Beitrag mit Radio T – Besetzung, aktuelle Lage und Kampagne (März 2020)


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.

Radio T versteht sich als lokales und zugangsoffenes Bürger*innenradio und als Bereicherung der Rundfunklandschaft, indem es sich in Programm und Struktur zu den öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Rundfunkanbietern in Sachsen abgrenzt. Die Berichterstattung soll sich auf Personen, Gruppen, Themen und Zusammenhänge konzentrieren, die in den etablierten Medien wenig oder gar nicht vorkommen. Radio T ist Mitglied im Bundesverband Freier Radios (BFR).


Beitrag vom 10.03.2020

GLIEDERUNG

1. PERSPEKTIVE ROJAVA
2. BESETZUNG DES CDU-BÜROS
3. SOLIKAMPAGNE „CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!“
4. AKTUELLE LAGE IN SYRIEN UND DEN EU-AUßENGRENZEN
5. BILDUNGSWOCHEN: „ROJAVA – EINE UTOPIE?“

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1. PERSPEKTIVE ROJAVA

Radio T: Im vergangenen Jahr wurde in Chemnitz das Büro der CDU besetzt. Anlass war der türkische Angriffskrieg gegen die kurdische Bevölkerung, der in Nord-Syrien erneut ausgebrochen war. Was aus einem Artikel des MDR
Sachsen hervorgeht, ist, dass die Polizei laut den Besetzer*innen mit viel
Gewalt das Büro geräumt hatte. Ich habe zwei der Besetzer*innen als Gäste
eingeladen, um ihnen ein paar Fragen zu stellen. Danke, dass ihr hier seid, Clara und Coco! Am 9. Oktober 2019 startete die Türkei den völkerrechts-widrigen Vernichtungskrieg gegen Rojava. Aus diesem Grund wurde Ende Oktober das CDU-Büro von Internationalist*innen besetzt. Was ist Rojava?

Clara: Im syrischen Teil von Kurdistan wurden im Zuge des Arabischen Frühlings und dem Machtvakuum des syrischen Bürgerkriegs Gebiete von der Herrschaft der regierenden Baath-Partei unter Präsident Assad durch die Selbstverteidigungs-einheiten YPG/YPJ befreit und eine Revolution ausgerufen. Umgehend wurde von der Bevölkerung mit der Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus in den Kantonen Rojavas – Afrîn, Kobanî und Cizîre – begonnen. Unter Kriegsbeding-ungen nahmen die Kurd*innen in diesen Gebieten zusammen mit den verschieden-sten ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen die Selbst-verwaltung in Angriff. Dabei mussten neben der eigenen Bevölkerung auch hunderttausende Kriegsflüchtlinge aus anderen Teilen Syriens versorgt werden, wobei UN-Organisationen nicht die geringste internationale Hilfe leisteten. Des Weiteren wurde die Revolution in Rojava zusätzlich durch ein wirtschaftliches Embargo belastet, das sowohl durch die Türkei, an welche die Kantone Rojavas angrenzen, als auch durch die kurdische Autonomieregion im Nordirak verhängt wurde. Mit logistischer Unterstützung durch die Türkei vermehrten sich schnell die Angriffe islamistischer Milizen wie der al-Nusra-Front und des Islamischen Staates (IS) auf die kurdischen Kantone. Seitdem verteidigt die Bevölkerung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien das Gebiet gegen den IS, andere dschihadistische Milizen und Angriffe imperialistischer Staaten und organisiert weiterhin erfolgreich und entschlossen die Revolution.

Radio T: Welche Bedeutung hat Rojava im Mittleren Osten?

Clara: In Nordostsyrien entwickelt sich ein demokratisches Projekt, das Menschen auf der ganzen Welt Hoffnung gibt. Rojava ist zum Symbol geworden, für eine neue Form des solidarischen Zusammenlebens, welches die Freiheit des Einzelnen, die Rolle der Frau und der Ökologie in den Mittelpunkt der Gesellschaft stellt. Die Men-schen, vor allem die Frauen in Rojava, haben nicht nur Syrien vom IS befreit, son-dern nachhaltig die verschiedensten Ethnien, Kulturen und Religionen in der Region vereint. Im Schatten von faschistischen Diktaturen und korrupten staatlichen Ver-waltungen organisieren die Menschen vor Ort demokratische Wege des gemein-schaftlichen Zusammenlebens, um jedem einzelnen, unabhängig von Herkunft und Religion, die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen. Allgemein handelt es sich bei der Praxis in Rojava also um ein Gesellschaftsmodell, welches Lösungsansätze für gesellschaftliche und zwischenstaatliche Konflikte im Mittleren Osten und auf der ganzen Welt anbietet.

Radio T: Ihr als Internationalist*innen fühlt euch sehr verbunden mit der kurdischen Freiheitsbewegung und der Selbstverwaltung. Welche
Bedeutung hat Rojava für die Internationalistische Linke?

Coco: Laut unserer Analyse erlebten Linke Bewegungen auf der ganzen Welt einen ideologischen Tiefschlag und einen immensen Verlust von Utopie und Orientierung durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Spätestens seitdem befinden wir uns in einer tiefen ideologischen und organisatorischen Krise. Einer der Gründe dafür ist eine mangelnde historische Analyse in Bezug auf das Scheitern des Realsozialis-mus und die Ableitung angemessener Konsequenzen für die politische Organisie-rung revolutionärer Bewegungen. Die internationalistische Linke ist nicht in der Lage, den gegenwärtigen Krisen der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, ge-schweige denn, sie zu bewältigen. Die Ideen von Abdullah Öcalan, dem ideologi-schen Vorreiter der Freiheitsbewegung, bieten umfassende Analysen und Lösung-en für die Krisen dieser Welt, wie das Patriarchat, den Kapitalismus und die Klima-krise. Die Konzepte, die Öcalan im 5-Personen-Gefängnis auf Imrali entwickelt hat, wo er seit seiner illegalen Verschleppung durch Geheimdienste 1999 in nahezu vollständiger Isolation gefangen gehalten wird, bieten fortschrittliche Ansätze auf dem Weg zur Befreiung der Gesellschaft von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Die Konzepte der Demokratischen Moderne, der Demokratischen Nation und der Demokratischen Autonomie, sowie das Organisierungsmodell des Demo-kratischen Konföderalismus, welche Öcalan basierend auf einer umfassenden historischen und gesellschaftlichen Analyse entwickelte, überbieten geläufige soziologische Theorien in vielen Aspekten wie Genauigkeit, Progressivität und Komplexität. Aus diesen Gründen sehen wir in der kurdischen Befreiungsbewe-gung und der praktischen Umsetzung der Theorien Öcalans in Rojava eine neue und möglicherweise weltveränderndernde Utopie, welche ein Lichtblick und Orien-tierung für fortschrittliche Bewegungen auf der ganzen Welt darstellen kann.


