Dreimonatsbilanz der Besatzung von Girê Spî


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 30.Januar 2020

Die Nachrichtenagentur ANHA veröffentlichte eine Dreimonatsbilanz der Besatzung von Girê Spî durch die türkische Armee und Söldner der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA). Aufgrund der am 9. Oktober 2019 einsetzenden Invasion sind mindestens 300.000 Menschen in Nord- und Ostsyrien in die Flucht getrieben worden. Berichte aus der Region zeugen von alltäglichen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Dschihadisten in besetzen Gebieten in Rojava


Vertreibung und „ethnische Säuberung“

Das türkische Regime hat tausende Menschen aus Girê Spî vertrieben und verfolgt das Ziel, die Bevölkerungsstruktur nachhaltig zu verändern. Anstelle der Vertrie-benen wurden Dschihadisten und ihre Familien angesiedelt. Der türkische Staat bezeichnet diese Dschihadisten immer wieder als die ursprünglichen Besitzer der Stadt. Es handelt sich jedoch um Personen aus Azaz, Cerablus, al-Bab und Idlib. Laut ANHA wurden alleine in den Vierteln Leyl und Djawish 180 Familien von Dschihadisten angesiedelt. Außerdem wurden etwa 500 aus dem Gewahrsam der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in die Türkei entflohene IS-Dschihadisten durch den türkischen Staat als SNA-Söldner in Girê Spî eingesetzt. Nach der Bombardierung des Camps Ain Issa durch die türkische Luftwaffe entkommene
IS-Frauen wurden in den Orten Ain Erus, Leyl, Ermen und Cisir angesiedelt.

Türkisierung der Stadt

Die Besatzungstruppen richteten sich zunächst gegen die historischen Strukturen und die wichtigen Institutionen der Stadt. So wurde an allen Schulen Türkisch als verpflichtende Unterrichtssprache eingeführt und muttersprachlicher Unterricht verboten. Straßen, Plätze, Schulen, Krankenhäuser und Dienstleistungs-einrichtungen wurden systematisch nach Dschihadisten oder auch mit militaristischen türkischen Namen umbenannt und vielerorts türkische
Fahnen gehisst. Darüber hinaus wurden türkische Ausweise verteilt,
während Personen mit syrischen Ausweisen festgenommen werden.

Hungersnot in der Stadt

In der Stadt herrscht Hunger und es kommt immer wieder zu Protesten gegen die sich kontinuierlich verschlechternde wirtschaftliche Lage. Die Lebensbedingungen sind katastrophal. Die Versorgung mit Strom und Brennstoff ist nicht gegeben. Insbesondere das Fehlen von Trinkwasser und Brot macht das Leben schwer. Die Menschen müssen Stunden anstehen, um Brot zu erhalten. Die Silos und Lager-stätten der Dorfbevölkerung wurden von den SNA-Söldnern geplündert. So wurden aus dem Lager Dihêz 50.000 Tonnen Getreide gestohlen. Das Qizelî-Depot ist durch die Angriffe unbenutzbar. Diese Politik wird vom türkischen Staat bewusst umgesetzt, um die Menschen in Flucht zu zwingen.

Entführungen und extralegale Hinrichtungen

Immer wieder kommt es zu Entführungen im Zusammenhang mit Lösegeld-erpressungen, aber auch zu extralegalen Hinrichtungen.

So wurden die Söhne des ehemaligen Leiters des Ain-Issa-Camps, Heyen Ayaf (16) und Abdulrahman Ayaf (18), entführt. Die Dschihadisten verlangten ein hohes Lösegeld. Die jungen Männer sind bis heute verschwunden.
Aus dem arabischen Stamm der Abu Asaf wurden zehn Zivilisten verschleppt, aus dem Dorf Dadat Dutzende mehrheitlich turkmenische Jugendliche.
Ein Zivilist, der bei Sukeriye Hilfsgüter an Dorfbewohner verteilte, wurde verschleppt. In Zeydî, etwa 30 Kilometer entfernt von der Gemeinde Silûk, stürmten SNA-Söldner fünf Wohnungen und entführten 20 Personen, die meisten davon Minderjährige. Die anderen arabischen Familien aus dem Dorf wurden vertrieben. Auch im Dorf Ain Erus wurden Häuser gestürmt und eine unbekannte Zahl von Jugendlichen verschleppt. Die SNA-Dschihadisten plündern Läden und ermorden Zivilist*innen. In Erîda wurden Mahmud Zahir (60) und Berho Elo (65) aus bisher unbekanntem Grund getötet. Ein weiteres Beispiel ist der Taxi-Fahrer Ammar Haci, der entführt und von den Dschihadisten grausam ermordet wurde.

