Chronologie des Krieges in Nord- und Ost-Syrien und der Revolution in Rojava (2016 – 2017)


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.

In den Jahren 2016 und 2017 waren die SDF immer mehr auf dem Vormarsch, wobei die Befreiung von Minbiç einen besonderen Meilenstein darstellt. Sie konnten im Oktober 2017 schließlich die IS-Hauptstadt Raqqa und die nördlichen Gebiete von Deir Ez-Zor befreien. Damit hat die SDF einen entscheidenden Beitrag für das Verdrängen des IS geleistet, so indirekt auch das Auseinanderbrechen des Baath-Regimes verhindert und den Boden für weitere IS-Massaker im Westen entzogen.


JANUAR 2016

Am 26. Januar begannen die Genf-III-Gespräche mit dem Ziel der Friedens-verhandlungen über den Syrienkrieg. Auf Druck der Türkei wurde die Selbst-verwaltung von Rojava und die PYD explizit von den Verhandlungen ausgeschlos-sen, während als Zugeständnis an die Türkei auf Druck des deutschen Außen-ministers Steinmeier Ahrar aş Şam, der engste Bündnispartner von Jabhat al Nusra und ein Ableger von al-Qaida, eingeladen wurde. Der internationale Delegitimierungsversuch durch die Ausladung der Selbstverwaltung von Rojava von den Genfer Friedensgesprächen und die Protegierung der Türkei durch Deutschland stärkte weiter die Position des NC und dessen antikurdische Haltung.


FEBRUAR 2016

Am 19. Februar 2016 wurde al-Shaddadi, die letzte große Stadt unter
Kontrolle des IS (Al Hasaka), durch die SDF befreit.

Die Angriffe auf Rojava eskalierten im Schatten des am 27. Februar 2016 vereinbarten »Genf-III«-Waffenstillstands immer weiter. Akteure sind dabei
die türkische Armee, die »Istanbuler Opposition« (Nationale Koalition) und
zu ihr gehörenden, im ENKS organisierte kurdische Kräfte (Rojava- Peşmerga), wie auch salafistische Gruppen wie Ahrar as Sham und die in »Genf III« nicht inkludierten Jabhat al-Nusra. Bereits im Jahr 2015, aber vor allem ab dem Frühjahr 2016 intensivierten sich die Angriffe auf die selbstverwalteten Stadtteile in Aleppo. Über 100 Zivilisten starben allein in dem Viertel Şex Maqsud.

Aus Nordkurdistan können mit der Verschärfung des Krieges zwischen dem türkischem Staat und der Kurdischen Freiheitsbewegung ab Anfang 2016
keine (medizinischen) Güter mehr importiert werden.


MÄRZ 2016

Im März wurde der Aufbau der Demokratischen Föderation von Nordsyrien (DFNS) durch Dutzende Parteien und Organisationen ausgerufen. Es geht
dabei nicht um die Annektion ganz Nordsyriens, sondern um die Befreiung
von der Terrorherrschaft der Milizen und der Öffnung eines Raumes zur Selbstorganisierung nach eigenen Bedürfnissen.

Während das Embargo gegen Rojava 2015 kontinuierlich verschärft wurde, erreichte es nach dem 17. März 2016 eine neue Dimension. Zuvor war auf
Druck der Türkei die Selbstverwaltung Rojavas explizit aus den »Genf III« -Verhandlungen ausgeladen worden und sollte so politisch isoliert und kalt-
gestellt werden. Die Selbstverwaltung reagierte mit einem Schritt nach vorn:
mit der Ausrufung der Demokratischen Föderation Nordsyrien, die zugleich ein alternatives Projekt für die gesamte Region darstellt. Daraufhin verschärfte die Türkei und die von ihr abhängige PDK-Regierung ihr Embargo gegenüber Rojava und schloss die Grenzen komplett. Hinzu kamen Verhaftungsoperationen und Übergriffe auf emanzipatorische Aktivist*innen in Südkurdistan, insbesondere
auf kritische Journalist*innen und die kurdische Frauenfreiheitsbewegung.
Sowohl Şengal als auch Rojava sind isoliert, während Hunderttausende Menschen
aus der Region Mosul in Rojava aufgenommen werden. Aufgrund der Ausrufung einer überregionalen Alternative auch zum Assad-Regime hat es Verständigungen zwischen dem Regime und der Türkei gegeben. Rojava wird nun von allen Seiten angegriffen und ökonomisch wie humanitär isoliert. Die Türkei hat im Norden einen Zaun und Mauern um Rojava errichtet, Südkurdistan (Nordirak) hat im Osten einen befestigten Graben gezogen, den es nun mit Militärstützpunkten ausbaut. Nach Süden ist Rojava durch die radikalislamistischen Kampfverbände des IS und der
al-Nusra-Front vom Rest Syriens getrennt.


APRIL 2016

In Qamişlo entflammten erneut Kämpfe zwischen den Regimetruppen Syriens
und der YPG/YPJ. Erstmals bombardierten die Regime-Truppen die Stadt mit Artillerie. Nach vier Tagen wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Nach einem Scheinangriff auf Rakka begann der Militärrat von Minbic (eine Abteilung der SDF) die Belagerung von Minbic.

Die Gefechte im Dreieck Afrin, Kobanî, Aleppo (Şêx Maqsud) nahmen immer größere Ausmaße an. Unter den am 7. April 2016 getöteten Angreifern waren neben mehreren Mitgliedern von Jabhat al-Nusra und Ahrar al-Scham auch Sultan-Murat-Brigadisten – zwei von ihnen waren Angehörige des türkischen Geheim-dienstes MIT. Insbesondere das nach dem Modell der Demokratischen Autonomie von Rojava selbstverwaltete und den YPG/YPJ verteidigte Stadtviertel Aleppos, Şêx Maqsud, wurde immer wieder zum Ziel von Angriffen. Diese wurden in aller Härte und Erbarmungslosigkeit mit schweren Waffen ausgeübt, was zum Tode zahlreicher unschuldiger Zivilpersonen führte. Mittlerweile gibt es Vorwürfe seitens der YPG, dass bei den am 5. April begonnenen Angriffen der Banden der Nationa-len Koalition und des ENKS auf Şêx Maqsud neben schwerem Geschütz wie Raketen auch Chemiewaffen eingesetzt worden seien. Der vermutete Chemiewaf-fenangriff wurde anscheinend von Jaisch al-Islam verübt, wie der ENKS einräumte.

Am 14. April beschoss die türkische Armee das Dorf Hewar in der Nähe von Azaz. Dabei kamen mindestens 25 Zivilpersonen ums Leben.

Die Grenzstadt Girê Spî wurde am 15. April mit türkischer Artillerie beschossen.

Im April 2016 wurde das erste Zentrum der HPC-Jin, also der Frauen-verteidigungskomitees, in Hesekê aufgebaut.


MAI 2016

Im Mai 2016 starteten die SDF eine Operation zur Befreiung von Rakka. Die
Türkei hatte bis Juni 2016 verhindert, dass die USA und SDF eine gemeinsame Operation auf Rakka durchführen. Die USA unterstützten die Operation der SDF nur, weil sie einen militärischen Sieg in Syrien gegen den IS anstreben. All ihre Bemühungen, selbst eine Anti-IS-Truppe aufzustellen, waren gescheitert. Beide Seiten sind sich bewusst, dass die Beziehungen rein taktischer Natur sind.


AUGUST 2016

Anfang Juni 2016 starteten die SDF eine umfangreiche Befreiungsoperation für die seit Januar 2014 vom IS kontrollierte Region Manbij, zwischen Kobanî und Afrîn gelegen, unter dem Namen »Abu Leyla« im Gedenken an einen der arabisch-stämmigen, sehr beliebten Kommandanten, der in der Befreiung von Kobanî eine wichtige Rolle gespielt hatte.

The Story of Abu Layla


Faisal Abu Layla (1984 – 5 June 2016) was a commander of the Free Syrian Army and the Syrian Democratic Forces. He was regarded by some Kurds as a hero in the battle against Islamic State. Abu Layla was born near Kobanî to Kurdish and Arab parents; he died in a hospital in Sulaymaniyah, Kurdistan Region, Iraq. His death was caused by sniper bullet to the head he received in the Abu Qelqel village during an offensive against the Islamic State in Manbij on 5 June 2016. He was at that time a prominent commander within the Syrian Democratic Forces.

73 Tage dauerte die Befreiung der überwiegend arabischen Stadt. Innerhalb weniger Tage konnten mehr als 100 Dörfer sowie die wichtige Verbindungsstraße zwischen Jarablus und Rakka unter Kontrolle gebracht werden. Die strategisch bedeutsame Stadt Manbij war seit Januar 2014 in der Hand des DAIŞ. Mehr als 200 Kämpfer*innen verloren ihr Leben. Nach wochen-langen Gefechten wurde der IS am 12. August in dieser Stadt vollständig besiegt. Die Bevölkerung begann umgehend mit dem Aufbau der Selbstverwaltung.

Heseke wurde von Truppen des syrischen Regimes angegriffen, welche den Rückzug der SDF aus der Stadt forderten. Erstmals bombardierte die syrische Luftwaffe die Stadt. Nach einer Woche zogen sich aber die Regime-Truppen aufgrund der hohen Verluste und einer Vielzahl an Desertationen aus den
eigenen Reihen zurück.

Der MIT (türkischer Geheimdienst) tötete am 22. August den Kommandanten
der SDF, welcher für die Befreiung der Stadt Cerablus vom IS verantwortlich ist. Zwei Tage später marschierte die türkische Armee mit der Operation „Schutzschild Euphrat“ erstmals in Syrien ein und eroberte Cerablus. Erklärtes Ziel der Operation war es ein „zusammenhängendes Kurdengebiet“ zu verhindern.


NOVEMBER 2016

Die SDF begannen mit der Operation Xezeba Firatê zum Sturm auf Rakka.


DEZEMBER 2016

Das Regime besiegte die islamischen Rebellen in Aleppo und stellte der YPG/YPJ ein Ultimatum, sich bis Jahresende aus der Stadt zurück zu ziehen. YPG und YPJ kamen dieser Forderung aus taktischen Gründen nach.


FEBRUAR UND MÄRZ 2017

Im Frühling 2017 kam es zu immer stärkeren und verlustreicheren Kämpfen zwischen der türkischen Armee und der SDF. Die türkische Armee und die mittlerweile mit ihr verbündeten Teile der FSA konnten die Verbände der SDF sowohl in Minbic als auch in Tall Rifaat aufhalten und kamen ihnen mit der Eroberung von Al-Bab zuvor. So verhinderten sie den Zusammenschluss
der Kantone Efrîn und Kobanê.

Anfang 2017 etablierten Internationalist*innen, unterstützt von der Jugend-bewegung in Rojava (YCR/YJC), die „Internationalistische Kommune“
von Rojava. Diese widmet sich seitdem der Durchführung von Bildungen, Delegationsreisen, Sprachkursen und dem Aufbau der ersten zivilen
Akademie für Internationalist*innen in Rojava.

Am 10. März 2017 begann in der Nähe der Stadt Serêkaniyê der Bau des Frauendorfes Jinwar im Kanton Cizîrê. Ziel ist es, einen Ort jenseits vom
Patriarchat zu schaffen, an dem sich Frauen auf der Basis ökologischer Landwirtschaft selbst versorgen.


MAI 2017

Die SDF eroberten Anfang Mai die Tabqa-Talsperre (40 km westlich von Rakka) von DAIŞ. Im Laufe des Monats befreiten die SDF nahezu alle Dörfer im Norden Rakkas vom IS. Gegen Ende des Monats standen die ersten SDF-Truppen an
der Stadtgrenze zu Rakka.


JUNI BIS OKTOBER 2017

Am Morgen des 6. Juni begannen die SDF mit US-Luftunterstützung mit der Stürmung der Stadt Rakka. Am 29. Juni hatten SDF-Verbände schließlich den
Ring um die Stadt komplett geschlossen. Anfang September gelang es den SDF, die Altstadt von Raqqa zu befreien. Die SDF befreien in den bis dahin schwersten Kämpfen des Syrischen Bürgerkriegs, Straße um Straße und Stadtteil für Stadtteil von DAIŞ. An den Kämpfen beteiligten sich in den Reihen der SDF ca. 500 Internationalist*innen aus der ganzen Welt.

Inside The Fight To Retake Raqqa From ISIS (HBO)
(Vice News, Sep 2017)

Da sich im August das nahende Ende der Kämpfe in Rakka abzeichnet, werden
die meisten Truppen außerhalb der Stadt für eine neue Offensive gegen DAIŞ in Deir ez Zor zusammengezogen. Am 2. September beginnt die Offensive gegen die letzte Hochburg des IS. Am 17. Oktober meldet die Kommandantur der SDF die vollständige Befreiung der Stadt. Auch in Rakka werden anschließend Volksräte gegründet und die Selbstverwaltung aufgebaut.

Chronologie des Krieges in Nord- und Ost-Syrien und der Revolution in Rojava (2014 – 2015)


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


JANUAR 2014

Anfang Januar 2014 erklärte der „Übergangsrat zur Bildung der Selbstverwaltung
in Westkurdistan“ die Gebiete Afrîn, Kobanê und Cizîre zu Kantonen mit einer gemeinsamen Verfassung und gab der dort lebenden Bevölkerung den Auftrag, ihre demokratisch-autonomen Verwaltungen aufzubauen. Mit der Ausrufung der Demo-kratischen Autonomie wurden gleichzeitig in den drei Kantonen die Übergangs-legislative und -exekutive gebildet. Diese Organe bilden zusammen mit den Kommunalverwaltungen, dem Hohen Wahlausschuss und Hohen Verfassungsrat die sogenannte Koordination eines Kantons. Bei den Gesprächen der TEV-DEM mit dem syrischen Staat ging es hauptsächlich um Waffenstillstand und Grund-versorgung, jedoch nicht um eine politische Lösung selbst. Anfang 2014 begann somit die zweite Phase mit den Demokratischen Selbstverwaltungen (DSV).
Dem Gesellschaftsvertrag nach verstehen sich die drei Kantone Afrîn, Kobanî und Cizîrê als Teil eines demokratischen Syriens und lehnen den Nationalstaat ab.

Im Januar 2014 gingen alle oppositionellen bewaffneten Gruppen gemeinsam gegen DAIŞ vor und konnten ihn aus Azaz und Aleppo vertreiben.

Nach vier Monaten schwerer Gefechte konnte die Stadt Kobanî am 27. Januar 2014 endlich vom IS befreit werden. Schon nach wenigen Tagen waren auch die meisten der 365 Dörfer befreit. Die DAIŞ-Front schien weitestgehend zusammen-gebrochen zu sein. In den Dörfern ließen sie Sprengfallen zurück, kämpften aber kaum noch. Zehntausende Kurd*innen aus der Türkei kamen nach Bekanntwerden der Nachricht zu Feierlichkeiten zusammen. Die türkische Polizei griff mehrere Freudendemonstrationen an.

Die Befreiung von Kobane (ZDF Doku)


Die Doku liefert einen Einblick in das Leben der Bevölkerung nach der Befreiung von Kobanê und zeigt die völlig zerstörte Stadt.