In diesem Lied geht es um die Suche nach der eigenen Identität in der Geschichte.


2. BESETZUNG DES CDU-BÜROS

Radio T: Aus internationalistischer Perspektive klingen die Ideen der Freiheitsbewegung ziemlich mitreißend und vielversprechend. Welche
Rolle spielt die Politik der CDU im Krieg gegen Rojava?

Clara: Die guten Beziehungen der Bundesregierung zum Türkischen Staat, türkisch-nationalistischen und faschistischen Organisationen in der Türkei und in Deutschland ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Besonders hervorzuheben ist die kontinuierliche Zusammenarbeit von Regierungsparteien wie der CDU/CSU und der SPD mit der MHP (also der Partei der Nationalistischen Bewegung) und den Grauen Wölfen, eine Organisation türkischer Rechtsextremis-ten. Durch die Genehmigung von Rüstungsexporten an die Türkei unterstützt die Bundesregierung den Krieg gegen Rojava ideologisch und militärisch. Auch durch umfassende Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei spielt die Regierung dem faschistischen Staat in die Hände. Vollständig abhängig gemacht von den politischen Zielen Erdogans hat sich die Regierung und ganz Europa durch das EU-Türkei-Abkommen von 2016. Schlussendlich arbeiten die Repressionsor-gane beider Regierungen eng zusammen. In Deutschland sind laut offizieller Infor-mation über 3000 Mitarbeiter*innen des Türkischen Geheimdienstes MIT statio-niert. Die Bundesregierung unterstützt die faschistische Kurd*innen-Politik der Türkei aktiv durch die Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung. Politische Manöver der Türkei werden traditionell begleitet von massiven Repressionswellen der deutschen Strafverfolgungsbehörden, wie zB in den
90er Jahren nach der Verschleppung von Abdullah Öcalan und auch heute,
im Zuge des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges von Erdogan.

https://youtu.be/YI5m3uWH_8Q
Dieses Lied ist insbesondere der Kämpferin Sara gewidmet, die zusammen mit den beiden anderen Revolutionärinnen Ronahî und Rojbîn im Auftrag des türkischen Geheimdienstes hingerichtet wurden. Am 9. Januar 2013 wurden die kurdischen Politikerinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez in den Räumen des Kurdischen Informationsbüros in Paris heimtückisch ermordet. Sakine Cansiz (Sara) und Fidan Doĝan (Rojbîn) wurden mit Kopfschüssen, Leyla Saylemez (Ronahî) mit Schüssen in Kopf und Bauch getötet.

Radio T: Was passierte am 25. Oktober im CDU-Büro in Chemnitz?

Clara: Um gegen die kriegerische Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der Türkei zu protestieren, besetzten am 25. Oktober 13 Internationalist*innen erfolg-reich das CDU-Wahlkreisbüro am Markt in Chemnitz. Im Verlauf eines simulierten Interviews mit der Kreisvorsitzenden gelangten die Aktivist*innen gewaltfrei und unbewaffnet in das Parteibüro. Drei der Besetzer*innen ketteten sich mit Eisen-schlössern irreversibel an eine Absturzsicherung am Fenster. Aus den Fenstern im zweiten Stock wurde während der ganzen Besetzung mit Passant*innen und der unterstützenden Kundgebung vor dem Haus der CDU-Geschäftsstelle kommuni-ziert. Während den Verhandlungen mit der Polizei und der anschließenden Räu-mung verhielten sich alle Besetzer*innen ruhig und friedlich. Durch Angebote, Provokationen und Beleidigungen von Einsatzleitung und Beamten ließen sich die Internationalist*innen nicht aus dem Konzept bringen. Trotz aller Zurückhaltung wendete die Polizei bei der Räumung permanent Schmerzgriffe und rohe Gewalt an. Nach fast vier Stunden war das CDU-Büro vollständig geräumt. Allen Beset-zer*innen wurde nach der Räumung ein Platzverweis erteilt, eine Internationalistin wurde aus inszenierten Gründenfür mehrere Stunden in der Hauptwache gefangen gehalten. Nach der Aktion suchten zwei Internationalist*innen mit Verletzungen an Kopf, Händen und Rippen einen Notfallchirurgen auf. Im Nachgang der Aktion wurden alle 13 Besetzer*innen beschuldigt, sich strafbar gemacht zu haben des Hausfriedensbruchs, der Nötigung und des Verstoßes gegen das Verbot von
Vermummung u. Schutzwaffen bei Versammlungen.


3. SOLIKAMPAGNE „CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!“

Radio T: Im Nachgang der CDU-Besetzung wird momentan eine Spendenkampagne unter dem Namen „CDU BESETZEN? UNBEZAHLBAR!“ organisiert. Welche Ziele werden mit der Kampagne verfolgt?

Clara: In der Hoffnung, eine keinesfalls vollständige, jedoch einführende Über-
sicht über die politische Motivation hinter der Besetzung, den Ablauf der Aktion
und die darauffolgende staatliche Repression geben zu können, wurde ein Blog
ins Leben gerufen: cdubesetzen.noblogs.org
Einerseits hoffen wir auf umfangreiche finanzielle, öffentlichkeitswirksame und organisatorische Unterstützung zur Realisierung unserer Spendenkampagne, andererseits ist es uns ein tiefes Anliegen, die Notwendigkeit der Verteidigung dieser einzigartigen Revolution in Rojava präsent zu halten. Der öffentliche
Umgang mit Repression soll somit nicht nur der Unterstützung der Inter-nationalist*innen dienen, sondern vor allem an den barbarischen Krieg
erinnern, der jeden Tag in Rojava tobt!

Radio T: Wie kann die Kampagne „CDU BESETZEN?
UNBEZAHLBAR!“ unterstützt werden?

