Auswirkungen der türkischen Invasion in Rojava auf Frauen und Kinder


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: Women Defend Rojava / November 2019

1. SITUATION VON FRAUEN UND KINDERN IM KONTEXT DER MODERNEN KRIEGSFÜHRUNG IN SYRIEN UND IM MITTLEREN OSTEN

1.1 Historische Einordnung der Rolle von Frauen und Kindern in Kriegen

Es wurden umfangreiche Untersuchungen zu den Auswirkungen der modernen Kriegsführung auf Frauen und Kinder durchgeführt. Viele Aspekte von Kriegen haben die stärksten Auswirkungen auf Frauen und Kinder. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist dies als ein Schema der modernen Kriegsführung bekannt geworden. Sei es aus taktischen oder technologischen Gründen, die Opfer moderner Konflikte sind viel eher Zivilist*innen als Soldaten. Manchmal ist es eine absichtliche Strategie, um Gemeinschaften und widerständige Bevölkerungen zu brechen. Da Frauen in der Regel die Rolle haben, Gemeinschaften zusammenzuhalten, d.h. die Basis für die Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Organisatisierung zu schaffen, nehmen Invasionstruppen in der modernen Kriegsführung üblicherweise Frauen als Zielscheibe, um ihre Besetzung “erfolgreicher” und schneller umzusetzen. Dabei verfolgen sie das Ziel, den Willen von Frauen und der Gesellschaft zu brechen, um Assimilation durchsetzen zu können. Nachdem der Kommandeur der UN-Friedensmission in der Demokratischen Republik Kongo mit seinen Amtskollegen umfangreiche Recherchen zu diesem Thema anstellte, kam er zu dem Schluss, dass es im späten 20. und 21. Jahrhundert “in einem bewaffneten Konflikt wahrscheinlich gefährlicher ist, eine Frau zu sein als ein Soldat.” Frauen sind mit viel höherer Wahrscheinlichkeit von mehreren Formen von Gewalt betroffen als Männer. Das gilt insbesondere für sexuelle Gewalt, auch in Friedenszeiten. Das macht den bloßen Ausbruch eines Krieges bereits zu einer gefährlicheren Situation für Frauen, da sie von Anfang an einer größeren Bedrohung ausgesetzt sind.

1.2 Vertreibung von Frauen und Kindern in Kurdistan

Eine der verheerendsten Auswirkungen der modernen Kriegsführung ist die Vertreibung der Bevölkerung. Laut UNICEF sterben weitaus mehr Kinder an durch Krieg verursachten Folgen von Krankheiten und Unterernährung als durch direkte Angriffe. Vertreibung bedeutet in der Regel eine Unterbrechung der individuellen Entwicklungs- und Bildungsprozesse, sowie eine Gefährdung durch exponentielle Risiken. Vertreibung wirkt sich auch stärker auf Frauen aus, da sie die Hauptlast der reproduktiven Arbeit und Fürsorge in ihren Gemeinschaften tragen. Dadurch sind Frauen für das Überleben und ihre Sicherheit stärker auf eine enge Verbindung zum gewohnten Umfeld und Land angewiesen. Kinder sind verletzbarer und können die Situation häufig nicht verstehen. Frauen erleiden ein viel höheres Maß an psychologischen Traumata durch Vertreibung als Männer und sind zudem viel eher gefährdet, da ihre Heimat und das Land, auf dem sie leben in der Regel für ihre Sicherheit, Identität und ihren Lebensunterhalt von größerer Bedeutung sind.

Ein Beispiel für die langfristigen Folgen der Vertreibung, die derzeit in Nord- und Ostsyrien stattfindet, ist die Situation der “Binnen- vertriebenen”, die derzeit nicht nach Afrin zurückkehren können. Afrin wurde von genau den gleichen Kräften besetzt, Truppen der türkischen Armee und ihren Söldnern, die derzeit daran arbeiten, ihre Herrschaft über den gesamten Nordosten Syriens zu errichten. Ein Bericht über die Situation tausender Binnenvertriebener Frauen und Kinder in der Region Shehba von August 2018 zeigt, dass die Bedingungen bezüglich Unterbringung, Sicherheit, Gesundheit und Bildung deutlich unter den von UNICEF und den Vereinten Nationen festgelegten akzeptablen Richtwerten liegen. Binnenvertriebene sind im allgemeinen viel häufiger Frauen und Kinder als Männer, die mit höherer Wahrscheinlichkeit eher internationale Grenzen überschreiten oder überhaupt nicht fliehen. UNHCR stuft Binnenvertriebene als einige der am stärksten gefährdeten Menschengruppe der Welt ein; sie fliehen oft in Gebiete, die für die UN oder internationale Hilfsgruppen nicht zugänglich sind. Tatsächlich wurde UN-Hilfsorganisationen bisher von der syrischen Regierung nicht genehmigt, nach Nordsyrien einzureisen, und internationale NGOs verließen die Region im Oktober 2019 aufgrund der durch die Invasion verursachten Gefahr. Dies schränkte die Ressourcen und Hilfsmöglichkeiten für die Bewältigung der humanitären Krise sehr stark ein.

All diese Ereignisse müssen im Kontext eines achtjährigen Konflikts auf syrischem Territorium betrachtet und mit den dokumentierten Auswirkungen des kurz- und langfristigen Krieges auf Frauen und Kinder, sowie im Kontext der geschichtlichen Entwicklung der Region analysiert werden, um die verheerenden Auswirkungen der Angriffe auf Frauen und Kinder vollständig verstehen zu können. Die Tatsache, dass dieser Krieg auch Praktiken des Völkermords, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen umfasst, müssen ebenfalls in diesem Kontext benannt werden.

1.3 Feminizid in Kurdistan

Viele Organisationen, darunter die WHO, bezeichnen die Ermordung von Frauen aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie Frauen sind, als „Feminizid“. Der Begriff Feminizid wird auch zunehmend von Frauenrechtler*innen und sozialen Bewegungen verwendet, um systematische geschlechtsspezifische Gewalt als Mittel der Kriegsführung und Besatzung sichtbar zu machen. In internationalen Konventionen und Gesetzen mangelt es jedoch bisher an einer angemessenen Vorgehensweise und Definition. Der Genozid schließt die soziale und psychologische Vernichtung einer ethnischen, religiösen oder kulturellen Gruppe mit ein. Ebenso sollte der Feminizid als ein systematischer Angriff begriffen werden, der nicht allein physische Angriffe beinhaltet, sondern auch soziale, ideologische und psychologische Angriffe auf die Existenz, Identität und Würde von Frauen.