Bei Antep wurde am 19. Januar ein Lastwagen gestoppt, der Granaten für den türkischen Geheimdienst MIT in die Grenzstadt Reyhanli transportierte. Die Fahrer des Wagens gaben an, dass der MIT (Türkischer Geheimdienst) diese Waffen vor Ort an al-Nusra übergeben würde. Am 22. Januar 2014 passierten etliche Fahr-zeuge von al-Nusra die Grenze von der Türkei/Nordkurdistan nach Rojava und töteten zwei Kämpfer*innen der YPG/YPJ. Dies alles geschieht von einem NATO-Staat aus, etwa 50 Kilometer von stationierten deutschen Soldaten entfernt.


FRÜHLING 2014

Die Türkei beginnt mit dem Bau einer Mauer entlang seiner Grenze zu Rojava.

Im Frühjahr 2014 wurde in Aleppo ein Waffenstillstand zwischen den YPG/YPJ einerseits und der FSA und den anderen bewaffneten oppositionellen Gruppen andererseits vereinbart. Die in der Region ebenso präsente al-Nusra hielt sich ebenfalls daran. Diese neuen Umstände führten dazu, dass sich die ganze nicht-staatlich kontrollierte Region (Azaz, Haleb, Idlib) über den Grenzübergang bei
Azaz mit Lebensmitteln und anderen Grundgütern besser versorgen konnte.

Anfang Mai 2014 eroberte ISIS (Islamischer Staat im Irak und Großsyrien) die zweitgrößte Stadt des Irak, Mossul. Sie ist das kommerzielle Zentrum des Irak
und die wichtigste Durchgangsstation auf dem Weg nach Syrien.

Am 29. Mai 2014 überfiel DAIŞ drei vermeintlich ezidische Dörfer in der Region Serêkaniyê, die jedoch von arabischen Flüchtlingen bewohnt waren und schlachtete 15 Menschen, darunter sieben Kinder, auf grauenhafte Weise ab.
Til Xenzir (Serêkaniyê) wurde von den YPG/YPJ im April 2014 befreit.


JUNI 2014

Am ersten Tag des Ramadan (28. Juni) erklärte ISIS sich zu einem weltweiten Kalifat unter dem Namen »Islamischer Staat« (IS). Das Wort Kalifat beschwört die islamische Expansion im 7. und 8. Jahrhundert herauf. Ziel von DAIŞ ist die »Befreiung Großsyriens«, zu dem neben dem heutigen Staat Syrien auch der Libanon, Jordanien und Palästina als Nukleus eines wieder zu errichtenden islamischen Weltreiches gehören. Damit bezieht sich DAIŞ auf den Propheten Mohammed als politisches und religiöses Oberhaupt der Gemeinschaft aller Muslime. Mit der Übernahme des frühislamischen Konzeptes vom Kalifat beschwor der IS außerdem die Sehnsucht vieler Muslime nach kultureller
Authentizität, religiöser Reinheit und politischer Einheit – nach einem Jahrhundert der Fremdbestimmung und Plünderung der Reichtümer des Mittleren Ostens
durch den Westen. Nach dem Fünfjahresplan des DAIŞ sollen die gesamte Nordhälfte Afrikas, große Teile Europas und Asiens bis 2019 erobert sein.

Im Juni 2014 unterzeichneten die YPG/YPJ internationale Konventionen, wie
das Verbot von Anti-Personen-Minen, den Schutz von Zivilist*innen, Frauen und Kindern sowie das Verbot der Aufnahme von unter 18-Jährigen in ihren Reihen. Eine Delegation der Genfer Konvention besuchte Rojava.

JULI 2014

DAIŞ beginnt die Offensive gegen den Kanton Kobanê, wird jedoch von den Verteidigungskräften zurück geschlagen.

Im Juli wird aufgrund der aktuellen Bedrohungslage in der Region Cizîrê eine »Verteidigungspflicht« eingeführt. Jeder 18- bis 38-Jährige (zunächst nur Männer) muss eine militärische Grundausbildung von sechs Monaten absolvieren. Für Frauen ist die Beteiligung freiwillig.


AUGUST 2014

Nachdem DAIŞ im Şengal-Gebirge (Nordirak) einfällt und durch den Rückzug der Pêşmerga tausende Ezid*innen vergewaltigt, versklavt und ermordet werden, kämpft die YPG/YPJ zusammen mit der HPG („Volks-Verteidigungs-Kräfte“, bewaffneter Arm der PKK) und der YJA-Star („Einheiten der freien Frauen“, autonome Frauenarmee der PKK) einen Korridor von Cizîre bis zum Gebirge
frei, um die verbleibenden Ezid*innen nach Rojava zu evakuieren.
Damit retteten sie 200.000 Menschen.

Etwa 7.000 Frauen und Mädchen wurden von DAIŞ im August 2014 beim Angriff auf ezidische und christliche Dörfer und Städte verschleppt. Sie wurden vielfach vergewaltigt, auf Sklav*innenmärkten verkauft, Jihadisten als Kriegsbeute über-lassen oder zwangsverheiratet. Für die Mitglieder des IS ist es halal, Frauen und sogar Kinder, die nicht ihrer Ideologie anhängen, zu vergewaltigen. Dies wurde in von Jihadisten eingenommenen Städten über Moscheelautsprecher verkündet. Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gegen Frauen ist ein bewusst eingesetztes Mittel der Kriegsführung, das zur absoluten, langfristigen Missachtung und Folter ihrer körperlichen und persönlichen Integrität dient. Die Vergewaltigung soll demon-strieren, dass männliche Familienmitglieder ihrem patriarchalen Schutzauftrag nicht nachkommen; hierbei wird die »Ehre« (namûs) der betreffenden Familien zerstört, eine vergewaltigte Frau gilt in den meisten Gesellschaften des Mittleren Ostens als Schande. So ist die Androhung von Vergewaltigung ein zielgerichtetes Mittel der Kriegsführung zum Zweck der Rache und Vertreibung.


SEPTEMBER 2014 BIS JANUAR 2015

Im Oktober 2014 kamen alle Suryoye-Parteien in Cizîrê zusammen und sie einigten sich auf eine enge Zusammenarbeit. Alle wollten von nun an die Sutoro
und den MFS (Militärrat der Suryoye) unterstützen, auch die Chaldäer*innen,
die zunächst unabhängige Sicherheitskräfte nicht befürworteten.

DAIŞ startet seine zweite Offensive gegen den Kanton Kobanê.

Die USA haben im September 2014 beim NATO-Gipfel in Newport die internationale Allianz gegen die Terrormiliz IS begründet. Gründungs-
mitglieder waren neben den Vereinigten Staaten auch Großbritannien,
Frankreich, Deutschland, Polen, Dänemark, Australien und die Türkei.

Frauen gegen den IS – Der Kampf der kurdischen Kriegerinnen
(Focus TV Reportage, Dec 2014)

Auf dem Höhepunkt der Verteidigung von Kobanî im September 2014 wurden die Fraueneinheiten in Kobanî zu einem Symbol für eine neue Rolle von Frauen im Mittleren Osten, für den Sieg über »das Böse«, die militärische patriarchale Gewalt, sowie die Lügen der NATO-Staaten und ihrer islamistischen Partner. Als sich die Situation in Kobanî Anfang Oktober 2014 wegen des Mangels an panzerbrechen-den Waffen zunehmend aussichtsloser zeigte, wurde Arîn Mirkan zum Symbol
der Kämpfe. Sie stoppte einen Panzer, indem sie sich mit Handgranaten selbst sprengte und damit den Panzer zerstörte.

Sehid Arîn Mirkan

Kurz nach dieser Aktion kam die Wende – Munition kam per Luftbrücke von der internationalen Allianz, eine Gruppe von Peşmerga konnte mit schweren Waffen nach Kobanî kommen. DAIŞ gelangte im November bis in die Stadt, doch die Bevölkerung leistete erbittert Widerstand. Am 1. November 2014 beteiligten sich weltweit Hunderttausende an Solidaritäts-aktionen mit Kobanî. Als im Dezember die ersten Bombardements der internatio-
nalen Koalition anfingen, wendete sich das Blatt. Am 27. Januar 2015 befreiten die YPG und YPJ das gesamte Stadtgebiet von Kobanê.
Die Rückeroberung der Dörfer begann.

Während des Krieges gegen DAIŞ floh fast die gesamte Bevölkerung. Nur Kämpfer*innen blieben und verteidigten die Stadt Kobanî. Ende 2015 waren
jedoch schon zwei Drittel der Bevölkerung in das zu 80% zerstörte Kobanî zurückgekehrt. Bei den Kämpfen in Kobanî waren die Verluste hoch, so fielen
den Kampfhandlungen im Monat Oktober 1.294 Jihadisten sowie 129 YPG/YPJ Kämpfer*innen zum Opfer. Nach Angaben des Pressezentrums der YPG fielen
im Jahr 2014 bei Gefechten insgesamt 537 Angehörige von YPG und YPJ,
während 4.964 Mitglieder der Jihadisten starben.

Das Widerstandsmuseum von Kobane
Lower Class Magazine, 01.11.2017


FEBRUAR 2015

2015 wurde die erste Ökologieakademie in Cizîrê gegründet.
In Anbetracht von Krieg und Embargo sind das wesentliche Schritte,
um ein ökologisches Bewusstsein in einer Gesellschaft zu verbreiten.

Anfang 2015 wurden in den bis dahin aufgebauten Kommunen in
Dörfern und Stadtteilen systematisch Selbstschutzeinheiten (HPC)
durch die Verteidigungskomitees aufgebaut. Zum Beispiel kamen alle
Mitglieder der Verteidigungskomittees von Qamişlo zusammen, wählten
eine Leitung und organisierten die militärische Ausbildung. YPG/YPJ, Asayîş,
Erka Xweparastinê und HPC bilden so ein systematisches Verteidigungsnetz.

Die kurdische Frauenbewegung organisiert sich ab Februar 2015 als
Kongreya Jinên Azad (Kongress Freier Frauen). Im Februar 2016 wurde
der Verband in Kongreya Star umbenannt, entsprechend der Umgestaltung
der kurdischen Frauenbewegung insgesamt.

YPG und YPJ starten die erste Großoffensive gegen den IS im Süden von Qamişlo. Die Gegenoffensive von DAIŞ scheitert.


JUNI 2015

Aufgrund der zu hunderten nach Rojava strömenden Internationalist*innen wird das „Internationale Freiheitsbataillon“ (IFB) innerhalb der YPG als Verband aller sich den Kämpfen anschließenden Internationalisten*innen gegründet.


MAI BIS JULI 2015

Nach dem erfolgreichen Widerstand in Kobanî gegen den IS wurde nicht nur Rojava befreit, sondern auch mehrheitlich arabisch besiedelte Gebiete, die zuvor von den YPJ/YPJ nicht kontrolliert wurden. Ab dem Sommer 2015 zeichnete
sich die Befreiung weiterer Gebiete von DAIŞ ab.

Pushing Back the Islamic State: The Battle for Rojava (english)
VICE News, July 28, Hasakah


The northeastern city of Hasakah is one of the most ethnically and culturally diverse in Syria. Its population of Kurds, Sunni Arabs, and Christians was until recently politically divided between equal zones of Kurdish and Assad regime control. Immediately following the fall of the strategic border town of Tal Abyad from Islamic State (IS) fighters to Kurdish YPG forces in June, however, IS hit back with a sudden shock offensive on the regime-held half of Hasakah, causing regime forces to crumble in a matter of days. As the Syrian army and loyalist militias relinquished control to IS, the YPG entered the battle, first encircling IS positions and then launching a ground offensive supported by pounding coalition airstrikes. Despite IS using their elite forces in the offensive, the combination of airstrikes and YPG ground troops proved too much and IS fled its recent gains in the city, leaving behind only ruined buildings and mangled bodies. For the first time, the YPG now finds itself in almost total control of Hasakah, with the regime squeezed into the central government district and IS cornered in the city’s southern outskirts. VICE News secured exclusive access to YPG fighters as they cleared southern Hasakah of Islamic State militants.

YPG und YPJ starten die Operation Şehîd Rûbar Qamişlo und befreien große Gebiete von dschihadistischer Besatzung. Am 15. Juni 2015 konnten die YPG/YPJ in einer gemeinsamen Operation mit dem Bündnis Burkan al-Firat die 15.000 Einwohner*innen Stadt Girê Spî, die seit 2012 von verschiedenen Jihadisten-gruppen, zuletzt vom IS, besetzt war, befreien und damit die Verbindung zwischen dem Kanton Cizîrê und dem bis dahin isolierten Kobanî herstellen. Besonders bedeutend war dieser Sieg, weil der IS damit seine direkte Verbindung zwischen Raqqa, der Hauptstadt seines selbstproklamierten Kalifats, und der Türkei verlor, die ihn bis dahin mit allem versorgt hatte. Die wichtigsten Grenzübergänge, die von DAIŞ genutzt wurden, um sich zwischen der Türkei und Syrien zu bewegen, wurden damit versperrt. Damit kontrollierten YPG und YPJ die gesamte türkisch-syrische Grenze zwischen Euphrat und Tigris und konnten somit die Kantone Kobanê und Cizîre verbinden.

Night Operation Against the Islamic State: The Battle for Rojava (english) VICE News, July 29 – 2015, Hasakah


VICE News followed a YPG detachment on a night operation, providing support from Hasakah’s Red Villas district to advancing Kurdish forces against IS fighters trying to defend the strategic al-Zuhor neighborhood, under waves of constant airstrikes from both the coalition and the Syrian regime’s air force.


OKTOBER 2015

Am 27. Oktober 2015 verabschiedete Kobanî eine Frauengesetzgebung,
die verbindlich für alle Menschen im Kanton ist und z.B. Kinderheirat verbietet.

Mit den zunehmenden Siegen der YPG/YPJ und mit ihnen verbündeten Kräften
u.a. in Kobanî, Girê Spî (Juni 2015), Şengal und Hol (November 2015) wurde die Unterstützung der arabischen Bevölkerung für die YPG/YPJ immer stärker. Anti-kurdische Ressentiments wurden über Bord geworfen. Die YPG/YPJ und die Demokratische Selbstverwaltung der Kantone überzeugten die lokale, inzwischen die Mehrheit bildende arabische Bevölkerung im Kanton Cizîrê damit, sie zu schützen und bei der Daseinsvorsorge (Wasser, Strom etc.) genauso wie Kurd*innen zu behandeln. Im Laufe des Jahres 2015 schlossen sich erstmals in nennenswerter Zahl Araber*innen den YPG/YPJ-Kräften an. Um dieser neuen Lage gerecht zu werden, wurden im Oktober 2015 die Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) gegründet, ein Militärbündnis von YPG/YPJ sowie mehren arabischen, christlichen, turkmenischen, assyrischen und ezidischen Milizen gegründet. Die QSD sind offizieller Bestandteil der internationalen Anti-IS Koalition und die einzige Kraft, die am Boden gegen Daesh kämpft. Sie sind der Autonomieverwaltung von Nord- und Ost-Syrien unterstellt.

Fahne der QSD


NOVEMBER 2015

Im südlichen Hesekê konnten die SDF innerhalb weniger Tage Mitte November
ein Gebiet von 1.362 km² befreien, u.a. die Städte Xatuniye und Hol als auch
196 größere und kleinere Dörfer.