Clara: Eine Spendenkampagne lebt vor allem durch Vielfältigkeit und
Multiplikator*innen. Auch wenn wir, die Internationalist*innen der CDU-
Besetzung vom 25.10.19 und unser soziopolitisches Umfeld, unser Bestes
geben, um weiterhin gegen den Genozid in Kurdistan vorzugehen, auf den
Komplex der kurdischen Freiheitsbewegung aufmerksam zu machen und die
Repressionskosten für die Verfahren im Nachgang der CDU-Besetzung zu
decken, sind unsere Möglichkeiten in Chemnitz doch begrenzt. Deswegen
brauchen wir die praktische Solidarität von euch! Wir hoffen, mit unserer
Analyse und unseren Aktionen, ein wenig für Inspiration zu sorgen und die
Notwendigkeit einer internationalistischen Intervention in Europa hervor zu
heben. Wir erwarten nicht, dass ihr eure Arbeitsschwerpunkte und sozialen
Kämpfe vernachlässigt, um uns zu unterstützen, aber wir wünschen uns ein
wenig Rückhalt und gedankliche Teilhabe. Wir hoffen darauf, dass ihr unsere
Kampagne und unsere Ziele bei euren Projekten mitdenkt.
Wir freuen uns auf eure Aktionen und Spenden!

Radio T: Auf der Website der Kampagne wurden verschiedene
Möglichkeiten aufgeführt, wie die Kampagne von Einzelpersonen
oder Gruppen, Vereinen und anderen Organisationen unterstützt
werden kann. Könnt ihr das etwas konkretisieren?

Coco: Macht über eure Internetkanäle, analoge Medien und in euren Räumlich-keiten auf den Krieg in Kurdistan, die CDU-Besetzung in Chemnitz und die Soli-kampagne aufmerksam! Schickt unseren Spendenaufrauf an alle befreundete Gruppen / Vereine / Organisationen. Je mehr Menschen von der Kampagne erfahren, desto mehr Spenden können aquiriert werden und umso mehr Men-
schen werden auf den unmenschlichen Krieg in Kurdistan aufmerksam!

Clara: Überlegt, ob in euren Räumlichkeiten oder in anderen Locations Soli-
material (Plakate, Flyer) aufgehängt oder verteilt werden können. Fragt direkt in den Locations, ob das möglich ist oder schickt uns gern eine Liste und wir übernehmen die Kommunikation. Wir bemühen uns, das Solimaterial zeitnah zu verschicken!

Coco: Überlegt, ob ihr als Gruppe / Verein / Organisation, Geld für die Soli-kampagne spenden könnt, um somit die Kampagne und Repressionskosten
teilweise zu finanzieren. Erzählt euren Mitgliedern und eurem Publikum von der Kampagne und bittet sie um eine Spende. Auch kleine Beträge sind wertvoll!

Clara: Überlegt, ob ihr Kapazitäten habt, um Spendenaktionen zu starten. Zum Beispiel könnt ihr bei euren Veranstaltungen Spenden sammeln. Auch in soli-
darischen Clubs oder bei kulturellen – oder Bildungsveranstaltungen können Spendendosen am Einlass aufgestellt werden. Mit einer Essensbude, einer
Cocktailbar oder anderen Verkaufsständen bei Festivals, Stadtfesten oder Nach-barschaftsevents kann schnell und einfach viel Geld eingenommen werden. Durch Solipartys kann in kurzer Zeit sehr viel Geld eingenommen werden. Es gibt viele Möglichkeiten! Schreibt uns gern an, um eure Ideen zu diskutieren oder falls ihr euch organisatorische Hilfe wünscht. Schickt uns gern Fotos von euren Aktionen!

Coco: Wenn ihr Kontakt zu Journalist*innen, Medienschaffenden oder Presse-vertreter*innen habt, oder es in eurer Stadt ein cooles Stadtmagazin gibt, könnt
ihr anfragen, ob die Möglichkeit besteht, unseren Spendenaufruf abzudrucken, ein Interview mit uns zu führen oder auf andere Weise auf die Kampagne aufmerksam zu machen! Andernfalls freuen wir uns auch über die Vermittlung von Kontakten oder Hinweise auf Medien, welche uns unterstützen könnten!


4. AKTUELLE LAGE IN SYRIEN UND AN DEN EU-AUßENGRENZEN

Radio T: Mit der Besetzung wolltet ihr auf den Krieg in Rojava aufmerksam machen, wie ist die Lage aktuell in Nord- und Ost-Syrien?

Coco: Im Januar/Februar 2018 erfolgte die Annexion von Afrin durch die Türkei und ihre dschihadistischen Verbündeten. Seitdem erlebt die lokale Bevölkerung die Er-richtung eines islamischen Kalifats. Damit einher gehen die Durchsetzung der Ge-setze der Sharia (v.a. durch FSA- u. Al-Nusra-Kämpfer, wovon besonders Frauen u. ethn. Minderheiten betroffen sind), Prozesse der ethnischen Säuberung, Vertrei-bung von Kurd*innen u. Armenier*innen, Vergewaltigungen, Entführungen u. Löse-gelderpressung und barbarische Exekutionen. Die Islamisten, welche Afrin beset-zen, widmen sich der Zerstörung von kulturellen u. religiösen Einrichtungen, Bau-werken und Gedenkstätten. Außerdem bemüht sich der türkische Staat um die Ansiedlung von dschihadistischen (meist arabischen) Familien aus der Türkei u. Syrien zur demografischen Veränderung der Region. Mit Befreiung der letzten Hochburg des IS in al-Bagouz wurde ein militäri-scher Sieg der YPG/YPJ über den sog. Islamischen Staat in Rojava errungen. Am 9. Oktober 2019 erfolgte schließlich der Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffs-krieges der Türkei auf die demokratische Selbstverwaltung. Die Angriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien nahmen nach dem Sieg über IS zu und mündeten schließ-lich in der Invasion, die mit Hilfe islamistischer Proxys im Dienste Ankaras seit knapp 4 Monaten andauert. Der türkische Besatzungsstaat führt gemeinsam mit seinen Dschihadistenmilizen und unter Einsatz von Panzergeschützen, Bodenartil-lerie, Kampfdrohnen und Kriegsflugzeugen entlang der gesamten Grenze zu Nord-syrien und Nordostsyrien genozidale Angriffe durch. Hervorzuheben sind beson-ders Angriffe der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Söldnertruppen auf Gefängnisse und Camps in Rojava, wo besonders viele IS-Kämpfer leben. Infolge dieser Angriffe gelang es hunderten Dschihadisten, zu fliehen – viele von ihnen reorganisierten sich nachweislich in islamistischen Milizen wie Jabhat al-Nusra und der FSA in Syrien. Der Großteil der Bodentruppen Erdogans besteht aus Söldnern der Freien Syrischen Armee, die sich nun „Syrische Nationale Armee“ nennen. Die-se Truppen wurden von der Türkei aus verschiedenen sunnitisch-muslimischen arabischen und turkmenischen bewaffneten Gruppen zusammengestellt. Alle Gruppen, die nun diese neue Bodentruppe bilden, sind in der Vergangenheit durch Kriegsverbrechen bekannt geworden. Die Mehrheit von ihnen hat direkte oder indirekte Beziehungen zum Islamischen Staat (IS). Die Aufstellung und Unterstüt-zung von dschihadistischen Söldnertruppen durch die Türkei, deren Zusammen-arbeit sowie weitreichenden Verbindungen zum IS sind ebenfalls während dieser Invasion dokumentiert worden. Der türkische Staat setzt dabei dschihadistische Gruppen als institutionellen Bestandteil seiner Bodentruppen ein, um die Beset-
zung aufrecht zu erhalten und die Bevölkerung in den eroberten Gebieten zu unterdrücken.