Afrin stellt auch ein Beispiel für die Folgen der langfristigen Besetzung durch die türkischen Armee und ihre verbündeten Truppen dar. Umfangreiche Beweise für Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt, Entführungen, Lösegelderpressungen und gezielte Ermordung von Frauen wurden ebenso dokumentiert wie die Durchsetzung der Sharia-Gesetzte gegen den Willen der Frauen. Diese Verordnungen bedeuten das Einsperren von Frauen in ihrem Haus, den Entzug jeglicher Rechte von Frauen und ihres Zugang zu Gerechtigkeit.

Derartige Verbrechen wurden und werden von Gruppen wie dem IS, Al Qaida, Al Nusra oder Boko Haram und Staaten wie der Türkei begangen. Es erfordert die Errichtung eines neuen rechtlichen und politischen Rahmens, um diese spezifischen Verbrechen zu verurteilen, zu verfolgen und weitere dieser Verbrechen zu verhindern. Die zunehmende Verbreitung dieser Verbrechen erfordert, dass wir Feminizid auf der gleichen Ebene wie Genozid bewerten und verurteilen müssen, wenn eine Häufung von Verbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen, die sich systematisch gegen Frauen als eine spezifische soziale Gruppe richten.

1.4 Besondere Gefährdung von Frauen und Kindern durch Daesh

Der türkische Staat hat in seinem Besatzungskrieg weitgehend Stellvertreterarmeen benutzt. Seine langjährige Verbindung mit dem Islamischen Staat wurde ausgiebig dokumentiert. Darüber hinaus haben viele Mitglieder jener Stellvertretertruppen, die derzeit in Nord- und Ostsyrien tätig sind und den türkischen Staat unterstützen, eine Vergangenheit als Mitglieder des Islamischen Staates und sind Mitglieder von Organisationen, die auf den gleichen Prinzipien basieren.

Um die Auswirkungen dieses Konflikts auf Frauen, Mädchen und Kinder verstehen zu können, ist es deshalb notwendig, dass wir diesbezüglich die klar belegte Bilanz der Verbrechen des Islamischen Staates betrachten. In einem der berüchtigtsten der dokumentierten Fälle wurde festgestellt, dass der IS während des Völkermords an der ezidischen Bevölkerung von Shengal im Jahr 2014 Methoden wie sexuelle Sklaverei, systematische Entführung, Vergewaltigung und Feminizid einsetzte. Ein Großteil der von diesen Verbrechen Betroffenen sind minderjähriger Mädchen. Im gesamten Gebiet, das durch den Islamischen Staat in Syrien besetzt wurde, gab es unzählige Fälle von sexueller Gewalt, Vergewaltigungen, Ehrenmorden, Missbrauch, Sklaverei sowie von Folter und Entführungen, die sich insbesondere gegen Frauen richteten. Frauen wurden jegliche Rechte und ihr Zugang zur Justiz verweigert, ihre Gesundheit wurde vernachlässigt und es war ihnen untersagt, ohne ein männliches Familienmitglied aus dem Haus gehen, was ihr Zuhause oft de facto zu einem Gefängnis werden ließ. Auch Kinder, insbesondere Mädchen, litten unter Kinderheirat, fehlender Schulbildung und fehlendem Zugang zu Gesundheitsversorgung.


2. ÜBERBLICK ÜBER DIE KRIEGSSITUATION IN ROJAVA


2.1 Die militärischen Angriffe der Türkischen Armee und ihrer verbündeten Dschihadisten auf die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien

Seit dem 9. Oktober um 16:00 Uhr (EEST/ GMT+3) führt die Armee des türkischen Staates mit verbündeten Söldnertruppen eine militärische Operation in Nordsyrien durch. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts dauert dieser Angriff bereits seit sechs Wochen an. Der Angriff begann mit schweren Luftangriffen auf die Regionen Serekaniye (Ras al-Ayn) und Gire Spi (Tel Abyad) sowie mit Bombardierungen und Granatenangriffen entlang der gesamten Grenze, einschließlich auf Städte und Dörfer in den Regionen Derik, Rimelan, Qamishlo, Amude, Dirbesiye, Serekaniye, Gire Spi, Kobane, Manbij und Ayn-Issa. Luftangriffe und Artilleriebeschüsse der türkischen Armee werden von einer Bodenoffensive durch Truppen begleitet, die von der türkischen Armee aufgestellt wurde und sie unterstützt.

Der Großteil dieser Bodentruppen besteht aus Söldnern der Freien Syrischen Armee, die sich nun „Syrische Nationale Armee“ nennen. Diese Truppen wurden von der Türkei aus verschiedenen sunnitisch-muslimischen arabischen und turkmenischen bewaffneten Gruppen zusammengestellt. Alle Gruppen, die nun diese neue Bodentruppe bilden, sind in der Vergangenheit durch Kriegsverbrechen bekannt geworden. Die Mehrheit von ihnen hat direkte oder indirekte Beziehungen zum Islamischen Staat (IS). Die Aufstellung und Unterstützung von dschihadistischen Söldnertruppen durch die Türkei, deren Zusammenarbeit sowie weitreichenden Verbindungen zum IS sind ebenfalls während dieser Invasion dokumentiert worden. Der türkische Staat setzt dabei dschihadistische Gruppen als institutionellen Bestandteil seiner Bodentruppen ein, um die Besetzung aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung in den eroberten Gebieten zu unterdrücken.

Die türkische Armee und ihre verbündeten Truppen haben nun die Städte Serekaniye und Gire Spi sowie die dazwischen liegenden Gegenden besetzt. Es gibt anhaltende Invasionsangriffe seitens der türkischen Armee und der mit ihr verbündeten Truppen auf die Regionen und Städte von Tel Temer und Ayn Issa sowie an vielen Stellen entlang der internationalen Verkehrsstraße M4, um diese Städte zu kontrollieren und zu isolieren. Zudem wird die Bodeninvasion weiterhin durch Luftangriffe von türkischen Kampfflugzeugen und Drohnen (UAV) unterstützt.