Folter und Haft für Kinder und Jugendliche

Aus dem Dorf Celkê wurde Mihemed Bozan Seyid entführt. Er wurde tagelang von den SNA-Milizionären gefoltert. Anschließend sind vier weitere Kinder im Alter von 13 bis 15 Jahren entführt worden. Obwohl das Dorf umstellt war, konnten die übrigen Familien sichere Gebiete bei Ain Issa erreichen. Von den Kindern gibt es keine Nachricht. Nach Angaben lokaler Quellen befinden sich in den Dörfern bei Girê Spî Gefängnisse, in denen Kinder und Jugendliche gefoltert werden.

Frauen zur Verschleierung gezwungen

Mit der Rückkehr der IS-Dschihadisten hat auch die Gewalt gegen Frauen zugenommen. Frauen werden wieder gezwungen, sich zu verschleiern. So kam es beispielsweise im Cisir-Viertel zu einem sexualisierten Angriff durch SNA-Milizionäre. Auf protestierende Anwohner*innen wurde das Feuer eröffnet. Aus dem Dorf Hiwecaye wurden drei Frauen entführt. Yara Ahmed aus der Gemeinde Ain Erus wurde entführt und gefoltert.

Fadiya Şerîf Xelîl aus der Leitung eines Camps für Binnenflüchtlinge aus Girê Spî berichtet ebenfalls, dass sich die Situation für Frauen in den besetzten Gebieten massiv verschlechtert habe. Frauen, die noch in den besetzten Gebieten leben, seien systematischer Gewalt ausgesetzt und keine Menschenrechtsorganisation helfe ihnen.

ANF, Serêkaniyê: Sexualisierte Gewalt durch Besatzungstruppen, 29.01.20

Aufstände unter der Parole „Besatzer raus“

Nach brutalen Angriffen des türkischen Staates haben insbesondere auch arabische Stämme die Region verlassen. Verbliebene Mitglieder des Begare-Stammes waren Angriffen der SNA-Milizionäre ausgesetzt. Nach mehreren Morden haben auch dessen Angehörige die Region verlassen. Dennoch taucht den Wänden der Stadt die Parole „Tod Erdoğan“ und „Besatzer raus“ auf. In Silûk, Ain Erus, Ali Baciliye und im Zentrum von Girê Spî fanden trotz der oft tödlichen Repression Protestaktionen statt. Fawad Ali aus Girê Spî erklärt: „Die arabischen Stämme lehnen die türkische Besatzung ab. Niemand darf gegenüber den Verbrechen des türkischen Staats schweigen. Durch die Entschlossenheit der Völker und ihren Aufstand werden die Besatzer besiegt werden. Die Stämme in Girê Spî müssen ihren Protest gegen die Türkei aufrechterhalten.“

Milizionäre werden nach Libyen geschickt

Ein Teil der SNA-Söldner wird von der Türkei zur Unterstützung des dortigen Muslimbruderregimes nach Libyen geschickt. Nach Angaben aus der Region wurden fast 1.000 Söldner von Girê Spî nach Libyen verlegt. Den islamistischen Truppen wird dafür ein Sold von 2.000 Dollar monatlich versprochen.

Jahresbilanz der YPJ 2019


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle: ANF, 01.01.2020, Jahresrückblick:
Die Rolle der YPJ im Widerstand von Rojava

Die Journalistin Avrîn Masûm vom kurdischen Fernsehkanal Ronahî TV sprach mit Kurdistan Waşokanî, der YPJ-Kommandantin der Euphrat-Region, über die Entwicklungen im Jahr 2019, die Ziele der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien sowie die Pläne der Frauenverteidigungseinheiten YPJ für 2020.

Was waren die wichtigsten Entwicklungen
im vergangenen Jahr in Nord- und Ostsyrien?