(deutsch)

Radio T: Wie geht die Türkei gegen Rojava vor?

Coco: Allgemein setzt die türkische Armee auf unterschiedslose Kriegsführung. Insbesondere entlang der Grenzlinie wurden und werden zivile Siedlungsbiete intensiv bombardiert. Nach QSD-Angaben hat die Türkei seit Beginn des Krieges gegen Nordsyrien über 380 Luftangriffe durchgeführt. Weitere knapp 1.100 Angriffe erfolgten mit Panzern, schweren Waffen und weiterer Bodenartillerie. Die Unter-schiedslosigkeit der türkischen Kriegsführung zeigt sich in Angriffen auf Personen der Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel die gezielte Attackierung von zivilen Kon-vois. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise ist die Hinrichtung der Politikerin Hervin Khalaf von der Zukunftspartei Syriens und ihrer Begleitpersonen.

Hevrin Khalaf, gewaltvoll ermordet von Dschihadisten von Ahrar al-Sharqiya in der Nähe der Verkehrsstraße M4 am 12. Oktober 2019

Zusätzlich nahmen mit Beginn der Invasion dschihadistische Anschläge in den Gebieten der Selbstverwaltung zu, wie etwa Selbstmordattentate und Autobomben im Zentrum von Städten. Die gezielte Zerstörung von ziviler Infrastruktur, wie der Bombardierung von Krankenhäusern, Trinkwasserversorgungsanlangen und der Stromversorgung, sowie der Begrenzung der Wasserzufuhr nach Syrien durch Stauung und Regulation der Wasserdurchlässigkeit von Staudämmen in der Türkei, verstehen wir als massiven Angriff auf die Zivilgesellschaft. Die Auswirkungen die-ser Kriegsführung äußern sich durch Wasserknappheit in den Städten und Dörfern Rojavas, folglich in der Einschränkung der Möglichkeiten der Landwirtschaft und massiver Versorgungsknappheit durch die Behinderung der autarken Lebensmittel-produktion. Von international anerkannten Wissenschaftler*innen wurde der Einsatz von weißem Phosphor gegen die Zivilgesellschaft bestätigt. Weißer Phosphor ist die gefährlichste Form des Phosphors. In Brandbomben wird die Substanz mit Kautschukgelatine versetzt. Somit bleibt die zähflüssige Masse an der bis dahin noch nicht brennenden Person, die Kontakt mit dem Kampfstoff hatte, haften und wird weiter verteilt. Neben der Brandwirkung und den schwer heilenden Verletzung-en sind weißer Phosphor und seine Dämpfe hochgiftig. Der Einsatz von Phosphor-bomben als Brandwaffen gegen Zivilpersonen ist entsprechend dem Verbot von unterschiedslosen Angriffen in den Zusatzprotokollen zur Genfer Konvention ver-boten. Es wurde dokumentiert, dass türkischen Streitkräfte in bewohnten Regionen wie Serêkaniyê und Girê Spî Chemiewaffen vor allem gegen Frauen und Kinder eingesetzt haben. Die OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) hatte eine Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze in Nordsyrien aufgrund fehlen-den Mandats abgelehnt, nachdem sie eine Spende über 30.000 Euro von der Tür-kei erhalten hatte. Die Besatzungstruppen greifen trotz angeblichem Waffenstill-standsabkommen weiterhin großflächig die selbstverwalteten Gebiete in Rojava an. Die Städte Serêkaniyê und Girê Spî, sowie die umliegenden Gebiete sind durch die Absegnung Russlands und der USA vollständig von der Türkei und ihren verbündeten Truppen besetzt worden.

Radio T: Welche demografischen Auswirkungen zeigen sich jetzt, 4 Monate nach Beginn des großangelegten Angriffskrieges der Türkei in Rojava?

Coco: Trotz größter Anstrengung konnte im Zuge des Angriffskrieges nur ein Teilgebiet von Rojava erobert werden. Das besetzte Gebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze (also Gire Spi, Serekaniye) erstreckt sich ca 30km von der türkischen Grenze aus nach Süden und ca 170km entlang der Grenze. Dieses Gebiet entspricht ungefähr 10% der Gesamtfläche der Demokratischen Admini-stration Nord- u. Ostsyrien. Es gibt anhaltende Invasionsangriffe seitens der türki-schen Armee und der mit ihr verbündeten Truppen auf die Regionen und Städte von Tel Temer und Ayn Issa sowie an vielen Stellen entlang der internationalen Ver-kehrsstraße M4, um diese Städte zu kontrollieren und zu isolieren. Zudem wird die Bodeninvasion weiterhin durch Luftangriffe von türkischen Kampfflugzeugen und Drohnen (UAV) unterstützt. Infolge dieser Angriffe sind knapp 400.000 Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. Ca 500 Zivilist*innen wurden getötet, weitere 2.700 verletzt. Die QSD erwidern jegliche Art von Angriff auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung. Die QSD unterstreichen die besondere Rolle der Frauenverteidigungseinheiten YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) beim Widerstand in Rojava. Im Zuge der Verteidigung wurden 1.500 türkische Soldaten und islamisti-sche Proxys getötet. Knapp 300 Angehörige der Invasionstruppen wurden verletzt. Infolge dieser Verstoße ist es bisher zu ca 500 Verlusten in den Reihen der Demo-kratischen Kräfte Syriens gekommen. 1.500 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt, weitere 70 Angehörige sind in Gefangenschaft geraten.


In diesem Lied geht es um die Verteidigung Rojavas.

Durch die türkische Invasion in Nordsyrien wurden hunderttausende Menschen zu Geflüchteten und Binnenvertriebenen, die sich noch immerin dem von der autono-men Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens verwalteten Gebiet befinden. Seit dem 2. November wurden ca 400.000 Menschen durch die türkische Invasion vertrie-ben, Frauen und Kinder sind dabei von gravierenderen Auswirkungen betroffen. 150.000 davon befinden sich nun in der Jazeera-Region. Die Geflüchtetenlager in Rojava, welche auch Tausende Menschen aufgenommen haben, die vor den Aus-wirkungen des Syrienkrieges fliehen mussten, sind maßlos überfüllt und erhalten keinerlei humanitäre Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen.