2.2 Der angebliche Waffenstillstand

Am 17. Oktober 2019 um 22 Uhr wurde nach einem Abkommen zwischen der Türkei und den USA ein Waffenstillstand verkündet. Ein weiteres Abkommen wurde am 22. Oktober zwischen Russland und der Türkei beschlossen: das “Abkommen von Sotschi”. Gemäß dieser Vereinbarung wurde der Waffenstillstand unter der Bedingung verlängert, dass sich die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) 30 km weit von der Grenze zurückziehen und die türkische Armee von Russland begleitete Patrouillen in bestimmten Regionen entlang der Grenze auf syrischem Territorium durchführen kann. Obwohl die SDF die Bedingungen des Abkommens einhält, haben die Türkei und ihre verbündeten Truppen wiederholt gegen den Waffenstillstand verstoßen sowie ihre Angriffe weiter ausgeweitet. Während der gesamten Zeit der andauernden Invasion wurden kontinuierlich Beweise für Kriegsverbrechen festgestellt. Experten stellten deutliche Beweise für den Einsatz verbotener Waffen (Weißer Phosphor) fest und legten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) nah, eine offizielle Untersuchung durchzuführen.

2.3 Binnengeflüchtete in Rojava und
Demographischer Wandel nach türkischen Vorstellungen

Die aktuelle Invasion des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien findet in einem historischen Kontext und als Teil einer breiteren geopolitischen Situation statt. Die laufenden Angriffe vom Oktober 2019 sind eine Fortsetzung der Invasion und Besetzung Afrins durch den türkischen Staat im Jahr 2018. Hier wird ein Muster fortgesetzt, demzufolge der türkische Staat in der Region einseitige Maßnahmen unter dem Label der „Sicherheit“ durchführt, welche anstreben die demografische Zusammensetzung zu verändern und Bevölkerungsgruppen weitreichend aus diesen Regionen zu vertreiben. Die Türkei versucht demographische Veränderungen in dieser Region zu bewirken, indem sie durch ihre Angriffe Massenvertreibungen verursacht. Erdogan plant, tausende von Geflüchteten, welche ursprünglich aus anderen Teilen Syriens stammen, aus der Türkei zu deportieren und im Norden und Nordosten Syriens “anzusiedeln”. Viele von ihnen wurden ganz bewusst aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dschihadistischen Gruppen ausgewählt.

Durch die türkische Invasion in Nordsyrien wurden hunderttausende Menschen zu Geflüchteten und Binnenvertriebenen, die sich noch immer in dem von der autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens verwalteten Gebiet befinden. Seit dem 2. November wurden ca. 200.000 – 300.000 Menschen durch die türkische Invasion vertrieben, Frauen und Kinder sind dabei von gravierenderen Auswirkungen betroffen. 150.000 davon befinden sich nun in der Jazeera-Region. Allen Berichten zufolge sind die überwiegende Mehrheit davon Frauen und Kinder. Tausende von Kindern leben bereits als Vertriebene mit all den hierdurch erzeugten physischen und psychischen Schäden. Die Situation der Binnenvertriebenen ist kritisch, da die Nahrungsmittel- und Wasserknappheit durch Angriffe auf die Infrastruktur, wie beispielsweise die Wasserstation Alouk, noch weiter verschlimmert wird. Die Menschen sind hochgradig durch ansteckende Krankheiten gefährdet und anfällig für andere Gefahren. Nach Angaben lokaler NGOs, die in den Camps arbeiten, zeigen Kinder Anzeichen von psychischen Folgeerscheinungen. Es gibt keine Infrastruktur für Bildung, Beratung oder Kinderförderung. In vielen Camps, die kontinuierlich um Ressourcen kämpfen, fehlt es an Gesundheitsversorgung.

Das Washokani-Camp wurde ohne internationale Unterstützung in der Nähe von Heseke, Kanton Jazeera, neu errichtet. Der Anteil der erwachsenen männlichen Bewohner des Camps ist weniger als 20%, was eine sehr typische Situation der Binnenvertriebenen in diesem Konflikt darstellt. Alle im Washokani-Camp untergebrachten Menschen sind Vertriebene aus den Städten und der Umgebung von Serekaniye und Tel Temer. Der Leiterin des Camps liegen Berichte vor, die die Ursache dafür, dass die Anzahl der Frauen im Camp so viel höher ist als die der Männer, darauf zurückführen, dass Frauen in vielen Fällen meist früher fliehen, da sie zusätzlich durch sexuelle Gewalt und Vergewaltigung von den Angreifern bedroht sind. Darüber hinaus tragen sie auch die Hauptverantwortung für die Versorgung und Betreuung ihrer Kinder. Frauen und Kinder werden nicht nur mit größerer Wahrscheinlichkeit vertrieben, sondern sind auch von den Auswirkungen viel stärker betroffen.

2.4 Angriffe auf Zivilist*innen und das zivile Leben

Erste Berichte und Zeugenaussagen machen deutlich, dass die gleichen Praktiken, die im besetzten Afrin angewandt werden, auch in Serekaniye und Gire Spi zu beobachten sind. Die Besetzung und der Angriff auf Nordsyrien durch die türkische Armee und ihre Verbündeten ist wiederholt mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit einhergegangen, wie sie in der UN-Dekleration definiert sind und entsprechen der UN-Definition eines Genozids an der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens, der insbesondere auf die kurdischen und christlichen Gemeinschaften abzielt. Seit Beginn der Invasion sind Frauen zunehmend von Vergewaltigung, sexuellen Übergriffe und andere Formen geschlechts- spezifischer Gewalt bedroht. Es gab auch gezielte Angriffe auf Frauen aus der Zivilgesellschaft, wie die brutale Ermordung der Politikerin Hevrin Khalaf. Frauen in Gire Spi und anderen besetzten Gebieten wurden die Scharia-Gesetze durch die Besatzungstruppen aufgezwungen. Auch Kriegsverbrechen, die sich bewusst gegen Kämpferinnen der YPJ richten, wurden dokumentiert.