Vom Winter 2018 bis zum Frühjahr 2019 haben die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), darunter die YPG und die YPJ sowie alle regionalen Kräfte, am großen Widerstand in der Wüstenregion Deir ez-Zor teilgenommen. Im Frühjahr wurde Daesh („Islamischer Staat“) in der Region al-Bagouz besiegt. Deshalb brachte die Feier des Newroz-Tages die schönste Botschaft an die kurdische Bevölkerung, den Sieg der Freiheitskämpfer*innen. Die Niederlage von Daesh zwang ihre Förderer wie den türkischen Staat, Katar und die imperialistischen Kräfte, neue Pläne zu entwickeln, um Daesh zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen. Der türkische Staat wurde zum Repräsentanten von Daesh, indem er drohte, Rojava und die Regionen Nord- und Ostsyriens anzugreifen. Mit diesen Drohungen sollte Angst in den Herzen der Menschen geschürt sowie die Stabilität und Freundschaft, die sich in dieser Region zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, zerstört werden. Daesh hat durch brutale Enthauptungen Angst verbreitet, der türkische Staat tat dies mit seinen Drohungen und Angriffen.

Mit der Feier von Newroz trafen wir uns als Verteidigungskräfte mit der Bevölkerung in der ganzen Euphrat-Region, um ein neues Leben mit zivilen und militärischen Volksräten aufzubauen. Auf diese Weise wollten wir als militärische Kraft unsere Bevölkerung mobilisieren, sich dem Widerstand anzuschließen und unseren Erfolg gegen Daesh zu sichern. Auf dieser Grundlage begannen wir in allen Bezirken der Euphrat-Region Räte aufzubauen, wie in Tabqa, Raqqa, Minbic, Kobanê und Girê Spî. Unser Ziel war es, die Gesellschaft wieder aufzubauen und zu reorganisieren, die Menschen zu informieren und ihnen das System und die Ideen Rebêr Apos [Abdullah Öcalans] näher zu bringen. Die arabische, kurdische und turkmenische Bevölkerung hat diese Arbeiten mit Freude aufgenommen. Sie sahen darin eine Möglichkeit, in Frieden und auf einer selbst geschaffenen Basis leben zu können.

Rebêr Apo sagte: „Jede Pflanze wächst auf ihren eigenen Wurzeln.” Seit acht Jahren haben sich die Menschen in dieser Region dem enormen Widerstand gegen Daesh angeschlossen und schließlich haben wir Daesh besiegt. Das war eine große Freude für die Menschen in der Region. Deshalb wollen wir dieses Glück in ein System des Lebens, eine Philosophie, eine Idee verwandeln, die wir mit allen Menschen teilen. Alle wollten Lösungen für ihre Probleme in der Region finden und einen neuen Willen als Menschen dieser Region entwickeln.

Welche Rolle haben die Frauen beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und den Selbstverteidigungsräten gespielt?

Wenn du die Frau befreien kannst, kannst du die Gesellschaft befreien. Wenn eine Gesellschaft um Frauen herum aufgebaut wird, entsteht auch eine gewisse Ethik. Das erschreckt die reaktionären Kräfte des dominanten männlichen Systems am meisten. Viele Menschen schauen mit Zweifel auf diese Versammlungen und Räte und fragen sich, ob die Menschen der Region in der Lage sein werden, sich selbst zu verwalten, zu schützen und zu organisieren. Wir, als Kinder und Kämpferinnen dieses Landes, glauben an uns selbst, weil wir eine achtjährige Prüfungsphase bestanden haben. Unsere Prüfung war eine Revolution. Das hat den Wandel unseres Kampfes in eine soziale, kulturelle und politische Revolution ermöglicht. Diese Realität hat Frauen dazu gebracht, an sich selbst zu glauben. Die kurdischen Frauen und auch die arabischen Frauen haben an Moral und Mut gewonnen. Dies ermöglichte es Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen der Region, diese Philosophie besser kennen und verstehen zu lernen und Teil dieses Widerstandes zu werden. Damit gaben sie ihren eigenen Völkern eine Antwort. Das hatte auch großen Einfluss auf die Männer und die arabische Gesellschaft.