Radio T: Während der CDU-Besetzung wurden von den Internatio-
nalist*innen konkrete Forderungen verlesen. Welche Forderungen
stellt ihr nun in Anbetracht der aktuellen politischen Lage in Rojava
an die Internationale Gemeinschaft?

Clara: Unverzüglich müssen folgende Maßnahmen von der internationalen Gemeinschaft ergriffen werden, um die physische und soziale Krise zu
beenden, die durch die türkische Invasion verursacht wurde und in deren
Rahmen Gewalt, Vertreibung, Kriegsverbrechen, Not und Menschenrechtsverletzungen verübt werden:

• die Einrichtung einer “Flugverbotszone” über Nordsyrien zum Schutz
der Zivilbevölkerung vor willkürlicher Gewalt und Massakern

• der sofortige Rückzug der türkischen Besatzungsarmee und aller mit ihr verbundenen bewaffneten Gruppen aus dem Territorium Syriens, sowie die Beendigung der Besetzung, der Völkermordpraktiken und des Feminizids

• die Einrichtung einer Friedensmission der internationalen Gemeinschaft an
der türkisch-syrischen Grenze zur Verhinderung weiterer Angriffe der türki-
schen Armee und all ihrer verbündeter Milizen

• die umgehende Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei
und die sofortige Einstellung des gesamten Waffenhandels mit der Türkei

• und schließlich Sofortmaßnahmen zur umfangreichen humanitären Unter-stützung der Regionen der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens

Radio T: Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Türkei auf die Selbst-
verwaltung ist nicht das einzige Schlachtfeld Erdogans in Syrien. Seit Februar scheint die militärische Situation um Idlib zu eskalieren. Was
genau bedeuten die Gefechte in der Region nördlich von Aleppo?

Coco: Entsprechend der Versprechungen von Russland und dem syrischen Re-gime zur Erhaltung der Souveränität Syriens befreiten syrische Truppen im Februar die letzten Rebellengebiete nördlich von Aleppo. Durch massive Bom-bardierungen des syrischen Regimes auf Militärstützpunkte von FSA und Al-Nusra wurden türki-sche Soldaten getötet, welche sich in den Stellungen ihrer verbündeten Dschihadis-ten aufhielten. Daraufhin begann die Türkei, massiv Truppen nach Idlib zu verlegen und Vergeltungsschläge gegen syrische Truppen zu verüben. Die Luftschläge der türkischen Armee konnten nur durch die Eröffnung des Luftraumes durch Russland ermöglicht werden, was ein weiteres Anzeichen für die Doppelmoral der russischen Syrienpolitik darstellt. Die schweren Gefechte in Idlib zwischen türkischen Truppen und dem syrischen Regime sind Ausdruck des Scheiterns der internationalen Mächte. Das Scheitern der Türkei drückt sich aus in der inneren politischen und wirtschaftlichen Krise der Türkei (auch durch die Beteiligung der Türkei im syri-schen Bürgerkrieg) und dem Scheitern der politischen Einflussnahme in Syrien durch die Zerschlagung der Rebellenhochburgen von Al-Nusra und FSA. Das Scheitern der Türkei zeigt sich auch in einer zunehmenden Destabilisierung des politischen Ansehens der Türkei in der EU und im Westen durch Verhandlungen mit Russland und kriegerischen Handlungen entgegen internationaler Konventionen u. NATO-Bestimmungen. Auch aufgrund des Verkaufs der S400-Raketensysteme von Russland an die Türkei scheiterten die Hoffnungen Erdogans auf militärische Unterstützung der NATO und der USA in den Kämpfen um Idlib auf der Seite der türkischen Armee. Das Scheitern westlicher Staaten drückt sich aus in dem Ver-sagen bei dem Versuch einer einheitlichen europäischen Syrien-Politik mit dem Ziel der Beendung des Krieges in Syrien zur Auflösung von Fluchtursachen und der Demokratisierung der Region. Der momentane Höhepunkt im Syrienkrieg bewirkt erneut massive Fluchtbewegungen innerhalb von Syrien. Der Westen scheiterte auch bei der Bekämpfung des Terrorismus in Syrien durch Toleranz von Rebellen-hochburgen und der terroristischen Kriegsführung Erdogans, sowie politischer und militärischer Unterstützung an die Türkei.

Radio T: Am 5. März 2020 schlossen Putin und Erdogan einen vorläufigen Waffenstillstand durch das Moskauer Abkommen. Könnte sich dadurch
die Situation zwischen Russland und der Türkei in Syrien entspannen?

Clara: Das Moskauer Abkommen zwischen Putin und Erdogan ist schwammig und widersprüchlich. Es beinhaltet das Ziel der Aufrechterhaltung des Sotschi-
Abkommens vom September 2018. Beide Kriegsparteien haben als Grund für Kampfhandlungen Verletzungen des Sotschi-Abkommens genannt, allerdings scheinen Putin und Erdogan die Bestimmungen des Abkommens unterschiedlich zu interpretieren. Erdogan erklärte, dass die Türkei jeden Angriff des syrischen Regimes erwidern wird u. dass ein „neuer Status in Idlib“ unausweichlich sei. Putin hingegen beruft sich auf den Schutz der Souveränität und der territorialen Gesamt-heit Syriens, was als klare Absage an Erdogans hegemoniale Absichten in Idlib verstanden werden kann. Außerdem konstituierte Putin erneut die Notwendigkeit des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Diese Erklärungen deuten darauf hin, dass der ausgehandelte Waffenstillstand zwischen den beiden Groß-mächten nicht von Dauer sein wird. Ebenso werden im Rahmen des Abkommens viele Streitpunkte offen gelassen, wie zum Beispiel der Umgang mit den inter-nationalen Verkehrswegen M4 und M5, sowie den kürzlich von Assad zurück-eroberten Gebieten nördlich von Aleppo. Perspektivisch kann davon ausgegangen werden, dass Erdogan zur Reorganisierung der hegemonialen Macht der Türkei in Syrien weiterhin versuchen wird, Gebiete zu annektieren, vor allem in Rojava. Was Erdogan mit seiner Forderung nach einem neuen Status für Idlib vorschwebt, ist die Aufrechterhaltung seines Einflusses in der Region. Wenn er Idlib nicht vollständig halten kann, will er zumindest einen Teil des Gebiets einschließlich Efrin, Gire Spi und Serekaniye zum Ausbau seiner politischen und wirtschftlichen Interessen in der Hand behalten. Russland wird seine politische Präsenz in Syrien und im Mittleren Osten beibehalten und weiterhin danach streben, seine politische Einflussnahme in dieser Region zu konsolidieren.