Am Morgen des 12. November 2015 begann eine großangelegte militärische Operation zur Befreiung Şengals vom IS. An der Operation waren neben den Widerstandseinheiten Şengals ()und Einheiten der ezidischen Frauen (YJÊ) auch Kämpfer*innen der HPG/YJA-Star (Volksverteidigungskräfte der PKK) und der YPG/YPJ, sowie Peşmerga-Einheiten beteiligt. Bei der Befreiung wurden zahl-reiche Massengräber entdeckt. An der Befreiung von Şengal sollen insgesamt 7.500 Kämpfer*innen beteiligt gewesen sein. In den folgenden Tagen bean-spruchten die Peşmerga unter Barzanî jedoch den Erfolg für sich und leugneten erneut die Beteiligung PKK-naher Kräfte, dabei waren bis zu dem Zeitpunkt schon 170 Kämpfer*innen der PKK und YPG/YPJ im Şengal gefallen. Ein weiteres Problem war, dass die amerikanischen Luftschläge allein mit den Peşmerga abgestimmt wurden. Für den IS war die Einnahme von Şengal ebenso wie der Verlust von Girê Spî eine strategische Niederlage.

Ende 2015 und Anfang 2016 konnten die Syrisch Demokratischen Kräfte
(SDF) die gesamte Region Hesekê von DAIŞ befreien.

Die zunehmende Schwäche in Irak und Syrien versuchte der IS durch blutige Anschläge in anderen Teilen der Welt, so in Paris im November 2015, zu kompensieren. Der IS hat den Großteil seines Territoriums in Syrien
verloren, was einzig den YPG/YPJ und SDF zu verdanken ist.


DEZEMBER 2015

Komplementär zu dem militärischen Dachbündnis SDF wurde am 10. Dezember
das politische Dachbündnis des Demokratischen Rates Syriens (MSD) gegründet.

Am 26. Dezember 2015 überschritten die SDF den Euphrat und befreiten die Stadt Tishrîn inklusive des dazugehörigen Staudammes und Elektrizitätswerks circa 70 km südwestlich von Kobanî aus den Fängen des IS. Die SDF überqueren den Euphrat westwärts.

Chronologie des Krieges in Nord- und Ost-Syrien und der Revolution in Rojava (2013)


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


JANUAR 2013

Am 8. Januar 2013 wurde der MFS (Militärrat der Suryoye) gegründet. Er ist von Anfang an Teil der SDF und operiert überwiegend in den von Suryoye bevölkerten Gegenden. Im Jahr 2013 entstanden auch die ersten Wirtschaftskooperativen in Rojava. Ein Jahr später nahm deren Zahl sprunghaft zu.


FEBRUAR 2013

Am 23. Februar wurden die Frauenselbstverteidigungseinheiten YPJ gegründet.

YPJ (Symbolbild)


FRÜHLING 2013

Rojava ist Ziel verschiedener islamischer Gruppen geworden, deren Angriffe die YPG/YPJ nur mühselig abwehren können. Während generell zwischen DAIŞ,
al-Nusra und FSA im Jahr 2013 ein Konkurrenzverhältnis zu herrschen schien, war ihre gemeinsame Politik gegen Rojava gerichtet.

Die seit 2011 in den, mehrheitlich von Kurd*innen bewohnten, nördlichen Stadtteilen von Aleppo aufgebauten räte- und basisdemokratischen Strukturen, wurden nach bewaffneten Angriffen des syrischen Staates und der Freien Syrischen Armee (FSA) 2013 in großem Maße zurückgedrängt. Im März beschlossen die Räte-strukturen zum ersten Mal seit Jahrzehnten, Newroz nicht groß zu feiern, denn alle Menschenansammlungen wurden vom Staat bombardiert. Sowohl der Staat als auch die FSA gingen zu größeren Angriffen über, um die Schlacht von Aleppo für sich zu entscheiden. Das neutrale Verhalten der Kurd*innen und YPG/YPJ störte beide Kräfte. Die Rätestrukturen wollten sich jedoch von beiden Seiten nicht instrumentalisieren lassen und widersetzten sich. Nach den Angriffen auf die Kommune von Aleppo mussten im April schließlich ein Großteil der Bevölkerung nach Efrîn evakuiert werden.

Im Kanton Cizîrê überrannten Islamisten der al-Nusra-Front im März 2013 die Stadt Til Koçer und die umliegenden Dörfer. Sie besetzten die Stadt mit der wichtigen Grenzstation zum Irak und vertrieben die überwiegend arabische Bevölkerung. Die Menschen flohen in die kurdischen Städte Dêrîk, Qamişlo und Rimelan. Die örtliche Bevölkerung in den Städten des Kantons Cizîrê brachte die Geflüchteten in Schulen, Moscheen, Kirchen oder den Volkshäusern der neu aufgebauten Basisorganisationen der kurdischen Bewegung TEV-DEM unter. Til Koçer und die umliegenden Dörfer wurden zum Zentrum der islamistischen Banden, es kam zu grausamen Exzessen. Leichen mit abgeschnittenen Köpfen tauchten regelmäßig in Internetvideos auf.

Von Januar bis Juni 2013 war Serêkaniyê von Islamisten der al-Nusra-Front besetzt. In diesen Monaten erfolgten heftige Auseinandersetzungen, die von einem Waffenstillstand abgelöst wurden. 35 YPG/YPJ Kämpfer*innen kamen ums Leben. Nach fünf solchen Phasen von Waffenstillstand und offenem Krieg waren die YPG/YPJ schließlich so stark geworden, dass sie zusammen mit der bewaffneten Bevölkerung im Juni 2013 al-Nusra sowie mit ihnen verbündete Banden aus den Reihen der FSA aus der Stadt jagen konnten.

Nach monatelangen Protesten in Nord-Kurdistan – insbesondere in Nisebîn (Nusaybin) – konnten ab Frühjahr 2013 über die offiziellen türkisch-syrischen Grenzübergänge in regelmäßigen Abständen Medizin eingeführt werden.


JULI UND AUGUST 2013

Erdoğans neo-osmanisches Projekt war primär an die von Qatar unterstützte Muslimbruderschaft gebunden. Anfang Juli wurde der ägyptischen Staats-präsident Mursi durch einen Militärputsch von der Macht vertrieben. Dies schwächte die Position der Muslimbruderschaft und der Türkei im Mittleren Osten im Allgemeinen.

Am 23. Juli 2013 genehmigte der US-Kongress Waffenlieferungen an die FSA.

Im Sommer 2013, dem ersten Jahrestag der Revolution, begann der Krieg. Unterstützt von der Türkei griffen die al-Nusra-Front, al-Qaida und Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) zunächst Serêkaniyê, in der Folge aber auch andere Orte in Afrîn, Kobanî und Hesekê an. Die Dschihadisten nahmen den südlichen Teil der Provinz al Hasaka und Serêkaniyê ein.
In der Region Hesekê wurde im Sommer 2013 eine große Anzahl armenischer Frauen vom IS entführt, vergewaltigt und ermordet. In dieser Region haben Kurd*innen, Araber*innen, Christ*innen, Drus*innen, Sunnit*innen und Alawit*innen friedlich miteinander gelebt. Die radikalislamischen Gruppen griffen zugleich auch dieses friedliche Zusammenleben an. Unter der islamistischen Besatzung litten besonders die Suryoye. Geschäftsleute, Nonnen, Bischöfe und bekannte Persön-lichkeiten wurden gekidnappt und ermordet, daraufhin setzte eine Massenflucht in Richtung Türkei und Europa ein. Die verbliebenen Suryoye schlossen sich größtenteils der TEV-DEM an.

Zwischen dem 31. Juli und dem 1. August 2013 verübten Mitglieder der FSA und al-Nusra zusammen mit der kurdischen Azadî-Brigade, die zur im Kurdischen Nationalrat vertretenen Azadî-Partei gehört, ein Massaker an der Bevölkerung der Dörfer Til Hasil und Til Haran bei Aleppo. Legitimiert wurde der Anschlag Berichten von Augenzeugen zufolge dadurch, dass die Opfer der linken, kurdischen PYD („Partei der demokratischen Union“) naheständen. Die Dschihadisten umstellten Til Hasil und Til Haran, niemand konnte den Ort verlassen. Sie haben Frauen entführt, gefoltert und vergewaltigt, Häuser geplündert, sogar die Kinder getötet. Selbst auf fliehende Zivilist*innen eröffneten Scharfschützen das Feuer. Diesem Massaker fielen etwa 70 Personen zum Opfer, Hunderte wurden entführt.

Nachdem die starken Angriffe von islamistischen und anderen bewaffneten oppositionellen Gruppen, aber auch von Teilen der FSA, auf Afrîn im Sommer und Herbst 2013 abgewehrt wurden, und DAIŞ alle nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen Ende 2013 in einem großen Gebiet nördlich von Aleppo zurückgedrängt hatte, änderte sich einiges in der Konstellation dieser Region. Die Rätestrukturen in Afrîn und die Verteidigung hatten weiter an Stärke und Stabilität gewonnen.

Im August 2013 begann der Siegeszug des IS im Irak und in Syrien.


OKTOBER 2013

Ende Oktober fiel Til Koçer (Serêkaniyê) in die Hände der YPG/YPJ. Die Islamisten hatten die Zugänge zur Stadt Til Koçer vermint, aber die YPG- und YPJ-Einheiten rückten in der Dunkelheit vor und entschärften die Minen. Bewohner*innen der Region führten die vorstoßenden Truppen in die Gegend. Mitglieder der arabischen Şammar kämpften Seite an Seite mit den Volks- und Frauenverteidigungs-einheiten. Insgesamt dauerte die Befreiungsaktion zehn Tage. Die Banden flohen und ließen einige Panzer, schwere Artillerie, Autos und anderes Kriegsmaterial zurück. Mit der Befreiung von Til Koçer gewannen die YPG und YPJ die Herzen der Bewohner*innen, viele schlossen sich ihnen an. Alle erklärten, ihr Land verteidigen zu wollen, egal ob Kurd*innen, Araber*innen, Suryoye oder Ezid*innen.


NOVEMBER 2013

Til Xelef (Serêkaniyê) wurde im November durch die YPG/YPJ von dschihadistischer Besatzung befreit.

Rojava erhielt 2013 in keiner Weise internationale politische oder
anderweitige Unterstützung.

Chronologie des Krieges in Nord- und Ost-Syrien und der Revolution in Rojava (2012)


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


FRÜHJAHR 2012

Im Frühjahr nahm die Angst in den kurdischen Stadtteilen Aleppos vor Angriffen anderer Kräfte zu. Manchmal schossen Soldaten des Baath-Regimes oder die FSA ohne Vorwarnung wahllos in die Stadtteile hinein und es kam zu Toten und Verletzten.

So begannen die Menschen, mittels der Rätestrukturen einen Teil der Jugendlichen zu bewaffnen. Im Jahr 2012 kehrten viele Aktivist*innen aus Rojava, die zuvor in der PKK oder der PAJK aktiv gewesen waren, zurück und unterstützten den Aufbau der Volksverteidigungseinheiten YPG.


JUNI 2012

Das Ökonomiekomitee der Frauenbewegung Kongreya Star versammelte sich erstmals im Juni 2012 in Qamişlo. Infolge eines Beschlusses dieser Versammlung wurden in allen Städten Frauenwirtschaftskomitees aufgebaut, welche die Gründung von Frauenkooperativen unterstützen und daran mitwirken. Somit wird Frauen in Rojava die Möglichkeit eröffnet, sich aus oftmals patriarchal-feudal geprägten Familienstrukturen heraus wirtschaftlich mehr Selbstbestimmung einzuräumen.


JULI 2012

Mit der großen Angriffswelle der FSA und anderer oppositioneller bewaffneter Kräfte im Juli 2012 änderte sich die Lage fast schlagartig. Parallel zum Angriff auf Damaskus wurde nun auch Aleppo zur Zielscheibe. Die Rebellen der FSA drangen aus den umliegenden ländlichen Gebieten in mehrere (meist sunnitisch-arabische) Stadtteile ein und begannen, diese zu kontrollieren. In den kommenden Tagen wurden an allen Einfahrten zu Aşrafiye, Şêx Maqsud, Midan und Haydariye Straßensperren aufgestellt, die von bewaffneten YPG Kämpfer*innen bewacht wurden. Diese konnten nun das unkontrollierte Eindringen sowohl der Kräfte der FSA als auch des Regimes verhindern. Die Zahl der YPG-Einheiten stieg in wenigen Wochen von wenigen Hundert auf eine vierstellige Zahl.

Der Prozess der radikalen Demokratisierung Rojavas, also die Übergabe der Souveränität an die Bevölkerung, beginnt am 19. Juli 2012, als der Volksaufstand in Kobanî losbricht. Als am 18. Juli 2012 die FSA und andere syrische bewaffnete Organisationen Damaskus und Aleppo angriffen, griff erstere auch den Ort Şexler im Westen Kobanîs an. Innerhalb von wenigen Stunden trafen die TEV-DEM und YPG die Entscheidung, insbesondere Kobanî und Afrîn, aber auch andere Städte in Rojava vom Assad-Regime zu befreien.

In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli brachten die Volksverteidigungskräfte der YPG die Zufahrtsstraßen von Kobanî unter ihre Kontrolle. Die Bevölkerung begann zeitgleich alle staatlichen Institutionen der Stadt einzunehmen und zu belagern. Schließlich versammelte sich die Bevölkerung vor dem Militärstützpunkt der Assad-Armee in Kobanî. Eine Delegation aus der Bevölkerung verhandelte mit den Militärs. Sie sollten ihre Waffen abgeben und man werde für ihre Sicherheit garantieren, war das Angebot der kurdischen Seite. Angesichts der Ausweglosigkeit gegenüber den Volksmassen willigten die Soldaten ein. Die TEV-DEM wurde dadurch die politisch bestimmende Kraft in den befreiten Orten. Nun musste sie mit ihren diversen Strukturen die Grundversorgung sicherstellen, ein mögliches Chaos abwenden und anschließend für die gesellschaftlichen Fragen Lösungen entwickeln. Die Bevölkerung beginnt mit dem Aufbau von multiidentitären Räten, Gerichten, Sicherheitskräften, Militäreinheiten, Frauenorganisationen und einer kooperativen Ökonomie. Von Kobanî aus weitete sich die Revolution in den darauffolgenden Tagen auf weitere Städte Westkurdistans aus.

Nach der im Juli 2012 begonnenen Revolution in Rojava wurden die befreiten Gebiete vom türkischen Staat, den islamistischen Terrorgruppen wie IS und al-Nusra und auch der südkurdischen Regionalregierung mit einem systematischen Embargo belegt. Dies wirkt sich auf die medizinische Versorgung von vielen Hundertausenden Menschen innerhalb Rojavas dramatisch aus.


19. AUGUST 2012

In Aleppo gab es Verhandlungen mit der FSA, in deren Folge sie sich von Şêx Maqsud nach Aşrafiye zurückziehen sollten. Beim Ramadan-Fest am 19. August demonstrierten über 3.000 Menschen für diese Forderung. Doch die FSA schoss von Gebäuden auf die Bevölkerung. Daraufhin griff die YPG ein; es kam zu stundenlangen Kämpfen. Bei diesem Massaker wurden 13 Zivilist*innen getötet. Auch mehrere FSA-Kämpfer starben. Dieser Tag stellte eine Zäsur dar, um sich fortan besser politisch und militärisch zu organisieren.


SOMMER UND HERBST 2012

Weitere kurdische Orte folgen den Beispiel von Kobanê, darunter Amûdê, Derbesiye, Serêkaniyê, Tirbespiyê, Girkê Legê, Dêrik und Efrîn. In Aleppo übernehmen die YPG die Kontrolle über zwei kurdische Stadtteile. Die PYD („Partei der demokratischen Union“) und die Zivilgesellschaft beginnen mit dem Aufbau provisorischer Volksräte zur Verwaltung der befreiten Gebiete. Die Prinzipien des demokratischen Konföderalismus werden eingeführt.