Es wurde dokumentiert, dass sowohl die türkische Armee als auch ihre verbündeten Truppen ganz gezielt Zivilist*innen und zivile Infrastruktur angegriffen haben. Der historische Kontext hat eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit den Angriffen auf das Gebiet der Demokratischen Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien, innerhalb dessen die Selbstverwaltung und die Frauenbewegung Frauengesetze und Zentren zur Umsetzung von Frauenrechten etabliert haben. Hierdurch hat die Gemeinschaft eine aktive Rolle bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt gespielt und das Empowerment von Frauen institutionalisiert. Die Zerstörung dieser Zentren durch Besatzungstruppen stellt einen Rückschlag dar und macht Frauen von nun an viel angreifbarer. Diese Angriffe beeinträchtigen insbesondere das Leben und die Existenzgrundlage von Frauen und Kindern. Angriffe auf die Infrastruktur ziehen die gesamte Gesellschaft und alle Lebensbereiche in Mitleidenschaft, in denen die Rolle von Frauen zumeist zentral ist. Frauen und Kinder befinden sich häufig in einer verletzlicheren gesellschaftlichen Position und können sich daher weniger frei bewegen, um Gefahren zu entkommen.

Ein Angriff auf das derzeitig pluralistische und multiethnische Zusammenleben der Menschen in den Gebieten der Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien stellt auch einen Versuch dar, die Harmonie zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen zu zerstören, sowie Chaos und Gewalt zu erzeugen. Diese Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und die Zerstörung des zivilen Lebens sind gezielte Taktiken der türkischen Armee und ihrer verbündeten Truppen, und stellen einen Völkermord und Feminizid dar. Diese Tatsache erfordert eine massive internationale Intervention.


3. PLÄDOYER VON KONGRA STAR

Basierend auf den hier erörterten und allgemein verfügbaren Beweisen geht Kongra Star davon aus, dass in Nordsyrien ein Genozid und zugleich ein Feminizid im politischen Sinne verübt wird, der sich gegen Frauen als eine soziale Gruppe richtet. Die Angriffe auf das System der demokratischen Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens sind ein Angriff auf die Sicherheit und Freiheit von Frauen. Hinzu kommen die extremen humanitären Auswirkungen dieser Invasion, von der Frauen und Kinder und damit auch die Gemeinschaften am schwersten betroffen sind. Kongra Star sieht die dringende Notwendigkeit, eine politische Lösung für den Konflikt in Syrien zu finden, bei der die Stimmen aller ethnischen Gruppen, aller Altersgruppen, Religionen und Organisationen und vor allem die Stimmen und Bedürfnisse der Frauen Gehör finden und berücksichtigt werden müssen. Um diesen Prozess einzuleiten, müssen die Frauen Nord- und Ostsyriens die Möglichkeit haben, Delegierte zu entsenden, die sie bei der Ausarbeitung einer neuen syrischen Verfassung und aller damit verbundenen Prozesse vertreten. Darüber hinaus ist es wichtig, dass alle Kriegsverbrechen sowie alle beteiligten Täter in rechtlichen Verfahren zur Anklage gebracht werden. Um Gerechtigkeit zu erlangen, müssen die vom türkischen Staat und seiner Söldnertruppen verübten Genozide und Feminizide offiziell anerkannt und verurteilt werden.

Unverzüglich müssen folgende Maßnahmen von der internationalen Gemeinschaft ergriffen werden, um die physische und soziale Krise zu beenden, die durch die türkische Invasion verursacht wurde und in deren Rahmen Gewalt, Vertreibung, Kriegsverbrechen, Not und Menschenrechtsverletzungen verübt werden:

• Einrichtung einer “Flugverbotszone” über Nordsyrien zum Schutz Zivilbevölkerung vor willkürlicher Gewalt und Massakern

• Sofortiger Rückzug der türkischen Besatzungsarmee und aller mit ihr verbundenen bewaffneten Gruppen aus dem Territorium Syriens; Beendigung der Besetzung, der Völkermordpraktiken und des Feminizids

• Einrichtung einer Friedensmission der internationalen Gemeinschaft an der türkisch-syrischen Grenze zur Verhinderung weiterer Angriffe der türkischen Armee und all ihrer verbündeter Milizen

• Verhängung von umgehenden Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei und sofortige Einstellung des gesamten Waffenhandels mit der Türkei

• Sofortmaßnahmen zur umfangreichen humanitären Unterstützung der Regionen der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens

PDF ZUM WEITERLESEN : Dossier von Kongra Star zu Auswirkungen der türkischen Invasion auf Frauen und Kinder in Rojava

„Operation Quelle des Friedens“ oder der Vernichtungsfeldzug der Türkei gegen Rojava (2019)

Ausführliche Informationen folgen in kürze.

Widerstand in Bakur gegen den türkischen Faschismus


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Ausführliche Informationen folgen in kürze.

PKK Youth Fight for Autonomy in Turkey (YDG-H)
(Vice News, Feb 2016)

On January 6, a 14-year-old Kurdish boy named Ümit Kurt was shot dead by Turkish special forces in the Syrian border town of Cizre in southeast Turkey. Ümit Kurt was killed as he walked home through an area controlled by the Patriotic Revolutionary Youth Movement (YDG-H), the militant youth wing of the outlawed Kurdistan Workers‘ Party (PKK). The YDG-H has been acting as a paramilitary force in Cizre for the past few months and has closed off several Kurdish neighborhoods with their armed checkpoints and patrols. VICE News gained exclusive access to members of the YDG-H, mostly in their teens and early twenties, who give their story on why gun battles broke out between them and the Turkish security forces, leading to some of the worst fighting in Cizre since the 1990s.

Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg
(Lower Class Magazine, Sep 2016)

Zwischen Januar und Juni 2015 hielten sich Journalisten des lower class magazine mehrere Monate in verschiedenen Teilen Kurdistans auf. In Bakur (Nordkurdistan, Südosttürkei) bereisten sie die Kriegsschauplätze in Städten wie Diyarbakir, Nusaybin, Cizre und Yüksekova. In Basur (Südkurdistan) hatten sie die Gelegenheiten, Führungspersonen der kurdischen Guerilla in Kandil zu treffen.