Radio T: Im Zusammenhang mit Erdogans kriegerischen Absichten in Syrien öffnete die Türkei kürzlich die Grenze zu Griechenland für Geflüchtete. Was bedeutet diese Maßnahme für die EU und wie ist die Situation vor Ort?

Coco: Durch die Öffnung der Grenze zu Griechenland durch die Türkei wird das EU-Türkei-Abkommen (2016), der sog. Geflüchtetendeal, faktisch außer Kraft gesetzt. Erdogan benutzt schutzsuchende Menschen als Druckmittel gegen die EU, um militärische Unterstützung und weitere Gelder für die Finanzierung seines Krieges zu erpressen. Derzeit befinden sich ca 13.000 Geflüchtete an der Grenze der Türkei zu Griechenland. Die türkische Regierung betont, dass täglich tausende Menschen hinzukommen können. Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die Türkei aktiv und gewaltvoll Menschen dazu drängt, die Grenze zu Griechenland zu passieren. Das griechische Militär hat bereits zwei schutzsuchende Menschen an der Grenze erschossen und geht mit Schusswaffen, Tränengas und körperlicher Gewalt gegen die Geflüchteten vor. Griechenland hat faktisch das europäische Asylrecht außer Kraft gesetzt und bekannt gegeben, für einen unbefristeten Zeit-raum keine Asylanträge zu bearbeiten. Menschen, die es geschafft haben, die Grenze zu passieren, sind der Gefahr ausgesetzt, direkt durch den griechischen Grenzschutz unter Anwendung von menschenunwürdigen Praktiken zurück in die Türkei abgeschoben zu werden oder mit Angriffen militanter Faschist*innen kon-frontiert zu sein. Seit der Grenzöffnung der Türkei wurden mehrere Angriffe von griechischen Neonazis auf Infrastrukturen von Geflüchtetencamps und Hilfsorgani-sationen dokumentiert. Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von NGOs wurden bereits wiederholt gewaltsam attackiert. Aufgrund der asylpolitischen Haltung der EU zugunsten der Fluchtursachen und zu missgunsten der Geflüchteten in den letzten Jahrzehnten, sowie der Aussetzung des EU-Türkei-Abkommens durch die kürzliche Grenzöffnung erleben wir ein enormes Erstarken der militanten rechts-extremen Bewegungen in Europa, vor allem in EU-Grenzländern. Durch die gesell-schaftliche Toleranz und Ignoranz gegenüber faschistischen Strukturen in Europa, war es diesen möglich, in den letzten Jahrzehnten umfassende Netzwerke aufzu-bauen und eine gemeinsame Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Gewaltbereite Faschist*innen organisieren nicht nur illegale Aktivitäten im Untergrund, sondern verbreiten unter dem Schutz des Parlamentarismus legal ihre menschenverach-tenden Ideologien. Nun mobilisieren Rechtsextreme in ganz Europa an die Außen-grenzen, um die Abschottungspolitik in europäischer Tradition auf eigene Initiative fortzuführen. Die Reaktionen der Bundesregierung und der EU auf die Ereignisse an der türkisch-griechischen Grenze verstärken diese Entwicklungen ideologisch massiv. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dankte Griechen-land dafür, dass „Europäische Schild“ zu sein und sagte weiterhin: „Die Türkei ist kein Feind und Menschen sind nicht nur ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen.“ Basierend auf der Argumentation der Kontrollsicherung und der Verhinderung
von gesellschaftlicher Destabilisierung unterstützt die EU die Abschottungs-
und Aufrüstungsprozesse an der griechischen Grenze. Erst kürzlich bewilligte
die EU 700 Millionen Euro für den griechischen Grenzschutz.

Radio T: Was muss in der Welt passieren, damit der Krieg in Syrien und die neoosmanischen Bestrebungen der Türkei eingedämmt werden können?

Clara: Es gibt keine einfache oder vollständige Antwort auf diese Frage, aber wir teilen die Analyse, dass internationale Phänomene sowohl in ihren Ursachen, als auch in ihren Auswirkungen behandelt werden müssen. Bei der Behandlung von Ursachen des Krieges bedarf es einer grundlegenden Veränderung der politischen Haltung des Westens zum Mittleren Osten, vor allem zur Türkei – hin zu einem lösungsorientierten außenpolitischen Handeln. Es bedarf wirtschaftlicher Konse-quenzen (zum Beispiel der Stoppung laufender Rüstungsexporte u dem Abbruch der Zusammenarbeit mit staatlichen Wirtschaftsakteuren in der Türkei). Bei der Behandlung von Auswirkungen des Krieges bedarf es der sofortigen Öffnung der EU-Grenzen für Schutzsuchende, sowie einer grundlegenden Reorganisierung der europäischen Asylpolitik. Es bedarf einer massiven Verfolgung von IS-Kämpfern und islamistischen Organisationen in Deutschland und auf der ganzen Welt. Allgemein muss jedoch, besonders in Ostdeutschland, der Kampf gegen den Faschismus in den Parlamenten, den Medien und auf Straße kontinuierlich
und ehrgeizig geführt werden.


In diesem Lied geht es um den Widerstand der Guerilla in Kurdistan.


5. BILDUNGSWOCHEN: „ROJAVA – EINE UTOPOIE?

Die Menschen, welche die Veranstaltungen organisieren, wollen gemeinsam mit
den Besucher*innen die verschiedenen Aspekte der Selbstverwaltung und der Freiheitsbewegung kennenlernen und diskutieren. Dazu laden sie alle herzlich ein, zu der Veranstaltungsreihe „ROJAVA – eine Utopie?“, die von März bis Mai an unterschiedlichen soziokulturellen Orten in Chemnitz stattfinden wird.

Themen:
• Einführung Rojava
• Geschichte der kurdischen Bewegung
• Jugendbewegung in der Türkei
• Widerstand in türkischen Foltergefängnissen (Diyabakir)
• Demokratischer Konföderalismus
• Geschichte der Frauenbefreiungsbewegung
• Jineoloji
• Ökologie / Klimagerechtigkeit und Antifaschismus
• BRD und Türkei

Anmerkung: Die Verantstaltungsreihe „Rojava – Eine Utopie?“ wurde aufgrund der Corona-Krise auf unbestimmte Zeit vertagt.