NOVEMBER 2012

Im November 2012 überschritten etwa 3.000 schwerbewaffnete Kämpfer von Al-Qaida, der al-Nusra-Front des „IS“ (DAIŞ) und der FSA die türkische Grenze nach Serêkaniyê und besetzten nach viertägigen Kämpfen die Stadt – zu einer Zeit, in der die deutsche Bundeswehr in Nordkurdistan auf Syrien gerichtete Patriot-Raketen stationiert hat. Ziel der Angriffe auf die Stadt war es, nach Qamişlo vorzudringen und so die Selbstverwaltung des Kantons Cizîrê zu Fall zu bringen.
Zu diesem Zeitpunkt waren nur 39 Kämpfer*innen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG in Serêkaniyê. Die YPG entschieden sich zunächst, Zurückhaltung zu üben, da sie nicht auf der Seite des Regimes im Kampf gegen die FSA gesehen werden wollten. Der syrische Staat zog sich jedoch zurück. Große Teile der Bevölkerung waren geflohen. Über den Rest errichtete die al-Nusra-Front eine Terrorherrschaft nach islamistischer Auslegung der Sharia-Gesetze. Vermeintliche und reale Anhänger*innen des Regimes wurden öffentlich hingerichtet, die Bevölkerung wurde drangsaliert und misshandelt. Es kam zu Massakern und Verwüstungen. An vielen Wänden stand, teilweise in Blut, geschrieben: »Wir sind gekommen, um zu schlachten.« Nur das östlichste Viertel von Serêkaniyê, Sinah, leistete weiter entschlossen Widerstand. Am 18. November kam es zu einem Angriff von al-Nusra auf einen Kontrollpunkt der YPG, wobei die al-Nusra-Anhänger eine Fahne des Kurdischen Hohen Rates verbrannten. Daraufhin sollte es zu Gesprächen kommen, aber der Vertreter des Volksrates, Hevalê Abid, wurde bei diesem Treffen von Jihadisten ermordet. Daraufhin erklärten die YPG den Krieg gegen al-Nusra.

Chronologie des Krieges in Nord- und Ost-Syrien und der Revolution in Rojava (2011)


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


DER ARABISCHE FRÜHLING UND SYRIEN

Die Revolution in Rojava ist nicht ohne den Kontext des syrischen Aufstands von 2011 zu erklären. Anfang 2011 begannen Aufstände in zahlreichen Ländern Nord-afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens. Die Ereignisse und Entwicklungen in der Region wurden unter der Bezeichnung »Arabischer Frühling« bekannt. Vor allem die Ereignisse in Tunesien und Ägypten können als Volksaufstände gegen
die Diktaturen im eigenen Land bezeichnet werden. Sie öffneten auch die Türen
für ähnliche Entwicklungen in den anderen Ländern der Region. Dort setzte sich
die Opposition, auf die innere Dynamik bauend, für einen demokratischen Wandel
ein, was wiederum für die umliegenden Länder zur Inspirationsquelle wurde.

In Syrien begannen die Auseinandersetzungen, als die syrische Polizei in Dara‘ā zwei Jugendliche, die Parolen gesprüht haben sollen, inhaftierte und misshandelte. Angaben zufolge wurde einer dieser Jugendlichen in Gewahrsam zu Tode gefoltert. Es kam zu Protesten und Demonstrationen, denen sich große Teile der Bevölker-ung anschlossen. Die Forderungen gingen über die Freilassung der beiden Jugendlichen hinaus. Es wurden ein Ende der Korruption, soziale Veränderungen und politische Reformen gefordert. Polizei und Geheimdienst griffen die Demonstrationen mit Waffengewalt an. Sie eröffneten das Feuer, woraufhin mehrere Demonstrant*innen starben. Die Beerdigung der Getöteten am nächsten Tag ließ eine noch größere Demonstration folgen.

Demonstrant*innen in Daraa, März 2011, Tage nach der Inhaftierung von Bashir Abazad

Diese Proteste weiteten sich über das ganze Land aus. Das Regime bemühte sich darum, zu beschwichtigen, aber die Demonstrationswelle ließ sich nicht mehr aufhalten. Die Kritik am Vorgehen in Dara‘ā fand auf allen Ebenen statt, sie kam sogar aus der regierenden Baath-Partei selbst. Der Sicherheitsapparat ließ die Situation aber weiter eskalieren und unterließ es selbst entgegen anders lautenden Befehlen nicht, auf die Demonstrant*innen zu schießen. Dieses Vorgehen trieb die Bevölkerung in einen militärischen Konflikt.


MÄRZ 2011

In Westkurdistan, das zu dieser Zeit noch vom syrischen Staat kontrolliert wurde, fanden in Kobanê und Afrin die ersten Demonstrationen gegen das Regime statt. Besonders am 12. März, in Gedenken an die Unruhen in Qamischli von 2004, bei denen das Regime mindestens 30 Menschen ermor-dete, 160 Weitere verletzte und hunderte Menschen, überwiegend Kurd*innen, verhaften ließ, gingen die Menschen auf die Straßen. Ebenso am 21. März (Newroz, wichtigster kurdischer Feiertag) demonstrierten viele Menschen in Westkurdistan gegen die Regierung. Die PKK hatte, als die Revolution in Syrien begann, schon 30 Jahre lang Organi-sierungsarbeit geleistet. Schon vor den Aufständen in Syrien gab es in den kurdi-schen Gebieten erste Räte und Komitees. Außerdem wurde damit begonnen, eine radikaldemokratische Organisierung zunächst der gesamten kurdischen Bevölker-ung von Rojava voranzutreiben. Im Aufstand gegen das Regime von 2011 zeigt sich deutlich die Stärke der Organisierung der Bevölkerung und es wird sichtbar, dass die Bevölkerungsmehrheit bereit ist, das Assad-Regime zu vertreiben.

Am 15. März wurde schließlich die Revolution in Rojava ausgerufen. Dann hat die PYD („Partei der demokratischen Union“) den Volksrat (MGRK) aufgebaut. In ganz Rojava wurden Wahlen durchgeführt und 300 Personen in den Volksrat gewählt, um die Politik von Rojava zu gestalten. Mit dem Beginn des syrischen Aufstandes im März 2011 entschied sich die PYD, in Rojava und Syrien systematisch Räte-strukturen und in den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft Massenorgani-sationen aufzubauen. Ab 2011 gelang es binnen weniger Monate, in allen Gebieten Rojavas und in Aleppo eine relativ gut funktionierende Selbstverwaltungs-struktur zu errichten. Die Rätestrukturen bildeten sich als eine Parallelstruktur zum Staat heraus, der diese zunächst gewähren ließ.


JULI UND AUGUST 2011

Die Freie Syrische Armee (FSA) gab ihre Gründung am 29. Juli 2011 bekannt und wurde zu einem rasant wachsenden Bündnis verschiedenster Kräfte. Die FSA proklamierte kein anderes Projekt als den Sturz von Assad.

Im Juli wurde die Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) ins Leben gerufen. Wenig später im August 2011 kamen insgesamt 300 Delegierte aus allen Gebieten Rojavas und den organisierten Teilen Syriens zusammen, um den Volksrat Westkurdistans (MGRK) zu gründen. Es wurde ein System von mehreren Ebenen, also Kommunen, Volksräten und Kommissionen mit diversen Verbin-dungen untereinander geschaffen, was als eine Kombination von Basis- und Rätedemokratie betrachtet werden konnte.

Im Sommer und Herbst 2011 schwächte sich langsam die Position des syrischen Staates in Rojava. Doch die staatliche Verwaltung organisierte immer noch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die öffentliche Daseinsvorsorge. Diesen schrittweisen Bedeutungsverlust füllte sukzessiv die TEV-DEM aus. So übernah-men die Komitees immer mehr Aufgaben in den Straßenzügen, Stadtteilen und Dörfern. Sie entwickelten sich langsam zu einer Alternative zum Staat und die Bevölkerung wandte sich zunehmend an die Räte zur Problem- und Konfliktlösung. Dies geschah zunächst vor allem in Fragen von Rechtsprechung und Sicherheit.


HERBST 2011

In Qamischli fanden größere Demonstrationen im Nachgang der Ermordung des kurdischen Politikers Maschaal Tammo (Zukunftsbewegung Syriens) statt.

Shooting claims at Syrian opposition funeral (english) euronews, Oct 8 – 2011


Syrian activists say mourners at the funeral of a murdered opposition leader came under fire in Qamishli in the north east of the country. The Syrian Observatory for Human Rights, which is based in the UK, said 50,000 people had turned out to bury Mashaal al-Tammo, a charismatic Kurdish opposition leader who was a critic of President Assad and his Kurdish rivals.

In der zweiten Hälfte des Jahres 2011 begannen sich die Gegner des Assad-Regimes verstärkt zu bewaffnen und gegen die regulären Streitkräfte zu kämpfen. Ehemalige Soldaten gründeten die besonders von der sunnitischen Mehrheit Syriens getragene Freie Syrische Armee (FSA), die sich als bewaffneter Arm der syrischen Opposition sieht. Die FSA stand von Beginn an unter starkem Einfluss westlicher und türkischer Geheimdienste und versuchte, die Dominanz über die Verteidigungskomitees in den verschiedenen syrischen Städten zu erlangen. Der Iran, die libanesische Hizbullah und Russland unterstützten gleich von Anfang das Baath-Regime. Damit wurde Syrien zu einem Austragungsort des Hegemonial-konflikts zwischen den NATO-Staaten mit ihren sunnitischen Verbündeten auf der einen Seite und Russland, China, Iran und Syrien mit ihren schiitischen Verbündeten auf der anderen Seite.

Durch die Zuspitzung der Auseinandersetzung hin zu einem Bürgerkrieg und massiven Massakern durch die syrische Regierung bekam die FSA immer stärkeren Zulauf. Nachdem sich ihr im September 2011 die Bewegung
Freier Offiziere angeschlossen hatte, war die FSA zur größten bewaffneten
Oppositionsbewegung geworden. Sie rekrutierte sich vor allem aus ehemaligen Militärs, aber auch aus Kämpfern aus der Türkei, Arabien, dem Maghreb und vielen anderen Regionen. Die Muslimbrüder gelten als am besten organisierte Kraft in den Reihen der FSA. Die syrische Muslimbruderschaft steht besonders stark in der Tradition des militanten Islamismus. Immer wieder war die FSA mit Angriffen seitens der syrischen Regierung niedergeschlagen worden und immer wieder ging sie als Reaktion darauf mit Massakern und Terrorakten vor.

Auch aufgrund dieser Entwicklungen gündeten einige hundert kurdische und arabische Jugendliche über ganz Rojava verteilt die „Volks-Selbstverteidigungs-Einheiten“ YXG (Yekîtiya Xweparastina Gel, Anfang 2012 Umbenennung in YPG („Volks-Verteidigungs-Einheiten“)).

YPG (Symbolbild)

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Dreimonatsbilanz der Besatzung von Girê Spî


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 30.Januar 2020

Die Nachrichtenagentur ANHA veröffentlichte eine Dreimonatsbilanz der Besatzung von Girê Spî durch die türkische Armee und Söldner der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA). Aufgrund der am 9. Oktober 2019 einsetzenden Invasion sind mindestens 300.000 Menschen in Nord- und Ostsyrien in die Flucht getrieben worden. Berichte aus der Region zeugen von alltäglichen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Dschihadisten in besetzen Gebieten in Rojava


Vertreibung und „ethnische Säuberung“

Das türkische Regime hat tausende Menschen aus Girê Spî vertrieben und verfolgt das Ziel, die Bevölkerungsstruktur nachhaltig zu verändern. Anstelle der Vertrie-benen wurden Dschihadisten und ihre Familien angesiedelt. Der türkische Staat bezeichnet diese Dschihadisten immer wieder als die ursprünglichen Besitzer der Stadt. Es handelt sich jedoch um Personen aus Azaz, Cerablus, al-Bab und Idlib. Laut ANHA wurden alleine in den Vierteln Leyl und Djawish 180 Familien von Dschihadisten angesiedelt. Außerdem wurden etwa 500 aus dem Gewahrsam der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in die Türkei entflohene IS-Dschihadisten durch den türkischen Staat als SNA-Söldner in Girê Spî eingesetzt. Nach der Bombardierung des Camps Ain Issa durch die türkische Luftwaffe entkommene
IS-Frauen wurden in den Orten Ain Erus, Leyl, Ermen und Cisir angesiedelt.

Türkisierung der Stadt

Die Besatzungstruppen richteten sich zunächst gegen die historischen Strukturen und die wichtigen Institutionen der Stadt. So wurde an allen Schulen Türkisch als verpflichtende Unterrichtssprache eingeführt und muttersprachlicher Unterricht verboten. Straßen, Plätze, Schulen, Krankenhäuser und Dienstleistungs-einrichtungen wurden systematisch nach Dschihadisten oder auch mit militaristischen türkischen Namen umbenannt und vielerorts türkische
Fahnen gehisst. Darüber hinaus wurden türkische Ausweise verteilt,
während Personen mit syrischen Ausweisen festgenommen werden.

Hungersnot in der Stadt

In der Stadt herrscht Hunger und es kommt immer wieder zu Protesten gegen die sich kontinuierlich verschlechternde wirtschaftliche Lage. Die Lebensbedingungen sind katastrophal. Die Versorgung mit Strom und Brennstoff ist nicht gegeben. Insbesondere das Fehlen von Trinkwasser und Brot macht das Leben schwer. Die Menschen müssen Stunden anstehen, um Brot zu erhalten. Die Silos und Lager-stätten der Dorfbevölkerung wurden von den SNA-Söldnern geplündert. So wurden aus dem Lager Dihêz 50.000 Tonnen Getreide gestohlen. Das Qizelî-Depot ist durch die Angriffe unbenutzbar. Diese Politik wird vom türkischen Staat bewusst umgesetzt, um die Menschen in Flucht zu zwingen.

Entführungen und extralegale Hinrichtungen

Immer wieder kommt es zu Entführungen im Zusammenhang mit Lösegeld-erpressungen, aber auch zu extralegalen Hinrichtungen.

So wurden die Söhne des ehemaligen Leiters des Ain-Issa-Camps, Heyen Ayaf (16) und Abdulrahman Ayaf (18), entführt. Die Dschihadisten verlangten ein hohes Lösegeld. Die jungen Männer sind bis heute verschwunden.
Aus dem arabischen Stamm der Abu Asaf wurden zehn Zivilisten verschleppt, aus dem Dorf Dadat Dutzende mehrheitlich turkmenische Jugendliche.
Ein Zivilist, der bei Sukeriye Hilfsgüter an Dorfbewohner verteilte, wurde verschleppt. In Zeydî, etwa 30 Kilometer entfernt von der Gemeinde Silûk, stürmten SNA-Söldner fünf Wohnungen und entführten 20 Personen, die meisten davon Minderjährige. Die anderen arabischen Familien aus dem Dorf wurden vertrieben. Auch im Dorf Ain Erus wurden Häuser gestürmt und eine unbekannte Zahl von Jugendlichen verschleppt. Die SNA-Dschihadisten plündern Läden und ermorden Zivilist*innen. In Erîda wurden Mahmud Zahir (60) und Berho Elo (65) aus bisher unbekanntem Grund getötet. Ein weiteres Beispiel ist der Taxi-Fahrer Ammar Haci, der entführt und von den Dschihadisten grausam ermordet wurde.