In Minbic, Kobanê, Tebqa und Girê Spî sind 50 Prozent der Frauen in den YPJ-Einheiten junge arabische Frauen. Wir wissen, dass in der kurdischen und arabischen Gesellschaft Frauen seit langer Zeit nur als Hausfrauen gesehen wurden, die Kinder aufziehen, Essen zubereiten und die Bedürfnisse der Männer erfüllen. Aber heute haben der Wille der Frauen und ihr Einsatz in den Verteidigungseinheiten eine Angst im Herzen des reaktionären und staatstragenden Mannes ausgelöst. Das schafft großen Mut in den Herzen aller Frauen, die in den Räten die Stimme der eigenen Bevölkerung werden wollen. Der Stolz über ihre Teilnahme bringt ihren natürlichen Willen zum Vorschein. So werden sie zu einem Vorbild für alle Frauen in der Region.

Die Teilnahme der syrisch-arabischen Frauen bei den QSD wurde zu einem Thema, das die Welt interessiert. Der Widerstand dieser Frauen gibt auch den Frauen in anderen Teilen der Welt großen Mut. Die Frauenarmee der YPJ hat das materielle und moralische Erbe der Gesellschaft zurückgewonnen, das der Gesellschaft vorenthalten worden war.

Das Engagement von Führern der arabischen Stammesgemeinschaften hat zu einem größeren Respekt gegenüber den politischen und militärischen Räten geführt. Alle Frauen, sowohl kurdische als auch arabische, spielen eine wichtige Rolle in diesen Räten. Auch die Suryoye-Frauen haben eigene Räte aufgebaut. Sie haben auch anderen Frauen des Mittleren Ostens vorgeschlagen, diese Erfahrungen zu nutzen und sie als Basis für den Widerstand in ihren eigenen Ländern zu nehmen.

Im Jahr 2019 haben sich viele Menschen den Verteidigungskräften angeschlossen, besonders den YPJ. In den Regionen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung arabisch ist, gab es anfangs eine Art Angst vor der Beteiligung von Frauen, weil dadurch meist eine Revolution in der eigenen Familie ausgelöst wird. Die Teilnahme von Frauen an den YPJ findet nicht nur auf militärischer Ebene statt, sondern schafft eine soziale, politische, kulturelle und moralische Revolution. Besonders in feudalen arabischen Gesellschaften, in denen Frauen ans Haus gefesselt sind und ohne Erlaubnis des Mannes nirgendwo hingehen können, bedeutet dies eine grundlegende Veränderung. Heute diskutieren Frauen in ihren Räten soziale und familiäre Fragen. Dass sie politische Fragen diskutieren, um eine Lösung für die Region und für Syrien zu finden, ist eine Revolution an sich. Dies ist der Erfolg der sozialen Revolution, die einen politischen und kulturellen Wandel in der arabischen Gesellschaft ermöglicht hat.

Welche Auswirkungen hat die Beteiligung von Frauen
auf die verschiedenen Teile der Gesellschaft?

Frauen haben mehr an Einfluss gewonnen. Aus der Sicht des Mittleren Ostens findet ein Mann, der in die Armee eintritt, nicht viel Interesse, weil es als Arbeit für Männer angesehen wird. Alle Armeen werden von Männern aufgebaut und Männer haben die Pflicht, zum Militär zu gehen. Aber die Teilnahme von Frauen an den militärischen Verteidigungskräften, insbesondere von arabischen Frauen, ist keine gewöhnliche Sache. Das trägt dazu bei, dass in allen Köpfen eine Revolution ausgelöst wird. Denn die Frauen hatten Augen, konnten aber nicht sehen. Sie hatten eine Zunge, konnten aber nicht sprechen. Diese Situation hat sich nun geändert. Die Frauen sind jetzt zu Vorreiterinnen der Revolution und der Zukunft einer ethischen und politischen Gesellschaft geworden.

2011 begann die Revolution im Mittleren Osten im Namen einer Revolution der Völker. Danach machte sich die Muslimbruderschaft diese zunutze und wollte die Revolution an sich reißen. Sie startete die ersten Angriffe auf Rojava. Aber die Revolution ließ sich nicht ersticken. Trotz der Angriffe des Systems verlor die Revolution hier nicht ihre Hoffnung. Nur in Rojava wurde der Wille der Bevölkerung nicht verfälscht und nicht seiner Essenz beraubt. Gegen die Angriffe Erdogans auf Rojava hat sich die Welt erhoben. Denn Daesh ist der Feind der ganzen Welt und der Menschheit. Es war die kurdische Bevölkerung, die Menschen dieser Region und besonders die Frauen, die gegen Daesh gekämpft haben.