Das Buch „Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg“ könnt ihr hier bestellen.

Warum führt die Türkei einen Krieg gegen Rojava ?


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HINTERGRÜNDE DES TÜRKISCHEN ANGRIFFSKRIEGES AUF DIE DEMOKRATISCHE FÖDERATION NORD- UND OSTSYRIEN / ROJAVA


1. Zunehmende Destabilisierung der türkischen Innenpolitik

Die türkische Regierungspartei AKP (türk. für „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) und deren Vorsitzender Recep Tayyip Erdoğan stehen vor großen innenpolitischen Herausforderungen. Seit den Protesten um den Gezi-Park in Istanbul im Sommer 2013 und spätestens dem sog. Putschversuch des türkischen Militärs am 15./16. Juli 2016 schlägt die zunächst wirtschaftsliberale und national-konservative AKP einen zunehmend nationalistischen, autoritären und autokratischen Kurs ein. In der gesamten Zeit seit Juli 2016 gehen die türkischen Behörden willkürlich und mit brutaler Härte gegen Regimekritiker*innen und Oppositionelle vor. Alleine in den ersten Monaten wurden unzählige Menschenrechtsverleungen durch türkische und internatinaie NGOS dokumentiert. Im Zuge seiner politischen Säuberungsaktionen ließ Erdoğan tausende Menschenrechtler*innen, Akademiker*innen und Journalist*innen suspendieren und viele von ihnen inhaftieren. Auch gegen Polizeikräfte, Richter*innen sowie Staatsanwält*innen wurde gleichermaßen vorgegangen. An deren Stelle setzte Erdoğan AKP-treue Funktionäre und Mitarbeiter*innen ein, die weitreichende Zensur öffentlicher Medien und hohe Kontrolle über die politische Meinungsbildung, Legislative und Exekutive ermöglichten. Erdoğan gelang es also mittels eines faktisch 2 Jahre lang andauernden politischen Ausnahmezustands in der Türkei die Gewaltenteilung des Staates aufzuheben und an sich zu reißen. Das wurde mittels der verfassungsändernden Reform zur Einführung des sog. Präsidialsystems im Jahr 2018 post factum legalisiert und gesetzlich verankert.

2. Wirtschaftliche Krise der Türkei

Zudem befindet sich die Türkei seit 2018 in einer tiefen Wirtschaftskrise, die zur Entwertung der türkischen Lira und hoher Staatsverschuldung führte. Aufgrund nicht absehbarer Entwicklung der wirtschaftlichen Lage hat Erdoğan die für das Jahr 2019 anstehenden Präsidentschaftswahlen auf das Jahr 2018 vorverlegt. Dabei hat sich die AKP auf eine Koalition mit der ultranationalistischen MHP (türk. für „Partei der Nationalistischen Bewegung“) eingelassen.

3. Konstruktion von Feinbildern

Um den Machterhalt zu sichern wird neben der Diffamierung und Liquidierung oppositioneller Kräfte seites der Regierung massiv nationalistische und rassistische Stimmung gegen die vor allem im Süd-Osten der Türkei sowie in Nordsyrien lebenden Kurd innen gemacht. Die rassistischen Mobilisierungen betreffen jedoch nicht nur Kurd*innen, auch gegen syrische Geflüchtete wird massiv und offen u.a. von Erdoğan persönlich gehetzt. Die unter Erdoğan erneut entflammte völkisch-patriotische Politik des türkisch-zentralistischen Nationalstaats sieht keinen Platz für Menschen anderer ethnischer und kultureller Hintergründe vor und nutzt sie zu- gleich als Feindbild, um den Zustand und die Gründe der sozialen und ökonomischen Krise zu verschleiern.

4. Errichtung einer „Sicherheitszone“ in syrischem Grenzgebiet

Neben systematischen Bombardierungen kurdischer Gebiete im Nordirak und fortlaufender Assimilierungs-, Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik in Süd-Ost-Anstolien, legitimierte Erdoğan mit dem Vorand der sog. Terrorismus-Bekämpfung im Winter 2018 einen völkerrechtswidrigengriffskrieg sowie anschließende Besetzug des hauptsächlich von Kurd*innen bevölkerten nord-syrischen Kantons Afrin. Das hat zu Vertreibung und Flucht der Zivilbevölkerung sowie Destabilisierung lokaler basisdemokratischer Strukturen geführt. Durch die Ansiedlung islamistischer Kämpfer, urkeitreuer Milizen und deren Familien in Nnn wird neben direkter Bedrohung dort dinmen auch ein Wiedererstarken des IS und weitere Hürden für den Friedensprozess in Syrien in Kauf genommen. Die Türkei nutzt die in Nordsyrien bereits besetzte Region Afrin auch um, mit Zuspruch und Subventionierung der EU, Schutzsuchende aus verschiedenen Teilen Syriens dorthin abzuschieben. Die sogenannte „Sicherheitszone“ – das neue außenpolitische Projekt Erdoğans gezielte Umgestaltng der Demografie und die Zwangsvertreibung kurdischer Bevölkerung weiterhin ermöglichen.

5. Imperialistischer Größenwahn der AKP

Die im März 2019 stattgefundenen Kommunalwahlen in der Türkei haben trotz massiver Repression gegenüber Oppositionellen gezeigt, dass die Regierung unter Führung Erdoğans weder nicht widerspruchslos hingenommen wird. Doch Erdoğan hält weiterhin an seinem Expansionismus unter nationalistischen Linie fest und hofft damit die Bevölkerung hinter sich zu einen. Mit „Vision 2023″, einer politischen Strategie der AKP-MHP Regierung, will er an das historische Erbe Atatürks anknüpfen. Im Jahr 2023 jährt sich das 100. Jubiläum des Lausanner Vertrags, demnach die nach Ende des 1. Weltkriegs verhandelten Staatsgrenzen der Türkei neu verhandelt werden könnten. Das Osmanische Reich soll also wieder auferstehen und eine Großmacht im mittleren Osten werden, wenn den Kurd*innen ihr Existenzrecht immer wieder abgesprochen wird. Um sich besser Argumentationsgrundlagen bedienen zu können, will Erdoğan mit dem Angriffkrieg weitere Teile Nordsyriens besetzen und somit auch die seit 100 Jahren andauernde Kolonisierung Kurdistans durch die Türkei aufrechterhalten und ausdehnen.