Folter und Haft für Kinder und Jugendliche

Aus dem Dorf Celkê wurde Mihemed Bozan Seyid entführt. Er wurde tagelang von den SNA-Milizionären gefoltert. Anschließend sind vier weitere Kinder im Alter von 13 bis 15 Jahren entführt worden. Obwohl das Dorf umstellt war, konnten die übrigen Familien sichere Gebiete bei Ain Issa erreichen. Von den Kindern gibt es keine Nachricht. Nach Angaben lokaler Quellen befinden sich in den Dörfern bei Girê Spî Gefängnisse, in denen Kinder und Jugendliche gefoltert werden.

Frauen zur Verschleierung gezwungen

Mit der Rückkehr der IS-Dschihadisten hat auch die Gewalt gegen Frauen zugenommen. Frauen werden wieder gezwungen, sich zu verschleiern. So kam es beispielsweise im Cisir-Viertel zu einem sexualisierten Angriff durch SNA-Milizionäre. Auf protestierende Anwohner*innen wurde das Feuer eröffnet. Aus dem Dorf Hiwecaye wurden drei Frauen entführt. Yara Ahmed aus der Gemeinde Ain Erus wurde entführt und gefoltert.

Fadiya Şerîf Xelîl aus der Leitung eines Camps für Binnenflüchtlinge aus Girê Spî berichtet ebenfalls, dass sich die Situation für Frauen in den besetzten Gebieten massiv verschlechtert habe. Frauen, die noch in den besetzten Gebieten leben, seien systematischer Gewalt ausgesetzt und keine Menschenrechtsorganisation helfe ihnen.

ANF, Serêkaniyê: Sexualisierte Gewalt durch Besatzungstruppen, 29.01.20

Aufstände unter der Parole „Besatzer raus“

Nach brutalen Angriffen des türkischen Staates haben insbesondere auch arabische Stämme die Region verlassen. Verbliebene Mitglieder des Begare-Stammes waren Angriffen der SNA-Milizionäre ausgesetzt. Nach mehreren Morden haben auch dessen Angehörige die Region verlassen. Dennoch taucht den Wänden der Stadt die Parole „Tod Erdoğan“ und „Besatzer raus“ auf. In Silûk, Ain Erus, Ali Baciliye und im Zentrum von Girê Spî fanden trotz der oft tödlichen Repression Protestaktionen statt. Fawad Ali aus Girê Spî erklärt: „Die arabischen Stämme lehnen die türkische Besatzung ab. Niemand darf gegenüber den Verbrechen des türkischen Staats schweigen. Durch die Entschlossenheit der Völker und ihren Aufstand werden die Besatzer besiegt werden. Die Stämme in Girê Spî müssen ihren Protest gegen die Türkei aufrechterhalten.“

Milizionäre werden nach Libyen geschickt

Ein Teil der SNA-Söldner wird von der Türkei zur Unterstützung des dortigen Muslimbruderregimes nach Libyen geschickt. Nach Angaben aus der Region wurden fast 1.000 Söldner von Girê Spî nach Libyen verlegt. Den islamistischen Truppen wird dafür ein Sold von 2.000 Dollar monatlich versprochen.

Jahresbilanz der YPJ 2019


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 01.01.2020, Jahresrückblick:
Die Rolle der YPJ im Widerstand von Rojava

Die Journalistin Avrîn Masûm vom kurdischen Fernsehkanal Ronahî TV sprach mit Kurdistan Waşokanî, der YPJ-Kommandantin der Euphrat-Region, über die Entwicklungen im Jahr 2019, die Ziele der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien sowie die Pläne der Frauenverteidigungseinheiten YPJ für 2020.

Was waren die wichtigsten Entwicklungen
im vergangenen Jahr in Nord- und Ostsyrien?

Vom Winter 2018 bis zum Frühjahr 2019 haben die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), darunter die YPG und die YPJ sowie alle regionalen Kräfte, am großen Widerstand in der Wüstenregion Deir ez-Zor teilgenommen. Im Frühjahr wurde Daesh („Islamischer Staat“) in der Region al-Bagouz besiegt. Deshalb brachte die Feier des Newroz-Tages die schönste Botschaft an die kurdische Bevölkerung, den Sieg der Freiheitskämpfer*innen. Die Niederlage von Daesh zwang ihre Förderer wie den türkischen Staat, Katar und die imperialistischen Kräfte, neue Pläne zu entwickeln, um Daesh zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen. Der türkische Staat wurde zum Repräsentanten von Daesh, indem er drohte, Rojava und die Regionen Nord- und Ostsyriens anzugreifen. Mit diesen Drohungen sollte Angst in den Herzen der Menschen geschürt sowie die Stabilität und Freundschaft, die sich in dieser Region zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, zerstört werden. Daesh hat durch brutale Enthauptungen Angst verbreitet, der türkische Staat tat dies mit seinen Drohungen und Angriffen.

Mit der Feier von Newroz trafen wir uns als Verteidigungskräfte mit der Bevölkerung in der ganzen Euphrat-Region, um ein neues Leben mit zivilen und militärischen Volksräten aufzubauen. Auf diese Weise wollten wir als militärische Kraft unsere Bevölkerung mobilisieren, sich dem Widerstand anzuschließen und unseren Erfolg gegen Daesh zu sichern. Auf dieser Grundlage begannen wir in allen Bezirken der Euphrat-Region Räte aufzubauen, wie in Tabqa, Raqqa, Minbic, Kobanê und Girê Spî. Unser Ziel war es, die Gesellschaft wieder aufzubauen und zu reorganisieren, die Menschen zu informieren und ihnen das System und die Ideen Rebêr Apos [Abdullah Öcalans] näher zu bringen. Die arabische, kurdische und turkmenische Bevölkerung hat diese Arbeiten mit Freude aufgenommen. Sie sahen darin eine Möglichkeit, in Frieden und auf einer selbst geschaffenen Basis leben zu können.

Rebêr Apo sagte: „Jede Pflanze wächst auf ihren eigenen Wurzeln.” Seit acht Jahren haben sich die Menschen in dieser Region dem enormen Widerstand gegen Daesh angeschlossen und schließlich haben wir Daesh besiegt. Das war eine große Freude für die Menschen in der Region. Deshalb wollen wir dieses Glück in ein System des Lebens, eine Philosophie, eine Idee verwandeln, die wir mit allen Menschen teilen. Alle wollten Lösungen für ihre Probleme in der Region finden und einen neuen Willen als Menschen dieser Region entwickeln.

Welche Rolle haben die Frauen beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und den Selbstverteidigungsräten gespielt?

Wenn du die Frau befreien kannst, kannst du die Gesellschaft befreien. Wenn eine Gesellschaft um Frauen herum aufgebaut wird, entsteht auch eine gewisse Ethik. Das erschreckt die reaktionären Kräfte des dominanten männlichen Systems am meisten. Viele Menschen schauen mit Zweifel auf diese Versammlungen und Räte und fragen sich, ob die Menschen der Region in der Lage sein werden, sich selbst zu verwalten, zu schützen und zu organisieren. Wir, als Kinder und Kämpferinnen dieses Landes, glauben an uns selbst, weil wir eine achtjährige Prüfungsphase bestanden haben. Unsere Prüfung war eine Revolution. Das hat den Wandel unseres Kampfes in eine soziale, kulturelle und politische Revolution ermöglicht. Diese Realität hat Frauen dazu gebracht, an sich selbst zu glauben. Die kurdischen Frauen und auch die arabischen Frauen haben an Moral und Mut gewonnen. Dies ermöglichte es Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen der Region, diese Philosophie besser kennen und verstehen zu lernen und Teil dieses Widerstandes zu werden. Damit gaben sie ihren eigenen Völkern eine Antwort. Das hatte auch großen Einfluss auf die Männer und die arabische Gesellschaft.

In Minbic, Kobanê, Tebqa und Girê Spî sind 50 Prozent der Frauen in den YPJ-Einheiten junge arabische Frauen. Wir wissen, dass in der kurdischen und arabischen Gesellschaft Frauen seit langer Zeit nur als Hausfrauen gesehen wurden, die Kinder aufziehen, Essen zubereiten und die Bedürfnisse der Männer erfüllen. Aber heute haben der Wille der Frauen und ihr Einsatz in den Verteidigungseinheiten eine Angst im Herzen des reaktionären und staatstragenden Mannes ausgelöst. Das schafft großen Mut in den Herzen aller Frauen, die in den Räten die Stimme der eigenen Bevölkerung werden wollen. Der Stolz über ihre Teilnahme bringt ihren natürlichen Willen zum Vorschein. So werden sie zu einem Vorbild für alle Frauen in der Region.

Die Teilnahme der syrisch-arabischen Frauen bei den QSD wurde zu einem Thema, das die Welt interessiert. Der Widerstand dieser Frauen gibt auch den Frauen in anderen Teilen der Welt großen Mut. Die Frauenarmee der YPJ hat das materielle und moralische Erbe der Gesellschaft zurückgewonnen, das der Gesellschaft vorenthalten worden war.

Das Engagement von Führern der arabischen Stammesgemeinschaften hat zu einem größeren Respekt gegenüber den politischen und militärischen Räten geführt. Alle Frauen, sowohl kurdische als auch arabische, spielen eine wichtige Rolle in diesen Räten. Auch die Suryoye-Frauen haben eigene Räte aufgebaut. Sie haben auch anderen Frauen des Mittleren Ostens vorgeschlagen, diese Erfahrungen zu nutzen und sie als Basis für den Widerstand in ihren eigenen Ländern zu nehmen.

Im Jahr 2019 haben sich viele Menschen den Verteidigungskräften angeschlossen, besonders den YPJ. In den Regionen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung arabisch ist, gab es anfangs eine Art Angst vor der Beteiligung von Frauen, weil dadurch meist eine Revolution in der eigenen Familie ausgelöst wird. Die Teilnahme von Frauen an den YPJ findet nicht nur auf militärischer Ebene statt, sondern schafft eine soziale, politische, kulturelle und moralische Revolution. Besonders in feudalen arabischen Gesellschaften, in denen Frauen ans Haus gefesselt sind und ohne Erlaubnis des Mannes nirgendwo hingehen können, bedeutet dies eine grundlegende Veränderung. Heute diskutieren Frauen in ihren Räten soziale und familiäre Fragen. Dass sie politische Fragen diskutieren, um eine Lösung für die Region und für Syrien zu finden, ist eine Revolution an sich. Dies ist der Erfolg der sozialen Revolution, die einen politischen und kulturellen Wandel in der arabischen Gesellschaft ermöglicht hat.

Welche Auswirkungen hat die Beteiligung von Frauen
auf die verschiedenen Teile der Gesellschaft?

Frauen haben mehr an Einfluss gewonnen. Aus der Sicht des Mittleren Ostens findet ein Mann, der in die Armee eintritt, nicht viel Interesse, weil es als Arbeit für Männer angesehen wird. Alle Armeen werden von Männern aufgebaut und Männer haben die Pflicht, zum Militär zu gehen. Aber die Teilnahme von Frauen an den militärischen Verteidigungskräften, insbesondere von arabischen Frauen, ist keine gewöhnliche Sache. Das trägt dazu bei, dass in allen Köpfen eine Revolution ausgelöst wird. Denn die Frauen hatten Augen, konnten aber nicht sehen. Sie hatten eine Zunge, konnten aber nicht sprechen. Diese Situation hat sich nun geändert. Die Frauen sind jetzt zu Vorreiterinnen der Revolution und der Zukunft einer ethischen und politischen Gesellschaft geworden.

2011 begann die Revolution im Mittleren Osten im Namen einer Revolution der Völker. Danach machte sich die Muslimbruderschaft diese zunutze und wollte die Revolution an sich reißen. Sie startete die ersten Angriffe auf Rojava. Aber die Revolution ließ sich nicht ersticken. Trotz der Angriffe des Systems verlor die Revolution hier nicht ihre Hoffnung. Nur in Rojava wurde der Wille der Bevölkerung nicht verfälscht und nicht seiner Essenz beraubt. Gegen die Angriffe Erdogans auf Rojava hat sich die Welt erhoben. Denn Daesh ist der Feind der ganzen Welt und der Menschheit. Es war die kurdische Bevölkerung, die Menschen dieser Region und besonders die Frauen, die gegen Daesh gekämpft haben.

Zur gleichen Zeit haben wir unsere Institutionen aufgebaut. Der Demokratische Syrienrat (MSD) wurde als die Generalversammlung Syriens gegründet, um ein Projekt für ein demokratisches Syrien zu entwickeln, das die Krise überwinden kann. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurden zu ihrer militärischen Kraft. Die Revolution wurde zu einer Revolution im Mittleren Osten und beeinflusste die ganze Welt. Denn generell gibt es gerade einen Mangel an ethischen und politischen Bewegungen. Die europäischen Bewegungen, die behaupten, die ethischsten zu sein, führen oft eine Politik der Täuschung mit sich. Aber Politik ist ein Weg sowie eine Methode des Lebens, die Lösung des Lebens und die Einheit des Denkens und Handelns. Aus diesem Grund hat das Beispiel der Revolution in Rojava und der Aufbau ihrer Institutionen einen großen Einfluss auf die Region gehabt. Hierdurch wurde das kurdische Volk endlich als Menschen in der globalen Gesellschaft akzeptiert.

Was ist das Ziel der Angriffe des türkischen
Staates auf Nord- und Ostsyrien?

Hinter den Angriffen des türkischen Staates auf Rojava stehen diejenigen, die Erdogan die Erlaubnis zum Angriff gegeben haben. Es sind die Kolonialmächte, die kein Lösungsprojekt für den Mittleren Osten haben und die Krise nur vertiefen wollen. Es gibt zwei Hauptkräfte in der Region, die USA und Russland. Sie erkennen die Bevölkerung nicht an. Sie erkennen ihre regionale, soziale, kulturelle und militärische Existenz nicht an. Mit dieser Revolution hat ihnen die Gesellschaft die Augen geöffnet und ist wieder zum Leben erwacht. Diese Mächte lehnen die Autonomie und Eigenständigkeit der Gesellschaft ab. Deshalb haben sie sie in eine Krise gestürzt.

Seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hat die Türkei Angst davor, weitere Gebiete zu verlieren. Die Kurd*innen, Alevit*innen und Armenier*innen fordern immer noch ihre Rechte ein. Aber die Türkei verweigert sie ihnen. Deshalb versucht die Türkei, die kurdische Bevölkerung, die Stabilität und ein autonomes System geschaffen hat, zu beseitigen.

Aber die Bevölkerung akzeptiert die Allianz zwischen Erdogan, Putin und Trump nicht. Die Angriffe gegen Serêkaniyê und Girê Spî haben die Welt dazu gebracht, sich zu erheben und zu erklären, dass dieser Angriff unmoralisch ist. Es ist ein politischer und imperialistischer Angriff. Auch die amerikanische Bevölkerung und der US-Senat haben sich gegen Trump erhoben. Was den Weg für die türkische Invasion geöffnet hat, war die russische und US-amerikanische imperialistische Politik, die keinen Respekt vor der Bevölkerung hat und ohne jegliche Moral, nur nach ihren Profitinteressen handelt. Jeden Tag werden Frauen und Kinder getötet. Sie werden zu Flüchtlingen und leben in Zelten. Der Angriff wurde von den imperialistischen Staaten gegen die Stabilität, den Widerstand und die Kultur der Menschen in unserer Region verübt.