Chronologie des Krieges in Nord- und Ost-Syrien und der Revolution in Rojava (2018 – 2020)


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


JANUAR 2018

Nach mehrmaligen Drohungen und Bombardements fielen islamistische Milizen
mit Hilfe der türkischen Armee und Luftwaffe am 20. Januar in das bis dahin vom Bürgerkrieg nahezu verschont gebliebene Efrîn ein. Damit begann die türkische Militäroperation mit den zynischen Namen „Olivenzweig“. Am 25. Januar rief die Selbstverwaltung des Kantons das syrische Regime auf, seine Grenzen gegen
die türkischen Angreifer zu schützen. Trotz schwerster Bombardierungen
schafften es YPG und YPJ größere Landgewinne der islamistischen und türkischen Truppen zu verhindern.


FEBRUAR UND MÄRZ 2018

Die SDF unterbrachen die Offensive in Richtung Deir ez Zor und verlegte große Teile ihrer Truppen nach Efrîn und Minbic. Der türkische Staat verschaffte mit seinem Angriff auf Êfrin DAIŞ eine Galgenfrist, die tausende IS-Kämpfer nutzten um unterzutauchen, ins Ausland zu gehen oder Schläferzellen aufzubauen,
welche teilweise noch heute existieren.

Turkish-backed FSA fighters hold Turkish national flag and FSA flags at a checkpoint in Azaz on a road leading to Afrin (01.02.2018)

Nach intensiven Kämpfen, in denen die schwer bewaffnete türkische Armee permanent von der Luftwaffe und zehntausenden jihadistischen Söldnern unter-stützt wurde, konnten die Invasionsstreitkräfte schließlich am 18. März die Kon-trolle über ganz Afrîn übernehmen. Mehrere Hunderttausend Menschen flohen in die Region Şahba und andere Teile von Nordsyrien. Man kann davon ausgehen, dass sowohl die USA als auch Russland dem Einmarsch zugestimmt hatten. Während Russland offenbar den Riss zwischen der Türkei und den USA vertiefen und dabei die NATO schwächen will, wollen die USA Erdoğan bei der Stange halten und die Demokratische Föderation zumindest teilweise von sich abhängig machen.

Die YPG und YPJ sowie die Bevölkerung von Afrîn leisteten 58 Tage einen histori-schen Widerstand. Wohl kein Staat der Region hätte so lange einer türkischen Militäraggression standhalten können. Nachdem die äußeren Verteidigungslinien im Gebirge zusammengebrochen waren und international keinerlei Unterstützung zu erwarten war, entschieden sich die YPG und YPJ dazu, sich aus der Stadt zurück-zuziehen. Die türkische Armee war inzwischen dazu übergegangen, zivile Einrich-tungen, u.a. das Krankenhaus von Afrîn, gezielt zu bombardieren, wo hunderte Verletzte untergebracht waren. Erdoğan erklärte wiederholt, dass die Operation auf den gesamten Norden Syriens ausgedehnt werden würde, als auch auf die anderen Kantone Rojavas – mit der Perspektive, sogar in den Irak einzumarschieren. Auch Luftschläge gegen die ezidische Region Şengal und den Nordirak riefen keine internationalen Proteste hervor.

25 ezidische Dörfer in Afrîn wurden durch die Besatzung der Türkei und ihrer Verbündeten im Frühjahr 2018 weitgehend entvölkert. Es war das letzte zusam-menhängende Siedlungsgebiet von Ezid*innen in Syrien. Die Afrîn-Besetzung durch die türkische Armee im März 2018 hat die meisten Ezid*innen in die Flucht getrieben. Die SOHR (Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte) meldete fast täglich Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention durch die islamisti-schen Milizen und belegte diese mit Videos aus den Sozialen Netzwerken, in denen auch immer wieder türkische Militäruniformen auftauchen. Die türkische Regierung schweigt zu diesem Thema.

Am 24. Feburar beschloss der UN-Sicherheitsrat einstimmig einen 30 Tage dauernden Waffenstillstand, von dem der IS, die al-Nusra-Front, al-Qaida und mit ihr verbündete Gruppierungen, sowie andere vom UN-Sicherheitsrat festgelegte Terrororganisationen, ausgenommen waren. Die Türkei kündigte unterdessen an, ihre Militäroffensive trotz der UNO-Resolution fortzusetzen. Am 13. März standen die türkischen Truppen an der Stadtgrenze von Efrîn. Sie kappten die Wasser und Stromversorgung der Stadt. Ab dem 14. März begann die Evakuierung der Stadt-bevölkerung. Am 18. März zogen sich alle in der Stadt verbliebenen SDF-Kämpfer*innen zurück. Der Co-Vorsitzende der Regionalverwaltung des Kantons verkündet in einer Fernsehansprache den Guerilla-Krieg, der andauern wird, bis sich alle Besatzer aus Efrîn zurückgezogen haben.


MAI BIS OKTOBER 2018

Die „Befreiungskräfte Efrîns“ (HRE) gründeten sich und führen bis heute einen erfolgreichen Guerilla-Krieg gegen die Besatzungstruppen in Efrîn.

Logo der HRE

Im Sommer 2018 haben die DFNS und der MSD mit der syrischen Regierung die bisher umfassendsten Gespräche über einen Frieden und eine politische Lösung in Syrien begonnen. Ohne eine Übereinkunft, dessen sind sich beide Seiten bewusst, kann sich der Krieg weitere Jahre in die Länge ziehen – mit ungewissem Ausgang. Diesen Gesprächen stellen sich die USA und Russland offenbar nicht entgegen, während die Türkei dies verhindern möchte. Ob es wirklich zu einem Friedens-schluss kommt, ist angesichts der vielen Risikofaktoren schwer abzuschätzen.

Es kam zu Gefechten mit dem Regime, wie am 8. September 2018 in Qamişlo
in der Nähe des immer noch vom syrischen Staat kontrollierten Flughafens.
Sieben Mitglieder der Sicherheitskräfte [der Autonomieverwaltung] Asayîş kamen
ums Leben als Soldaten des Regimes versuchten, kurdische Jugendliche zum Militärdienst zu zwingen.

Die Offensive gegen DAIŞ in Richtung Deir ez Zor wurde wieder aufgenommen. Nachdem Ende des Sommers die SDF nahezu das gesamte Gebiet im Norden der Stadt Deir ez Zor vom IS befreit hatten und dieser die Stadt im Süden kaum noch gegen die Regime-Truppen halten konnte, griff die Türkei in der Region um Kobanê an. Dadurch brach die SDF die Offensive abermals ab um sich auf eine mögliche türkische Invasion vorzubereiten.

Am 15. August 2018 wurde Zekî Şengalî aus der Leitung der YBŞ
(Widerstandseinheiten Şengal) im nordirakischen Şengal Ziel des Angriffs
einer türkischen Bayraktar TB2 Drohne.