6. Rojavas Utopie als Gefahr für die Legitimation der türkischen Diktatur

Einer der ausschlaggebenden Gründe für den aktuellen Angriffskrieg auf Nordsyrien ist die dort seit der Ausrufung der Revolution 2012 bestehenden demokratischen Selbstverwaltung der lokalen Bevölkerung, die auf Prinzipien des multikulturellen, multireligiösen und multiethnischen Zusammenlebens beruht, statt auf Nationalismus zu basieren. Weder innen- noch außenpolitisch lässt sich eine solche Nachbarschaft mit Erdoğans Ideologie in Übereinstimmung bringen.

Weiterhin setzt die Türkei alles daran, die internationale Anerkennung der Selbstverwaltungsstrukturen und in ihnen vorhandenes Potential zur Demokratisierung Syriens zu unterbinden. So konnte mit dem Veto der Türkei die Teilnahme der Vertreter*innen der nord-ost-syrischen Selbstverwaltung an der Verfassungskommission für Syrien vorerst verhindert werden.

7. Plädoyer

Diese Auflistung ist nicht annähernd in der Lage, den Umfang und die Komplexität des Verhältnisses zwischen Türkei und Kurd*innen in Nord- und Westkurdistan darzustellen. Die „Kurdische Frage“ ist seit Jahrzehnten ein bedeutender Teil der politischen Agenda in der Türkei. Rojava ist der geographische Kern der Freiheitsbewegung Kurdistans und auch im türkischen Teil Kurdistans organisiert sich die Bevölkerung nach Prinzipien des demokratischen Konföderalismus. Was in Rojava geschieht, beeinflusst die Völker in der Türkei und die aggressive Vernichtungspolitik Erdoĝans in diesem Krieg, zeigt einmal mehr seine Entschlossenheit, für imperialistische Machterhaltung und -ausweitung bis zum Äußeren zu gehen. Doch was soll das Äußere sein?

Abdullah Öcalan und die Kurden-Frage, Arte 2015

https://www.youtube.com/watch?v=DMKJPkPkkxE

Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt sehen eine funktionierende Perspektive in dem Demokratischen Konföderalismus, der Frauenbefreiung und den ökologischen Prinzipien der Revolution und eine Möglichkeit der Organisierung von Mensch und Natur als Ausweg aus der kapitalistischen Krise. Auch westliche Demokratiesysteme können die kurdische Freiheitsbewegung als Bedrohung wahrnehmen, wenn die sozialen Konflikte in einem Staat ansteigen und die Legitimation der Regierenden infragegestellt wird. Proteste in Europa werden nieder geknüppelt, Aktivist*innen kriminalisiert und abgeschoben und die Medien schweigen. Die faschistische Motivation der Türkei hinter diesem andauernden Genozid und Feminizid in Kurdistan wird von einer handlungsunfähigen Internationalen Gemeinschaft hingenommen, deren Theorie und Praxis ebenso viele Merkmale von Faschismusdefinitionen erfüllen. Der Vorwand Erdoĝans der Terrorismusbekämpfung wird in der BRD und anderen Staaten in anderen Ausmaßen ebenso gegen Oppositionelle und Widerständische eingesetzt, deutsche V-Leute treiben Neonazistrukturen voran, um die Gesellschaft zu spalten und Graue Wölfe erschießen kurdische Aktivistinnen.

Aufgrund all dieser Parallelen, der Verstrickung von Politik- und Handelsbeziehungen mit der Türkei und dem Profit des Krieges ermöglichen die kooperierenden Staaten der zweitgrößte NATO-Armee und ihren dschihadistischen Söldnern, mit schweren Waffen und Chemiebomben Siedlungen zu attackieren, in einem Gebiet, in dem sich ein paar Millionen Menschen ein Stück Wüste erkämpft haben und ihr demokratisches Projekt aufopferungsvoll gegen den Islamischen Staat verteidigen. Der Sieg der YPG/YPJ und der HPG über Daesh [IS] in Rojava durchkreuzte die imperialistischen Pläne der Türkei als eine der Hauptsponsoren und Ankerpunkte des IS gewaltig und dürfte ein weiterer Auslöser der Vernichtungswut Erdoĝans sein. Doch noch ist Rojava nicht gefallen!

Danke YPJ/YPG für die Verteidigung dieser einzigartigen Revolution. Serkeftin!

Was ist die Revolution in Rojava?


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Gelebte Utopie? Selbstverwaltung in Rojava – Ein Vortrag von Anja Flach (26.04.2017)

Mehr als zwei Jahre – von 1995 bis 1997 – war Anja Flach als Internationalistin in den Bergen Kurdistans und hat dort das Leben der Guerillaeinheiten der kurdischen Befreiungsbewegung kennen gelernt und geteilt. Mitten in einem Krieg gegen die zweitgrößte Armee der NATO wird sie Augenzeugin und Teilnehmerin des noch immer andauernden Versuchs, ein anderes Leben aufzubauen – ein Leben, das für das unter Jahrhunderten Krieg, Unterdrückung und Verleugnung leidende kurdische Volk ebenso eine menschenwürdige Perspektive bietet wie für die zerstörten Beziehungen zwischen Männern und Frauen und für die einzelnen ProtagonistInnen dieses Kampfes.

#DefendRojava I “Was heute in Rojava stattfindet verstehen wir als Revolution.“ (Civaka Azad, Juni 2018)

Teilung Kurdistans, Revolution in Rojava, Angriffskrieg der Türkei auf Afrin, internationale Beziehungen, Analyse der Reaktionen der europäischen Linken

Ausführliche Informationen folgen in kürze.