YPJ-Kommandantin Kurdistan Waşokanî
(Foto: YPJ-Generalkommandantur)


Gegen den Einmarsch des türkischen Staates, der sich „Friedensquelle” nennt, haben Sie die Kampagne „Berxwedana Rûmetê” (Widerstand der Würde) gestartet. Welche Rolle spielen die YPJ in dieser Kampagne, besonders in der Euphrat-Region?

Der Name der türkischen Operation ist ein Schwindel. Hitler hat Millionen von jüdischen Menschen im Namen der Gewinnung von Lebensraum vergast. Jeder Diktator und jeder Tyrann benutzt den Namen der Demokratie, um eine Maske zu schaffen, um sein wahres Gesicht zu verstecken. Also nannte Erdogan diese Operation „Friedensquelle”, um sein wahres Gesicht zu verbergen.

In unserem Land gab es keinen Krieg, für den die Türkei den Frieden bringen konnte. Alle lebten friedlich in ihrer Existenz. Es gab keine Probleme unter den Menschen. Derjenige, der das Problem erst geschaffen hat, ist der türkische Staat selbst. Unsere Aufgabe als Bevölkerung der Region und der Verteidigungskräfte war es, die Grenztruppen zu mobilisieren, die Region zu schützen und Räte zu bilden. Unser Widerstand gegen diesen Krieg, der großes Elend über die Menschen gebracht hat, wird fortgesetzt.

Junge kurdische und arabische Frauen haben sich in lebendige Schutzschilde verwandelt. Obwohl die Panzer des Feindes über die Leichen unserer Freundinnen rollten, haben sie ihre Stellungen nicht aufgegeben. Sie haben ihr Land verteidigt. Ihre Haltung war ethisch und kulturell. Das Prinzip der Welatparêzî (Liebe und Schutz des Landes) bedeutete, Widerstand zu leisten, ohne den Tod zu fürchten. Junge kurdische Frauen kämpften bis zum letzten Atemzug für die Würde dieses Landes. Sie sagten ‚Frauen sind nicht eure Ehre, unsere Ehre ist unser Land’. Hunderte von jungen Frauen wie Zin, Amara und Sara opferten sich und verließen ihre Positionen nicht. Als Freiheitskämpferinnen setzen wir unseren Widerstand bis zum Sieg fort, damit alle friedlich auf dem Land Rojavas leben können. Alle unsere Freundinnen und Freunde, Weggefährtinnen und Weggefährten, Genossinnen und Genossen stehen an der Front, um gegen diese illegitimen Angriffe Widerstand zu leisten.

Mit der Invasion des türkischen Staates soll der Willen rebellischer Frauen gebrochen werden, wie wir es bei den Angriffen auf die Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, Hevrin Xelef, und YPJ-Kämpferinnen wie Çîçek Kobanê und Amara Rênas gesehen haben. Wie sehen und bewerten Sie das?

Dieser Krieg wird gegen Frauen, Gesellschaft und Moral geführt. Um diesen Krieg zu beenden und den Sieg zu erringen, hatten wir nie einen Ansatz, der auf dem Konzept unseres Daseins als „Ehre” basiert. Denn als Frauen nehmen wir unsere Ehre als unser Land, unsere Kultur, unsere Ethik und unsere politische Identität wahr. Wir überwinden das feudale Konzept, das die Frau nur als Ehre ansieht. Mittlerweile stehen Hunderte von Frauen an der Front. Bei diesen brutalen Angriffen sind viele unserer Freundinnen gefallen, andere fielen in die Hände des Feindes. Sie wollen unseren Willen und unsere Würde brechen. Aber mit dem Mord an einer Frau geben Frauen nicht auf. Unser Körper kann gefangen genommen werden, aber sie werden niemals in der Lage sein, unsere Herzen und unseren Verstand zu erobern. Wir haben unseren Körper diesem Land geopfert. Das ist der Preis für die Freiheit, denn Freiheit kann nicht ohne einen Preis erreicht werden. Der Feind sagt: „Tötet zuerst die Frauen! Verletzt sie, nehmt sie gefangen!” Damit soll der Willen der Frauen und der Gesellschaft gebrochen werden. Denn Frauen sind die Identität der Gesellschaft und repräsentieren die Prinzipien des Lebens. Durch die Versklavung der Frauen will der Feind unsere Gesellschaft domestizieren und unsere Bevölkerung dazu bringen, den Kopf zu senken. Aber wir sagen zu den Menschen: „Geratet nicht in die Fallen des Feindes!“

Jetzt nehmen neue Kämpferinnen die Namen Hevrin und Amara an und schließen sich den Reihen der Verteidigungskräfte an. Dies ist auch eine starke Reaktion auf Erdogan, der den Willen der Bevölkerung und der freien Gesellschaft brechen will. Durch die Verstärkung der YPJ-Einheiten, die Stärkung und Ausbildung der YPJ-Kämpferinnen geben wir die stärkste Antwort auf diese Angriffe.

Wie reagiert die Bevölkerung der Euphrat-Region auf diese Angriffe?

Die Revolution in dieser Region ist noch nicht sehr alt. Minbic wurde 2016 und Tabqa 2017 befreit. Aber die arabische Bevölkerung in dieser Region wurde zu einem lebenden Schutzschild und übernahm ihre Rolle an der Seite der Freiheitskämpfer. Sie machte keinen Schritt zurück. Die arabische Bevölkerung und alle weiteren Menschen kamen zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen Erdogan zusammen.

Dieser Angriff ist das Ergebnis einer politischen Übereinkunft, denn der Vertrag von Lausanne wird damit beendet und das Staatssystem wird wieder aufgebaut. Aber wir akzeptieren diese politischen Vereinbarungen gegen uns nicht und wir werden uns auch nicht ihren Abmachungen und Geschäften unterwerfen.

Was sind Ihre Pläne für 2020?

Unser Plan für das neue Jahr ist es, unsere Ausbildungen zu stärken. Wir bereiten unsere Kräfte vor und bilden sie aus, damit sie in der Lage sind, diesen Angriffen zu widerstehen und unsere Gesellschaft politisch weiterzuentwickeln. So stärken wir unsere Kommunen und Volksräte. Wir werden tun, was notwendig ist, um uns mit einer revolutionären Philosophie schützen zu können, damit die Revolution wieder aufgebaut und verteidigt werden kann.

Meine letzte Botschaft an die kurdische Bevölkerung ist, dass wir uns gegenseitig stärken, wenn wir uns an dem anhaltenden Widerstand beteiligen. Wir müssen aufhören, kleine Berechnungen in Bezug auf Familien- oder Stammesinteressen anzustellen. Wir müssen unsere nationale Einheit aktiv aufbauen und uns zusammenschließen, um einen gemeinsamen politischen und militärischen Willen zu schaffen.

Wir danken den Menschen auf der ganzen Welt, dass sie uns in unserem politischen, sozialen und ethischen Widerstand gegen diesen Besatzungskrieg begleitet haben. Als kurdische Frauen und Frauen des Mittleren Ostens werden wir weiterhin Schulter an Schulter gegen den Faschismus Widerstand leisten.

Die deutsche Übersetzung des TV-Interviews erschien erstmalig bei Women Defend Rojava.

Jahresbilanz der QSD 2019


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.

Fahne der QSD, 2019

Quelle: ANF, QSD stellen Jahresbilanz des Widerstands vor, 03.01.2020

Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) haben ihre Jahresbilanz zum Widerstand gegen die völkerrechtswidrige Invasion der Türkei in Nord- und Ostsyrien sowie zum Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) vorgestellt. Der Bericht enthält neben einer Übersicht zu den Kriegshandlungen der türkischen Armee und ihren dschihadistischen Verbündeten im Zuge des andauernden Angriffs auf die selbstverwalteten Gebiete in Rojava seit dem 9. Oktober 2019 auch Details zur Offensive gegen den sogenannten IS, dessen Territorialherrschaft in Syrien im vergangenen März mit der Befreiung der letzten IS-Bastion al-Baghouz zerschlagen wurde.

Das gesamte Jahr 2019 war geprägt vom Widerstand der Völker Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Staat, den IS und andere Aggressoren und Invasoren, die Macht- und Territiorialansprüche stellen. Nach dem im Jahr 2011 ausgebrochenen „Bürgerkrieg“ leidet das Land heute unter einem Stellvertreterkrieg. Inmitten verworrener Konflikte angesichts der Akteurskonstellation führen die Menschen in Rojava seitdem einen unerbittlichen revolutionären Kampf, um ihre Würde und Freiheit zu verteidigen.

„Der Widerstand, den wir heute vorbringen, hat mit dem Willen der Menschheit, für gemeinsame freiheitliche Werte einzutreten, ein internationalistisches Niveau erreicht. Aufgrund dieser Haltung stellt der Angriff des Besetzerstaates Türkei ein nationales Problem dar.

Unseren Kräften ist es gelungen, die Territorialherrschaft des IS zu zerschlagen und das perfide System der Sklaverei zu beenden. Um den Frieden und die Sicherheit der Völker in der Region zu gewährleisten, haben die QSD ihre Verantwortung gegen alle Arten von Angriffen, Besetzungen und Terrorismus bedenkenlos auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung erfüllt. Der 23. März 2019 markierte den Zeitpunkt, an dem wieder Frieden einkehrte. An diesem Tag wurde al-Baghouz, die letzte Bastion der Terrororganisation IS in der ostsyrischen Region Deir ez-Zor, befreit. Damit wurde der Kampf gegen die verbleibenden IS-Schläferzellen beschleunigt“, erklären die QSD einleitend in ihrer Bilanz.

1.306 Islamisten in drei Monaten getötet

„Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten wurde die Kleinstadt Hajin sowie ihr Umland im Rahmen unserer Offensive ‚Gewittersturm Cizîrê‘ befreit. Im Zuge dessen konnte der Tod von 1.306 IS-Dschihadisten festgestellt werden. Mehr als 29.600 Mitglieder der Terrororganisation und Angehörige wurden gefangengenommen. Insgesamt ist ein etwa 7.000 km² großes Gebiet vom Terror befreit worden.

Während der Offensive sind große Mengen an militärischem Rüstungsgut und Munition, Dokumenten und Kommunikationsgeräten sichergestellt worden. Bei mehr als 40 Spezialeinsätzen unserer Antiterror-Einheiten konnten zudem zahlreiche Anschläge und Massaker vereitelt werden. Außerdem sind weitere vier Operationen gegen Schläferzellen, die vom türkischen Geheimdienst MIT koordiniert wurden, durchgeführt worden.

Eigene Verluste

Im Rahmen unseres Kampfes gegen den Terror sind insgesamt 256 unserer Freundinnen und Freunde im selbstlosen Widerstand gefallen. An der erfolgreichen Operation, die zum Tod von IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi führte, waren neben US-Truppen und Kräften der internationalen Koalition gegen den IS gleichermaßen unsere Kräfte beteiligt.“

Legitime Selbstverteidigung gegen die Invasion

Die QSD machen darauf aufmerksam, dass die Angriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien nach dem Sieg über den IS zunahmen und schließlich in der Invasion mündeten, die mit Hilfe islamistischer Proxys im Dienste Ankaras seit knapp drei Monaten andauert. Zu den Geschehnissen seit Beginn des Angriffskrieges teilen die QSD mit: „Der türkische Besatzungsstaat führt gemeinsam mit seinen Dschihadistenmilizen und unter Einsatz von Panzergeschützen, Bodenartillerie, Kampfdrohnen und Kriegsflugzeugen entlang der gesamten Grenze zu Nordsyrien und Nordostsyrien genozidale Angriffe durch. Infolge dieser Angriffe sind knapp 400.000 Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. 522 Zivilist*innen wurden getötet, weitere 2.757 verletzt.

Die türkische Armee setzt auf unterschiedslose Kriegführung. Insbesondere entlang der Grenzlinie wurden und werden zivile Siedlungsbiete intensiv bombardiert. Die QSD erwidern jegliche Art von Angriff auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung.“

Zahlen und Fakten zum Krieg der NATO-Partners Türkei in Rojava

Nach QSD-Angaben hat die Türkei seit Beginn des Krieges gegen Nordsyrien insgesamt 379 Luftangriffe durchgeführt. Weitere 1.021 Angriffe erfolgten mit Panzern, schweren Waffen und weiterer Bodenartillerie. Im Zuge der Verteidigung wurden 1.534 türkische Soldaten und islamistische Proxys getötet. Weitere 294 Angehörige der Invasionstruppen wurden verletzt.

Bilanz über vernichtetes Rüstungsgüter

Panzer (7), gepanzerte Truppenfahrzeuge (17), Schützenpanzer vom Typ BMP-1 (11), sonstige militärische Fahrzeuge (69), Fahrzeuge mit aufmontierter Flugabwehr (11), Arbeitsmaschinen (2), Motorräder (2).

Plädoyer

Wie es abschließend in der Bilanz heißt, greifen die Besatzungstruppen trotz angeblichem Waffenstillstandsabkommen weiterhin großflächig die selbstver- walteten Gebiete in Rojava an. Infolge dieser Verstoße ist es bisher zu 508 Verlusten in den Reihen der Demokratischen Kräfte Syriens gekommen. 1.547 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt, weitere 73 Angehörige sind in Gefangenschaft geraten. Die Städte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) sind durch die Absegnung Russlands und der USA vollständig von der Türkei besetzt worden. Die QSD unterstreichen die besondere Rolle der Frauen- verteidigungseinheiten YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) beim Widerstand in Rojava.

Übersicht: Kurdische Organisationen und andere Parteien in Kurdistan

Quellen: Civaka Azad, „Revolution in Rojava“ – Flach u.A.

Mit der Auflösung des Osmanischen Reiches und der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 wurde das kur­dische Siedlungsgebiet von den Sieger-mächten des 1. Weltkriegs auf vier Länder aufgeteilt: Türkei, Syrien, Irak und Iran. Wir geben hier einen kurzen Überblick über Organisationen und Parteien in den verschiedenen Teilen Kurdistans sowie ausgewählte türkische Parteien.

Kurdische Bevölkerung in der Geografie Kurdistans, Januar 2019


1. TÜRKEI / BAKUR / NORDKURDISTAN

PKK = Partiya Karkerên Kurdistanê‎ – Arbeiterpartei Kurdistans
gegründet 1978; kämpft für die Selbstbestimmung und demokratischen Rechte der Kurd*innen in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak. Die PKK begann 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat. Seit Beginn der 1990er Jahre ist die PKK intensiv um eine politische Lösung bemüht. Gründer und Vorsitzender: Abdullah Öcalan, 1999 mithilfe ver­schiedener Geheimdienste aus Kenia in die Türkei verschleppt, zum Tode verurteilt, aufgrund internationa­ler Proteste in lebens-lange Freiheitsstrafe umgewandelt und befindet sich seitdem auf der Gefängnis-insel Imrali im Marmarameer, wo er 10 Jahre lang als einziger Gefangener von 1 000 Soldaten bewacht wurde. Sitz und Zentrum der PKK sind die Kandil-Berge im Nordirak. In der Türkei ist sie als terroristische Organisation eingestuft und verbo-ten. In Deutschland wurde die Tätigkeit für die PKK am 26. November 1993 ver-boten. Im September 2017 fällte das Brüsseler Berufungsgericht die Entscheidung, dass die PKK keine Terrororganisation, sondern eine Kriegspartei sei.

