nationalstaatlicher Abhängigkeit.

Rojava ist eine konkrete Utopie, die verteidigt werden muss!
People Defend Rojava!

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