Sehid Zekî Şengalî

ANF: PKK-Erklärung zum Anschlag auf Zekî Şengalî


DEZEMBER 2018

Am 12. Dezember gab die Türkei bekannt, unter Billigung US-amerikanischer Verluste in die Gebiete der Autonomieverwaltung östlich des Euphrat ein-marschieren zu wollen.

Am 14. Dezember meldeten die SDF die Eroberung von Hadschin, der letzten größeren Ortschaft in Syrien, die noch unter Kontrolle der Terrorgruppe IS stand.


FEBRUAR UND MÄRZ 2019

Nachdem in der Region mehr als 20.000 Zivilisten evakuiert worden waren, starteten die SDF mit US-Unterstützung am 9. Februar eine Offensive gegen die letzten verbliebenen IS-Stellungen mit Schwerpunkt im Ort al-Baghuz Fawqani. Am 16. Februar nahmen die SDF das Dorf al-Baghuz Fawqani ein und reduzierten somit das letzte verbliebene Gebiet in Syrien, das unter Kontrolle von DAIŞ
stand, auf eine Fläche von 5 km².

Am 19. Februar unterbrachen die SDF ihre Offensive, um Kämpfern und
Zivilisten die Möglichkeit zur Aufgabe zu bieten. Am 6. März gaben etwa 2000
IS-Kämpfer und ihre Familien auf und ließen sich von der SDF festnehmen. Dazu konnten dutzende Jesid*innen befreit werden, die von DAIŞ als Sklav*innen gehalten worden waren. Am 13. März ergaben sich weitere 3000 Kämpfer
und ihre Familien der SDF.

Am 19. März drangen SDF-Kämpfer*innen auf das Gelände mit der Zeltstadt
vor, das DAIŞ-Kämpfer bis zuletzt verteidigt hatten. Die folgenden Tage kam es
nur noch zu einzelnen Schusswechseln in dem verzweigten Tunnelsystem,
welches der IS angelegt hatte.

Am 21. März, dem kurdischen Newroz-Fest, welches den höchsten Feiertag in der kurdischen Kultur und generell ein wichtiges Datum in Mesopotamien darstellt, konnten die SDF den territorialen Sieg über den „Islamischen Staat“ feiern.


SOMMER 2019

Türkische Agenten legten fast täglich Brände in Weizenfeldern und zerstörten
somit über die Hälfte der Getreideernte. In Efrîn brannten türkische Agenten
tausende Olivenbäume nieder, passend zum Namen des Angriffs auf Efrîn (Operation „Olivenzweig“).

Die Antiterroreinheit der SDF nahmen über 50 Islamisten von
DAIŞ-Schläferzellen gefangen.


9. OKTOBER 2019

Der türkische Staat begann mit Hilfe der aus islamistischen und faschistischen Milizen bestehenden SNA („Syrische National-Armee“) die militärische Invasion „Operation Friedensquelle“ zwischen Girê Spî und Serêkaniyê, nachdem zwei
Tage zuvor der Abzug der dort stationierten US-Truppen begann.

Unter türkischem Oberbefehl nach Nordsyrien entsandte sunnitische Milizen präsentieren im Oktober 2019 die FSA Flagge.


OKTOBER BIS DEZEMBER 2019

Bis zum 12. Oktober haben die türkischen Truppen und ihre Proxys Serêkaniyê und 14 Dörfer eingenommen. Am 13. Oktober eroberten die SDF Serêkaniyê zurück. Am 22. Oktober handelte der russische Präsident mit der AKP-Führung einen Waffenstillstand über Nordsyrien aus. Das Abkommen von Sotschi umfasst den Rückzug der SDF und die Besatzung des Gebietes von Girê Spî bis Serêkaniyê auf eine Tiefe von 30 km durch die Türkei. Am 24. Oktober ziehen sich die letzten SDF-Kämpfer*innen aus Serêkaniyê zurück, um der Einkesselung zu entgehen. Die wichtige Verkehrsstraße „M4“ bleibt durch den entschlossenen Widerstand der SDF unter Kontrolle der Autonomieverwaltung.

Aus dem Gefängnis-Lager Ain Issa flohen mehrere Hundert Frauen, die DAIŞ angehören, mit ihren Kindern.

Die Autonomieverwaltung vereinbarte mit dem Syrischen Regime, dass Regime-Truppen in Kobanê und Minbic zur Sicherung der Grenze und für den Kampf gegen die türkischen Truppen stationiert werden dürfen. Einen Tag später übernahmen die Truppen des Regimes die US-Kasernen in den beiden Städten.

In der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober töten Einheiten der Delta Force zusammen mit Kräften der Antiterror-Einheit der SDF, welche auch die Vor- und Recherchearbeit machten, den „Kalifen des DAIŞ“ Abu Bakr al-Baghdadi.

Die vereinbarte Waffenruhe ist de facto nie in Kraft getreten und so gehen die Angriffe der SNA-Milizen täglich weiter. Infolge der Angriffe sind schätzungsweise 2000 IS-Kämpfer aus mehreren Gefängnissen ausgebrochen und DAIŞ fängt an sich zu reorganisieren. Ab Mitte November kam es täglich zu neuen Anschlägen des IS in Syrien und dem Irak. Die Gefechte um Til-Temir, Ain Issa und südlich von Serêkaniyê zwischen der SNA und der SDF gehen weiter.


JANUAR 2020

Die Gefechte um Til-Temir, Ain Issa und um die Handelsroute M4 gehen weiter. Nahezu 400.000 Binnenflüchtlinge sind durch die türkische Invasion in andere Teile Nord- und Ost-Syriens geflohen. Ca. 600 Zivilisten*innen sind durch die Angriffe der türkischen Armee und die SNA-Truppen umgekommen. Dutzende Schulen und Krankenhäuser wurden durch die türkische Luftwaffe bis zur Vernichtung bombar-diert. Die Trinkwasserversorgung ist in vielen Gebieten zerstört oder nur einge-schränkt möglich. In den besetzten Gebieten herrscht die SNA mit türkischen Beamten und die islamistische Auslegung der Sharia ist als Rechtsprechung eingeführt worden. Alle Errungenschaften der Revolution, wie etwa für die Gleich-stellung der Frau sind abgeschafft worden. Die Selbstverwaltung wird nicht zugelassen. Es kommt, wie in Efrîn, täglich zu Plünderungen, Entführungen mit Lösegelderpressungen, Versklavungen, sexueller Gewalt, Hinrichtungen und Schaustellung von Leichen oder Körperteilen.