YJA-Star = Yekîtîya Jinên Azad Star – Einheiten der freien Frauen
autonome Frauenarmee der PKK, gegründet 1995. Als Frauenarmee wird die Gesamtheit der ausschließlich aus Frauen bestehenden Einheiten der kurdischen Volksverteidigungskräfte (HPG) bezeichnet. Bei diesen Organisationen handelt es sich um Kampfverbände der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

PAJK = Partiya Azadiya Jinan a Kurdistanê –
Partei der Freiheit der Frauen Kurdistans

HPG = Hêzên Parastina Gel – Volksverteidigungskräfte
Selbstverteidigungseinheiten/Guerilla, bewaffnete Einheiten der PKK, gegründet 2000, verstehen sich als Nachfolger*innen der ARGK (Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan – Volksbefreiungsarmee Kurdistans, 1986-2000) und bezeichnen sich
als legitime Verteidigungskraft; HPG und YPG/YPG retteten 2014 Zehntausende Ezid*innen aus dem Sindschar-Gebirge vor dem sicheren Tod durch den IS.

KCK = Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans; überstaatlicher Zusammenschluss der Gemeinschaften Kurdistans, in dem sich im Idealfall die radikaldemokratisch selbstverwalteten Strukturen zusam-menfinden. Verfügt über ein System der Gewaltenteilung und dient der Umsetzung der Konzepte des Demokratischen Konföderalismus und der Verteidigung der kur-dischen Bevölkerung. Die KCK wurde 2007 gegründet und ist hervorgegangen aus der PKK. Seit April 2009 wurden unzählige politische Aktivist*innen in der Türkei festgenommen, wegen angeblicher KCK-Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Organisation angeklagt und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt – unter ihnen Bürgermeister*innen der HDP, Journa-list*innen, Anwält*innen und Gewerkschafter*innen.

HDP = Halkların Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker
Linke, prokurdische, gesamttürkische Partei, konnte erstmals bei den Parla-mentswahlen am 7. Juni 2015 die 10%-Wahlhürde mit 13% überspringen und in Fraktionsstärke ins Parlament einziehen. Auch in den nachfolgenden Wahlen konnte die HDP, trotz enormer staatlicher Repressionen, stets die Wahlhürde nehmen und ihre Wähler*innen im Parlament vertreten.

DBP = Demokratik Bölgeler Partisi – Demokratische Partei der Regionen
gegründet 2014; sie arbeitet zusammen mit HDP, ist allerdings als politische
Partei lediglich in den kurdischen Provinzen aktiv.

DTK = Demokratik Toplum Kongresi – Demokratischer Gesellschaftskongress; Dachorganisation der Volksratsstrukturen
und der Zivilgesellschaft in Nordkurdistan

KJA = Kongreya Jinên Azad – Kongress der freien Frauen
ist die Dachorganisation der autonomen Frauenstrukturen in Nordkurdistan


2. SÜDKURDISTAN / BASÛRÊ / NORDIRAK

Seit dem 1. Golfkrieg wurde diese Region wegen seines Öl- und Wasser-vorkommens sowie seiner geostrategi­schen Bedeutung wichtig. Die Definition dieses Teils Kurdistans als „safe heaven“ gilt heute noch. Nach dem Fall Saddam Husseins 2003 konnte die ihre Autonomie waren. 2005 wurde sie zur „Kurdistan Re­gion of Iraq“ erklärt, verankert in der irakischen Verfassung.

KRG = Kurdish Regional Government; Regierung von Südkurdistan/Nord irak.

PDK = Partiya Demokratiya Kurdistanê – Demokratische Partei Kurdistans
Regierungspartei in der Kurdischen Autonomie Region im Nordirak, vorwiegend
im Kurmancî-Gebiet, gegründet 1946. Seitdem wird dieser Teil Kurdistans vom Barzanî-Clan dominiert. Die Strukturen sind autokratisch; die Regierung pflegt engste Kontakte mit der Türkei. Verfügt über eigene Sicherheitskräfte und Militär – 16 000 Peschmergas („Die dem Tod ins Auge sehen“) bilden Barzanîs Armee. Die PDK kontrolliert die Region um Hewlêr (Erbil) und verfügt über Ableger in Ostkur-distan (Iran), Rojava (Syrien) und Nordkurdistan (Türkei). Die deutsche Bundes-regierung unterstützt die Autonomiere­gion politisch, rüstet die Peschmergas im „Kampf gegen ISIS“ mit deutschen Waffen aus und leistet militäri­sche Ausbildungs-hilfe. Die PDK befürwortet die Angriffe der türkischen Armee seit Ende Juli 2015 auf die PKK und lehnt die kurdische Autonomieregion Rojava ab.

YNK / PUK = Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê – Patriotische Union Kurdistans; wurde 1975 als Ergebnis der Spaltung von der PDK im Exil gegründet und teilt sich weitgehend die Macht mit der PDK in Südkurdistan, vorwiegend im Soranî-Gebiet. Sie verfügt über Militär und Polizei und kontrolliert die Soranî sprechende Region um die Stadt Sulemaniyya (Hauptsitz). Die YNK hat sich mit Rojava solidarisch erklärt und unterstützt die Kurden im Südosten der Türkei.

Bzutinewey Gorran = Bewegung für Wandel
Die Partei GORAN existiert seit 2010 als Abspaltung von der PUK und fand
2013 großen Zuspruch, insbe­sondere für die von ihr propagierte Bekämpfung
von in Südkurdistan bestehender Korruption und Vettern­wirtschaft.

YBŞ = Yekîneyên Berxwedana Şengalê‎ – Widerstandseinheiten Şengals
Bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der ezidischen Region Şengal.
Die YBŞ wurde 2015 als Reaktion auf das Genozid des IS im an der
ezidischen Bevölkerung im August des Vorjahres gegründet.

YJŞ = Yekinêyen Jinên Şengalê‎ – Fraueneinheiten Şengals
Bewaffnete autonome Fraueneinheiten der ezidischen Region Şengal


3. ROJAVA / WESTKURDISTAN / NORDSYRIEN

Im Jahre 2012 hat die kurdische Bevölkerung in Syrien mit der Umsetzung des Modells des Demokratischen Konföderalismus und der Demokratische Autonomie in Rojava begonnen. Rojava bestand anfangs aus den drei Kantonen: Efrîn im Westen, Kobanê im Nor­den und Cizîrê im Osten. Die AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoĝan will mit allen Mitteln eine Etablierung dieses Projektes verhindern. Deshalb hat die türkische Armee gemeinsam mit ihren dschihadistischen Partnern 2018 Efrîn und seit Oktober 2019 weitere Gebiete im Kanton Cizîrê besetzt. Im Zuge des Kampfes gegen den sogenannten Islamischen Staat ist es den Selbstverteidigungskräften Nordsyriens gelungen weitere Gebiete zu befreien. Heute wird das radikaldemokratische Gesellschaftsmodell nicht allein in den kurdisch-dominierten Gebieten Nordsyriens praktiziert, sondern auch in mehrheitlich arabischen Regionen wie Raqqa und Deir ez-Zor umgesetzt.

DFNS = Demokratische Föderation Nordsyrien (früherer Name der Selbstverwaltung in Rojava), jetzt Rêveberiya Xweser a Bakur û Rojhilatê Sûriyeyê – „Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien – Rojava“

QSD / SDF = Quwetên Suriya Dimokratîk – Demokratische Kräfte Syriens – Syrian Democratic Forces; militärisches Bündnis zur Verteidigung der selbst-verwalteten Gebiete in Rojava und Syrien. Militärbündnis von YPG/YPJ sowie mehren arabischen, christlichen, turkmenischen, assyrischen und ezidischen Milizen, offizieller Bestandteil der internationalen Anti-IS Koalition und die einzige Kraft, die am Boden gegen DAIŞ kämpft. Sie sind der Autonomieverwaltung von Nord- und Ost-Syrien unterstellt. Das Militärbündnis SDF besteht derzeit aus den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und den Frauenverteidigungs-einheiten (YPJ),der Kurdischen Front (Dschabhat al-Akrād), der kurdisch-turkmenischen Einheit Katāʾib Schams asch-Schimāl, der sunnitisch-arabischen Armee der Revolutionäre (Dschaisch ath-Thuwwar), der sunnitisch-arabischen Schammar-Stammesmiliz Quwat as-Sanadid und der sunnitischen Rebellen-brigade ar-Raqqa (Liwa Thuwar al-Raqqa), den Al-Dschasira-Brigaden und der Lîwai 99 Muşat sowie dem assyrisch-aramäischen Militärrat der Suryoye (MFS).

YPG = Yekîneyên Parastina Gel – Volksverteidigungseinheiten
Verteidigungskraft von Rojava. Verteidigen mittlerweile auch die ezidische Bevölkerung auf den Şengal-Bergen, besteht aus Frauen und Männern.
Die YPG ist Teil der QSD.

YPJ = Yekîneyên Parastina Jinê – Frauenverteidigungseinheiten
Verteidigungskraft von Rojava. Wie auch die YPG verteidigen mittlerweile
auch sie die ezidische Bevölkerung auf den Şengal-Bergen. Die YPJ ist
als reine Frauenarmee Teil der QSD.

YBŞ = Yekîneyên Berxwedana Şengalê – Widerstandseinheiten Şengals

YJÊ = Yekîneyên Jinên Êzîdxan – Einheiten der ezidischen Frauen

HRE = Hêzên Rizgariya Efrînê – Befreiungskräfte Efrîns – Afrin
Liberation Forces
; erstmalig im Dezember 2018 in Erscheinung getreten,
mit der Ankündigung, eine neue Taktik im Kampf gegen die tükisch-
dschihadistische Besatzung Êfrins anzuwenden. Seitdem haben diverse erfolgreiche Aktionen in Şehba und Efrîn stattgefunden.

IFB = International Freedom Bataillon – Internationaler Freiheitsbataillon
autonome Einheit innerhalb der YPG als Verband aller sich den Kämpfen anschließenden Internationalisten*innen

HPC = Hêzên Parastina Cewherî – Selbstschutzeinheiten
Aufgaben sind bspw., die Straßen und Stadtviertel zu kontrollieren. In den HPC
sind Zivilist*innen aller Altersstufen. Sie unterstützen die Asayîş (polizeiähnliche Schutzkräfte der Selbstverwaltung mit ca 15.000 Mitarbeiter*innen) und sind Teil des systematischen Verteidigungsnetzes Rojavas. Die autonome Frauenstruktur bei den HPC sind die HPC-Jin (Frauenverteidigungskomitees).

MFS = Mawtbo Folhoyo Suryoyo – Militärrat der Suryoye
Verteidigungskraft von Rojava, assoziiert mit YPG und YPJ.

TEV-DEM = Tevgera Cîvaka Dimokratîk – Bewegung für eine demokratische Gesellschaft ist die Organisierung der Selbstverwaltung (Kommunen, Räte, Koordination) sowie ihrer Exekutivinstitutionen in Rojava und das koordinierende Organ des Volksrats Westkurdistan (MGRK). Die TEV-DEM gibt es auf der Gebietsebene und für ganz Rojava. Sie umfasst auch die sie unterstützenden politischen Parteien, diverse NGOs, soziale Bewegungen und Berufsverbände.

MGRK = Meclîsa Gel a Rojavayê Kurdistanê – Volksrat Westkurdistan
im Jahr 2011 gegründete Rätestruktur in Rojava und Syrien. Die Initiative ging
von der PYD aus, inzwischen unterstützen mindestens fünf weitere Parteien
den MGRK. Der MGRK besteht aus vier Ebenen. Die TEV-DEM ist seine
Koordination auf den beiden oberen Ebenen.

Kongreya Star = Dachorganisation der autonomen Frauenstrukturen in Nordsyrien/Rojava; 2005 gegründet unter dem Namen Yekîtiya Star
(Verband der Frauen Star); Frauenorganisation in Rojava, welche die
Frauenräte organisiert, Frauenakademien und andere Fraueneinrichtungen
betreibt (Organisationsmuster wie TEV-DEM).

YCR / YJC = Jugendbewegung in Rojava

PYD = Partiya Yekitîya Demokrat – Partei der demokratischen Einheit
aktiv in Rojava/Westkurdistan-Nordsyrien; 2003 gegründet. Die PYD ist
die größte politische Partei der Kurd*innen in Rojava/Syrien und ist eine
Vertreterin der Demokratischen Autonomie.

MSD = Meclîsa Suriya Dimokratîk – Rat des demokratischen Syriens
Politisches Bündnis verschiedener Volks- und Religionsgemeinschaften in Syrien, die sich im Sinne eines demokratischen und föderalen Syriens organisieren.

Jabhat al Akrad = Kurdische Front
Kurdische Verteidigungseinheit, welche die kurdische Bevölkerung außerhalb Rojavas schützen soll und versucht mit der FSA stellenweise zusammen zu arbeiten. Unter anderem bei der Vertreibung des IS aus Azaz. Am 16.8.2013 wurde Jabhat al Akrad wegen der angeblichen Beziehung zur PKK aus dem Militärrat der FSA von Aleppo ausgeschlossen, nachdem FSA und dschihadistische Gruppen eng gegen die Selbstverwaltung in Rojava kollaboriert hatten.

NCC oder NCB = National Coordination Body – Nationales Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel
ein Oppositionsblock, der aus zehn linksgerichteten politischen Parteien und drei kurdischen Parteien sowie unabhängigen politischen Aktivist*innen einschließlich von Jugendaktivist*innen besteht. Das NCC und der SNC bilden zusammen die zwei Hauptfraktionen der syrischen Opposition. Der NCC steht in Konkurrenz zum SNC und NC, möchte eine friedliche Überwindung des Regimes und stellt sich gegen Konfessionalität und Nationalismus. Insgesamt umfasst das Komitee vor allem säkulare und nationalistische Gruppen, unabhängige Dissidenten und kurdi-sche Parteien, die alle ihre Basis innerhalb Syriens haben. Zu jenen gehören die PYD und ein Ableger der Syrischen Kommunistischen Partei.

ENKS = Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê – Kurdischer Nationalrat in Syrien; im Oktober 2011 gegründetes Bündnis, das von der PDK Barzanîs und nahestehenden Parteien dominiert wird.

PDK-S = Partiya Demokrata Kurdistan a Sûriye – Demokratische Partei Kurdistan-Syrien
; gegründet 1956, ist die größte Mitgliedspartei im Kurdischen Nationalrat (ENKS), welche mit der Demokratischen Unionspartei (PYD) Teile Nordsyriens regiert. Derzeitiger Vorsitzender ist Abdulhakim Bashar, welcher
auch im Vorstand der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte (NC) ist. Die Partei steht der von Masud Barzani geführten Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) im Nordirak nahe.


4. ROJHILAT / OSTKURDISTAN / IRAN


PJAK = Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê – Partei für ein freies Leben in Kurdistan
; militante kurdische Untergrundorganisation im Iran mit Stützpunkten im Nordirak; eine Schwesterorganisation der PKK. Sie führt einen bewaffneten Kampf für mehr Autonomie der Kurden im Iran und wurde im April 2004 in den Kandil-Bergen des Nordirak gegründet. Sie ge­hört dem Dachverband der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) an. Sie strebt eine Zusammenarbeit mit der iranischen Opposition an, was sich bis heute schwierig gestaltet. Zahlreiche PJAK-Kämpfer*innen wurden in den vergangenen Jahren zum Tode verurteilt und hingerichtet. 2009 wurde die PJAK auf die US-Terrorliste gesetzt.