BRD und Türkei – eine Langzeitbeziehung


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Der kurdisch-türkische Konflikt

Im Jahr 2013 keimte in der Türkei Hoffnung auf Frieden und demokratischen Wandel. Die Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und dem kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan führten zu einem Waffenstillstand zwischen der türkischen Armee und der PKK. Dieser wurde jedoch 2015 seitens der Regierung aufgekündigt, nachdem die AKP von Präsident Erdogan anfing, im politischen Prozess an Macht zu verlieren und die Gesellschaft demokratische Strukturen nach den Ideen Abdullah Öcalans in den kurdischen Städten errichtete.
Um diesen Prozess umzukehren wurde Abdullah Öcalan unter totale Isolation gestellt und die türkische Armee begann einen brutalen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, in dem tausende ZivilistInnen ihr Leben verloren und ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht wurden.

Die Repressionen Deutschlands zu Gunsten Erdogans

Auch in Deutschland machte sich der türkische Kurswechsel bemerkbar. Durch seinen unmoralischen „Flüchtlingsdeal“, bei dem Erdogan die europäische Angst vor der Einwanderung syrischer Kriegsflüchtlinge nutzte, um seinen Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung zu finanzieren, machte sich Deutschland erpressbar. Die türkische Politik gewann zunehmend Einfluss auf die deutschen Staatsorgane und die traditionelle Zusammenarbeit in der Unterdrückung kurdischer Freiheitsbestrebungen erreichte ein neues Level. Selbst kulturelle Institutionen, die jahrzehntelang für Vielfalt und Integration in Deutschland sorgten, wurden Opfer dieser Politik. Kurdische Presse, StudentInnen- und Kulturverbände und sogar ein Buch-verlag wurden nach türkischen Vorbild mit Repressionen überzogen. Jegliche Forderungen für die Freiheit von Abdullah Öcalan und sogar sein bloßes Abbild wurden kriminalisiert.

Deutschland – Türkei: Eine Langzeitbeziehung

Diese Zusammenarbeit gipfelte im völkerrechtswidrigen Überfall der türkischen Armee auf die kurdische Region Efrîn im benachbarten Syrien. Neben islamistischen Banden bestehend aus ehemaligen Kämpfern von Al-Qaida und dem IS, wurde die türkische Armee hierbei auch von deutschen Aufklärungsflügen und massiven Waffenlieferungen aus deutscher Produktion unterstützt. Die ganze Welt schaute zu wie hunderttausende Menschen vertrieben, Dörfer und Städte geplündert und Frauen und Mädchen versklavt und vergewaltigt wurden, doch statt Erdogan vor ein Kriegsgericht zu stellen oder zumindest Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen, wurde dem mittlerweile alleinigen Herrscher der Türkei noch im gleichen Jahr in Deutschland der rote Teppich ausgerollt und Tee serviert.
Schon wieder ließ die deutsche Regierung sich erpressen und verschloss die Augen deshalb vor der Realität. Denn wie schon vor 140 Jahren der Bau der Bagdadbahn durch deutsche Unternehmen die schwächelnde Wirtschaft des Osmanischen Reiches ankurbelte, soll heute deutsches Geld und Know-How dafür sorgen, dass das innertürkische Schienennetz komplett modernisiert wird. Bei der Vergabe des attraktiven 35 Mrd. Euro schweren Auftrag buhlen derweil deutsche Unternehmen gegen chinesi-sche Industriekonzerne. Um die Wirtschaftsgiganten im eigenen Land gnädig zu stimmen, sollte die Bundesregierung also auf Maßnahmen verzichten, die den launischen Präsidenten in Ankara beim Bau seiner Schienen gen China blicken lassen würden. Diese Rechnung sichert der Türkei freie Fahrt auf dem politischen Spielfeld, doch wurde diese Rechnung ohne die freiheitlichen Kräfte der jeweiligen Länder gemacht.

Erdogans Verzweiflung gegen den Widerstand

Der heldenhafte Hungerstreik der kurdischen HDP-Abgeordneten Leyla Güven und den Tausenden, die mit ihr bereit sind sogar ihr Leben für eine freie und gerechte Gesellschaft zu geben, bewegt schon heute die Massen – in der Türkei und auch in Deutschland. Kein Wunder, denn die Umsetzung der einzigen Forderung Leyla Güvens, nämlich die Aufhebung der menschenrechtsverachtenden Totalisolation von Abdullah Öcalan, würde die Aufnahme des 2015 abgebrochenen Friedensprozesses mit der kurdischen Freiheitsbewegung bedeuten.

Quelle: YXK/ JXK Deutschland

WEITERE INFORMATIONEN:

Civaka Azad: Freunde fürs Leben – die strategische Dimension der deutschtürkischen Partnerschaft in Zeiten des Umbruchs

Der Mittlere Osten befindet sich in einer Phase tiefgreifender Umgestaltung. In diesem Zusammenhang kommt den deutsch-türkischen Beziehungen aus der Sicht beider Länder eine besondere Bedeutung bei der Sicherung ihrer jeweiligen Interessen zu. Die gemeinsame Verfolgung politischer, wirtschaftlicher, militärischer und geostrategischer Interessen fußt auf einer mehrere Jahrhunderte alten Tradition deutsch-türkischer Beziehungen. Beide Länder verbindet eine strategische Partnerschaft. Vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen Verschränkung Deutschlands und der Türkei auf politischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Ebene erscheinen die Streitigkeiten um inhaftierte Deutsche in der Türkei und Nazi-Beschimpfungen durch türkische Regierungsvertreter als kurzweilige Unannehmlichkeiten. Der strategische Bündnispartner Türkei reagiert auf die Umbrüche in seiner unmittelbaren Nachbarschaft mit der Errichtung eines autokratischen Regimes und einer zunehmenden Verwicklung in die militärischen Konflikte der Region. Dabei sieht sich die Türkei selbst mit zunehmendengesellschaftlichen Widersprüchen und einem Krieg im Südosten des Landes konfrontiert. Für die deutsche Bundesregierung stellen sich in diesem Zusammenhang zwei zentrale Fragen: In wie fern wird Deutschland auch zukünftig in der Lage bleiben eigene Interessen im Mittleren Osten über den Bündnispartner Türkei durchzusetzen? Wie weit ist Deutschland bereit mit einem türkischen Regime zusammen zu arbeiten, das offen diktatorische Züge trägt und zunehmend nationales und internationales Recht missachtet?

Was ist Kurdistan?

Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


1. Geografie, Bevölkerung und Ressourcen

Kurdistan ist ein nicht genau begrenztes Gebiet in Vorderasien, das als historisches Siedlungsgebiet der Kurden betrachtet wird. Die Staaten, über die sich dieses Gebiet erstreckt, vermeiden zumeist die Bezeichnung Kurdistan oder verbieten den Gebrauch des Begriffes sogar. Sein Gebrauch wird hingegen von breiten Schichten der kurdischen Bevölkerung gefördert bzw. gefordert. In Kurdistan leben neben Kurd*innen auch Araber*innen, Perser*innen, Aserbaidschaner*innen, Türk*innen, Turkmen*innen, Armenier*innen, Assyrer/Aramäer*innen und viele weitere ethnische Gruppen.

Kurdistan liegt im Zentrum des Mittleren Ostens und reicht von der Nähe der Mittelmeerküste im Westen bis in den Iran im Osten, von der Grenze zu Armenien im Norden bis zur Höhe Bagdads im Iran. Insgesamt umschließt das kurdische Siedlungsgebiet ca. 550.000 Quadratkilometer (siehe auch beiliegende Karte). Die Schätzungen über die Größe des kurdischen Volkes gehen weit auseinander. Die meisten Angaben bewegen sich im Bereich von 25-30 Millionen Menschen. Diese verteilen sich auf die Kolonialländer Türkei (11,4 Millionen), Irak (3,9), Iran (6,6) und Syrien (0,9). Berücksichtigt man, dass die Zahlen von 1980 stammen, so ist bei einem Bevölkerungswachstum von 4,4% (1993) von einer heutigen Größe des kurdischen Volkes von über 30 Millionen auszugehen. Zusätzlich leben noch ca. 2 Millionen KurdInnen in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und im Exil in Europa. Zahlreiche KurdInnen – nach Schätzungen bis zu 7 Millionen – sind in die türkischen Metropolen geflohen und leben dort als unterste Schicht in den Slums der Großstädte, auch Gecekondu genannt.

In Kurdistan sind viele Rohstoffe zu finden: Erdölvorkomen u.a. in Kerkuk, Mossul und Batman, in den Bergen Eisenerze, Phosphate, Schwefelkies, Kohle u.v.m. Der wichtigste Rohstoff Kurdistans dürfte aber das Wasser sein. Durch Kurdistan fließen Euphrat und Tigris. Wer diese Wasserzuflüsse in dem strategisch wichtigen Gebiet Kurdistan beherrscht, hat ein Druckmittel gegenüber dem Großteil des Nahen und Mittleren Ostens in der Hand.

2. Die Teilung Kurdistans durch den Vertrag von Lausanne

Die heutige Aufteilung Kurdistans ist ein Ergebnis der Auflösung des osmanischen Reiches nach dem ersten Weltkrieg. Während des türkischen Befreiungskrieges unter der Führung von Mustafa Kemal (Atatürk) gegen die Aufteilungspläne der imperialistischen Staaten, insbesondere Englands und Frankreichs, wurde die Existenz von KurdInnen noch anerkannt. Um sie für die Befreiungskriege zu mobilisieren, wurden ihnen verschiedene Rechte versprochen. Dies änderte sich jedoch mit dem Erfolg des Kampfes. Im Vertrag von Lausanne am 24.Juli 1923 wurden die Grenzen für die neue türkische Republik festgelegt. Dabei fielen Teile Kurdistans an den Iran, den Irak (unter britischem Mandat), Syrien (französisches Mandat) und die Türkei. Aufgrund der Vierteilung Kurdistans und des starken Interesses imperialistischer Mächte an der Kolonie Kurdistan wird diese häufig als „internationale Kolonie“ bezeichnet. Faktisch liegt der Status Kurdistans sogar unter dem einer Kolonie. Im allgemeinen wurde die Existenz eines Volkes in diesen anerkannt und hatte diese Kolonie einen – wenn auch geringen – politischen Status. Beides ist in Kurdistan nicht der Fall. Richtiger wäre daher Kurdistan als Binnenkolonie zu bezeichnen.

3. Wirtschaft und Eigentum

Kurdistan ist bis heute ein im wesentlichen landwirtschaftlich geprägtes Land. Dieses Land befindet sich vor allem in dem Eigentum von Großgrundbesitzern.
Genaue Zahlen über die Bodenverteilung in Kurdistan liegen nur über die GAP-Region (Südostanatolien-Projekt (türk. Güneydoğu Anadolu Projesi, das größte regionale „Entwicklungsprojekt“ der Türkei) vor. Über 70% der arbeitenden Bevölkerung verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit landwirtschaftlicher Tätigkeit, über 93% aller Bauern besitzen jedoch weniger als 10 Hektar Land. Meist verdingen sich mehrere Mitglieder dieser bäuerlichen Großfamilien als Tagelöhner auf Plantagen oder als Saisonarbeiter. In der GAP-Region verfügen noch heute 7% aller Grundbesitzer über mehr als die Hälfte des zur Verfügung stehende Bodens.

Industrie konnte sich in (Nord-)Kurdistan kaum entwickeln. Die lokalen Großgrundbesitzer ziehen es in der Regel vor, den auf ihrem Land erwirtschafteten Mehrwert in der Türkei zu investieren. Investitionen wurden vor allem vom Staat getätigt. Diese jedoch vor allem in militärische Infrastruktur und stellenweise in den Rohstoffabbau. Der Anteil des Dienstleistungssektors am Gesamteinkommen betrug in der Provinz Hakkari, einer der meist umkämpften Kriegsregionen in der Türkei, Anfang der 90 Jahre 21% (Im Vergleich dazu die Hauptstadt Ankara: 14%). Demgegenüber entfallen nur 7,19% des türkischen Bruttoinlandprodukts auf die 18 kurdischen Provinzen. Die Erdölförderung befindet sich vollständig im Besitz von Shell und einer staatlichen Firma.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es eine Entwicklung der Industrie in Kurdistan nicht gegeben hat und der geschaffene Mehrwert sowie die abgebauten Rohstoffe in die Türkei transferiert werden. Der größte Teil der Bevölkerung muss sich als Landpächter oder Tagelöhner durchschlagen und die Bindungen an die Familie und den Clan bleiben erhalten.


Quelle: Nadir – Zur Geschichte und Politik der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)