KODAR = Demokratische und freie Gesellschaft Ostkurdistans
Organisierung der Selbstverwaltung (Kommunen, Räte, Koordination)
sowie ihrer Exekutivinstitutionen in Ostkurdistan.

5. DIASPORA – Kurdische Gemeinschaft außerhalb von Kurdistan

KNK = Kongreya Neteweyî ya Kurdistanê – Kurdischer Nationalkongress
im Mai 1999 gegründet, Sitz in Brüssel; Bündnis Kurdischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen und Exilorganisationen.

Der türkische Faschismus als politische Strategie


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle:
Civaka Azad – Faschismus als Strategie

Wer heute Türkei sagt, muss auch Faschismus sagen. Auf den tiefgreifenden Wandel des Mittleren Ostens reagiert der türkische Staat mit der Bündelung all seiner Kräfte. Denn seine Ideologen und Staatseliten haben „Großes“ vor. Sie möchten den Zerfall von Ländern wie Syrien, dem Irak oder Libyen nutzen, um
den eigenen Einfluss – im Falle Nordsyriens und des Nordiraks sogar das
eigene Staatsgebiet – auszuweiten.

Mit dem seit 2017 eingeführten Präsidialsystem hat sich die Türkei ganz
offiziell eine autoritäre Ordnung gegeben, die alle verfügbaren Kräfte in Büro-
kratie, Militär, Medien und Wirtschaft bündeln soll. Was in deutschen Medien
gern als schwer zu verstehender Wahnsinn des verrückten Autokraten Erdoğan dargestellt wird, ist jedoch eine wohl überlegte strategische Ausrichtung des türkischen Staatsapparates.

Der deutsch-türkischen strategischen Partnerschaft hat all das keinen Abbruch getan. Ganz im Gegenteil scheinen Bundesregierung und Staatsbürokratie in Deutschland entschlossen zu sein, der Türkei mit aller Kraft beizustehen. Immer wenn der türkische Partner gefährlich ins Straucheln gerät, springt man ihm mit Flüchtlingsabkommen oder pompösen Staatsbesuchen bei.


Präsidialsystem statt Republik in der Türkei

Wer die tagespolitischen Manöver eines Akteurs verstehen möchte, muss sich mit dem Charakter des Akteurs selbst beschäftigen. In unserem Falle also mit dem türkischen Staat und der AKP-MHP-Regierung. In seiner fünften Verteidigungs-schrift setzt sich Abdullah Öcalan sehr ausführlich mit den historischen Wurzeln, den Gründungsumständen und verschiedenen Machtzirkeln des türkischen Staates auseinander. In Bezug auf die Machtergreifung der AKP im Jahr 2002 und die seit dem andauernde Strategie des türkischen Staates macht Öcalan in dem Buch u.a. folgende Beobachtungen:

„Die AKP wurde vom amerikanisch-englisch-israelischen Dreiergespann aufge-baut, um der Hegemonie dieser drei Länder im Mittleren Osten zu dienen. Die AKP fordert als Gegenleistung für ihre Dienste, einen größeren Anteil zu erhalten. Dafür sollen der Druck der Armee auf sie abgeschwächt, in Zukunft von Putschen gegen sie abgesehen und ihr ein größerer Anteil an der Ausbeutung des Mittleren Ostens zugesprochen werden. Israel hält die noch in ihren Jugendjahren begriffene anato-lische Bourgeoise für etwas exzentrisch und erwartet daher, dass sie demütigere Forderungen stellt. Das türkische Mantra, man sei eine `regionale bzw. globale Macht`, betrachtet Israel als überzogen und fordert von der Türkei realistisch anzu-erkennen, wer in der Region und weltweit wirklich eine hegemoniale Position ein-nimmt. Die der AKP zugesprochene Rolle ist es, den schiitischen Nationalismus des Iran, den arabischen radikalen Islamismus und den laizistischen Nationalismus abzuschwächen und in das hegemoniale System zu integrieren. Es ist offensicht-lich, dass der Türkei auf Ebene von Armee und Außenpolitik eine derartige Rolle gegeben wurde. Die AKP wird dieser Rolle auch gerecht. Während in Verbindung mit diesen Themen öffentlich der Eindruck erweckt wird, man befinde sich im Konflikt miteinander, handelt es sich um ein abgekartetes Spiel. Die Widersprüche in der Frage nach dem Anteil an der Ausbeutung des Mittleren Ostens sind jedoch real. Es handelt sich aber auch hier um Widersprüche, die innerhalb des Systems gelöst werden können. Mittel- und langfristig betrachtet wird es unausweichlich sein, dass die AKP eine vollständige Synthese mit dem hegemonialen System eingeht. Sollte sie eigensinnig werden und ein Bündnis mit dem Iran und dem radikalen Islam, gar mit dem aufgeklärten Islam eingehen und dadurch dem hegemonialen System Schwierigkeiten bereiten, wird es ihr nicht anders
ergehen, als ihren Vorgängern oder der CHP.“

Demonstration „STOP ERDOGAN“ in Geneva, Dezember 2016

Die Worte Öcalans aus dem Jahr 2011 helfen uns die Türkei im Jahr 2020 besser zu verstehen. Mit der Machtergreifung der AKP hat die Türkei eine neue strategi-sche Ausrichtung übernommen. Sie positioniert sich damit innerhalb des grund-legenden Umbruchs, der im Mittleren Osten unter der Führung der USA angesto-ßen wurde. In einem Interview mit dem kurdischen Fernsehsender STERK TV vom 27. Dezember 2019 Jahres charakterisiert Murat Karayilan, Mitglied im Leitungs-komitee der PKK, die strategische Mission des AKP-MHP-Regimes folgenderma-ßen: „Der türkische Staat folgt heute einem neuen Konzept. Erdoğan ist stark geschwächt. Die AKP und die MHP sind ein Bündnis miteinander eingegangen, doch ist es ihnen dadurch nicht gelungen, die Situation wirklich zu stabilisieren. Was also haben sie daraufhin getan? Sie haben Erdoğan in die Doppelfunktion von Parteichef und Präsident des Landes erhoben – und zwar mithilfe eines an beiden Ohren herbeigezogenen Systems, für das es auf der Welt kein vergleichbares Beispiel gibt. Das faschistische Regime der AKP und MHP macht ihre Zukunft von dem Erfolg dieses Projekts abhängig. Wenn es dem AKP-MHP-Regime gelingt dieses Projekt erfolgreich in die Tat umzusetzen – also die Kurdinnen und Kurden auszulöschen und die Macht der Türkei zu vergrößern – dann ist seine Zukunft gesichert. Schafft das Regime es nicht, wird es verschwinden. Deshalb ist Erdoğan nicht mehr der alte Erdoğan. Dessen sollte sich jeder bewusst sein. Die Mentalität Erdoğans stand auch früher schon diesen Kräften nah, doch heute steht er voll-ständig unter ihrer Kontrolle. Denn er ist zu 100% eins geworden mit der Staatsrä-son.“ Spätestens seitdem die Türkei im Sommer 2015 wieder einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und die PKK begonnen hat, wurde dem Land eine faschistische Staatsordnung verliehen. Erdoğan als Staatspräsident, die AKP und die MHP als Regierungsparteien, die türkische Staatsbürokratie, Militär, Medien und Wirtschaft – die Großzahl der entscheidenden Akteure haben sich auf eine gemeinsame Linie zur kompromisslosen Durchsetzung ihrer Interessen geeinigt. Im Rahmen der NATO werden ihnen dafür die notwendigen militärischen, wirt-schaftlichen, geheimdienstlichen oder politischen Mittel zur Verfügung gestellt.


Imperialistische Ambitionen und Völkermord

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion werden die Grenzen im Mittleren Osten neu gezogen. Die amerikanische Intervention im Irak 1991 läutete diese Phase mit Nachdruck ein. Staaten wie der Irak, Syrien, Libyen, Libanon, Jemen, aber auch Ägypten, Tunesien und Algerien sind seither entweder größtenteils zerfallen oder können nur unter massivem Druck zusammen gehalten werden. Nur den beiden Regionalmächten Iran und Türkei ist es bisher gelungen, das Chaos im Mittleren Osten in gewissem Maße für sich zu nutzen. Die Zerschlagung ganzer Länder durch die Interventionen von NATO-Staaten oder Russland sieht die Türkei als Gelegenheit für die Umsetzung historisch weit zurückreichender eigener imperia-listischer Pläne. Murat Karayilan bringt die dahinter stehende Logik in dem oben erwähnten Interview folgendermaßen auf den Punkt:

„Die aktuelle türkische Staatsräson verfolgt in etwas diese Linie: `In den kommen-den zehn Jahren wird es im Mittleren Osten zu bedeutenden Veränderungen kom-men. Die politische Landkarte der Region wird neu gestaltet werden. Die USA und andere Staaten werden auf dieser Grundlage Veränderungen vornehmen. In die-sem Rahmen wird man den Kurd*innen einen Platz gewähren. Kurdis-tan wird gegründet werden. Die Gründung Kurdistans bedeutet die Verkleinerung der Türkei. Ein Drittel des türkischen Staatsgebietes wird verloren gehen. Um das zu verhin-dern, müssen wir die Dramatik der Lage anerkennen und eine Bewegung zur Neugründung der Türkei anstoßen.“ Die Machthabenden der Türkei haben den aktuellen Krieg wiederholt als neuen türkischen Befreiungskrieg und Überlebens-kampf des Landes bezeichnet. […] Das grundlegende Ziel dieser Logik ist die Vernichtung der kurdischen Errungenschaften. Dafür muss zu jedem Preis verhindert werden, dass sich die Kurdinnen und Kurden in Rojava einen Status erkämpfen. In der syrischen Verfassung soll das Wort „Kurdin bzw. Kurde“ nicht einmal erwähnt werden. „Wenn so etwas geschieht, werden wir eingreifen“, drohen sie. Indem sie ihre Position in Syrien derart stark ausbauen, möchten sie dafür sorgen, dass die syrische Verfassung unter ihrer Kontrolle neu geschrieben wird. […] Die neue faschistische Mentalität unter Führung Erdoğans betrachtet den Vertrag von Lausanne als eine Beleidigung. Ihr Ziel ist die Umsetzung des Misak-ı Milli. Genau mit diesem Ziel möchte Erdoğan jetzt Soldaten nach Libyen schicken. Die Pläne der Türkei bezüglich dem östlichen Mittelmeer, Libyen, Syrien, Irak und den anderen Bereichen des Misak-Milli beruhen alle darauf.“

Der Preis, den die Türkei bereit ist dafür zu zahlen, ist ein Völkermord an den Kurd*innen. Unterstützt von den NATO-Partnern, ohne deren Unterstützung der kriselnde türkische Staat nicht dazu in der Lage wäre, vertreibt, assimiliert und ermordet die Türkei aktuell die Dorfbevölkerung Südkurdistans (Nordirak), Hunderttausende in den nordsyrischen Regionen Efrîn, Girê Spî oder Serêkanîyê und die kurdische Bevölkerung auf türkischem Staatsgebiet. Seit 2015 führt die Türkei dafür erneut einen Krieg, der das Land mittlerweile militärisch, wirtschaftlich und politisch in eine schwerwiegende Krise geführt hat. Mit der Invasion in Efrîn im Januar 2018 begann die Phase der offenen Kooperation mit radikalislamistischen Gruppen, die bis heute andauert. Die Kriegs- und Menschen-rechtsverbrechen, die türkische Soldaten gemeinsam mit ihren dschihadistischen Verbündeten in Efrîn, Girê Spî und Serêkanîyê tagtäglich begehen, sind umfassend dokumentiert. Weniger bekannt ist, dass die türkische Armee dschihadistische Söldner aktuell auch in ihrem Krieg gegen die Guerilla in den Bergen Südkurdistans (Nordirak) einsetzt. In einem Interview vom 28. Dezember 2019 äußert sich ein Mitglied der Frauenguerilla YJA-STAR, die in Südkurdistan gegen die türkische Besatzung kämpft, dazu: „Der faschistische türkische Staat meint mithilfe der Söldner des Islamischen Staates (IS) die PKK vernichten zu können. Derzeit führen wir in Haftanin [Region in Südkurdistan bzw. Nordirak; hauptsächlich unter Kontrolle
der Guerilla] einen Krieg gegen Söldner des IS, anstatt gegen die Soldaten des türkischen Staates. Weil der türkische Staat sich vor dem Krieg fürchtet, bringt
er IS-Söldner in die Berge Kurdistans.“

https://vimeo.com/354355627
Links between Turkish State and jihadist groups (english)


Chaos mit deutscher Unterstützung

Krieg und Völkermord im Mittleren Osten werden nicht allein von der Türkei be-trieben. Es ist die Unterstützung strategischer Partner wie Deutschland, die all das in diesem Umfang erst möglich macht. Die mediale Auseinandersetzung mit den deutsch-türkischen Beziehungen bleibt leider oft oberflächig und greift Vorkomm-nisse isoliert voneinander auf. Besonders gerne wird der europäisch-türkische Flüchtlingsdeal diskutiert, wobei die deutschen Medienvertreter immer wieder zu dem Schluss kommen, er sei sinnvoll und müsse fortgesetzt werden. In einem ausführlichen Interview durfte das zuletzt noch einmal Gerald Knaus darlegen, der als „Architekt des Flüchtlingsdeals“ bezeichnet wird: „Das zu finanzieren ist im Interesse dieser Menschen [der Geflüchteten aus Syrien], der Türkei, der EU, und im Interesse Deutschlands. Es wäre verantwortungslos, das nicht weiter zu tun.“

Es ist wichtig zu verstehen, dass hier nicht nur über einen Flüchtlingsdeal geurteilt wird, sondern über die strategischen Dimensionen der deutsch-türkischen Partner-schaft. Dieses Abkommen zwischen der EU und der Türkei, das unter Leitung deutscher staatlicher Stellen ausgearbeitet und verhandelt wurde, sorgt nicht nur
für den Transfer von sechs Milliarden Euro in die Türkei. Es verschafft dem AKP-MHP-Regime und dem türkischen Präsidenten Erdoğan dringend notwendige politi-sche Anerkennung, präsentiert ihn als einen vertrauenswürdigen Gesprächspart-ner und hält dem türkischen Regime die Tür zu allerlei diplomatischen Foren offen. Der Flüchtlingsdeal wird insbesondere von der deutschen Regierung dafür genutzt, über etwas zu diskutieren und zu entscheiden, dass bei der Gesellschaft Deutsch-lands überhaupt nicht gut ankommt: die umfassende Zusammenarbeit Deutsch-lands mit der Türkei. Die geschürten Ängste vor einer erneuten Ankunft von Ge-flüchteten im Stil des Sommers 2015 nutzen Regierung, Staatsbürokratie und Medien in Deutschland, um die Auseinandersetzung mit der deutschen Beteiligung an türkischen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen zu verhindern und Proteste zu unterdrücken. Am 29. Dezember 2019 fand Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), dafür deutliche Worte: „All die Länder, die behaupten, sie seien gegen die Politik der Türkei, wollen die kurdische und die europäische Bevölkerung täuschen. Mit ihrem scheinheiligen Protest möchten sie den gesellschaftlichen Unmut und Widerstand behindern. Unter der Hand unterstützen sie Erdoğan auf jegliche erdenkliche Weise. Erdoğan wird dadurch ermutigt. Er benutzt die Beziehungen zur Europa und zur NATO. Merkel unterstützt Erdoğans Politik besonders stark. Sie macht sich dadurch mitverantwortlich für den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden. Das muss eindeutig verurteilt werden.“