Zur gleichen Zeit haben wir unsere Institutionen aufgebaut. Der Demokratische Syrienrat (MSD) wurde als die Generalversammlung Syriens gegründet, um ein Projekt für ein demokratisches Syrien zu entwickeln, das die Krise überwinden kann. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurden zu ihrer militärischen Kraft. Die Revolution wurde zu einer Revolution im Mittleren Osten und beeinflusste die ganze Welt. Denn generell gibt es gerade einen Mangel an ethischen und politischen Bewegungen. Die europäischen Bewegungen, die behaupten, die ethischsten zu sein, führen oft eine Politik der Täuschung mit sich. Aber Politik ist ein Weg sowie eine Methode des Lebens, die Lösung des Lebens und die Einheit des Denkens und Handelns. Aus diesem Grund hat das Beispiel der Revolution in Rojava und der Aufbau ihrer Institutionen einen großen Einfluss auf die Region gehabt. Hierdurch wurde das kurdische Volk endlich als Menschen in der globalen Gesellschaft akzeptiert.

Was ist das Ziel der Angriffe des türkischen
Staates auf Nord- und Ostsyrien?

Hinter den Angriffen des türkischen Staates auf Rojava stehen diejenigen, die Erdogan die Erlaubnis zum Angriff gegeben haben. Es sind die Kolonialmächte, die kein Lösungsprojekt für den Mittleren Osten haben und die Krise nur vertiefen wollen. Es gibt zwei Hauptkräfte in der Region, die USA und Russland. Sie erkennen die Bevölkerung nicht an. Sie erkennen ihre regionale, soziale, kulturelle und militärische Existenz nicht an. Mit dieser Revolution hat ihnen die Gesellschaft die Augen geöffnet und ist wieder zum Leben erwacht. Diese Mächte lehnen die Autonomie und Eigenständigkeit der Gesellschaft ab. Deshalb haben sie sie in eine Krise gestürzt.

Seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hat die Türkei Angst davor, weitere Gebiete zu verlieren. Die Kurd*innen, Alevit*innen und Armenier*innen fordern immer noch ihre Rechte ein. Aber die Türkei verweigert sie ihnen. Deshalb versucht die Türkei, die kurdische Bevölkerung, die Stabilität und ein autonomes System geschaffen hat, zu beseitigen.

Aber die Bevölkerung akzeptiert die Allianz zwischen Erdogan, Putin und Trump nicht. Die Angriffe gegen Serêkaniyê und Girê Spî haben die Welt dazu gebracht, sich zu erheben und zu erklären, dass dieser Angriff unmoralisch ist. Es ist ein politischer und imperialistischer Angriff. Auch die amerikanische Bevölkerung und der US-Senat haben sich gegen Trump erhoben. Was den Weg für die türkische Invasion geöffnet hat, war die russische und US-amerikanische imperialistische Politik, die keinen Respekt vor der Bevölkerung hat und ohne jegliche Moral, nur nach ihren Profitinteressen handelt. Jeden Tag werden Frauen und Kinder getötet. Sie werden zu Flüchtlingen und leben in Zelten. Der Angriff wurde von den imperialistischen Staaten gegen die Stabilität, den Widerstand und die Kultur der Menschen in unserer Region verübt.


YPJ-Kommandantin Kurdistan Waşokanî
(Foto: YPJ-Generalkommandantur)


Gegen den Einmarsch des türkischen Staates, der sich „Friedensquelle” nennt, haben Sie die Kampagne „Berxwedana Rûmetê” (Widerstand der Würde) gestartet. Welche Rolle spielen die YPJ in dieser Kampagne, besonders in der Euphrat-Region?

Der Name der türkischen Operation ist ein Schwindel. Hitler hat Millionen von jüdischen Menschen im Namen der Gewinnung von Lebensraum vergast. Jeder Diktator und jeder Tyrann benutzt den Namen der Demokratie, um eine Maske zu schaffen, um sein wahres Gesicht zu verstecken. Also nannte Erdogan diese Operation „Friedensquelle”, um sein wahres Gesicht zu verbergen.

In unserem Land gab es keinen Krieg, für den die Türkei den Frieden bringen konnte. Alle lebten friedlich in ihrer Existenz. Es gab keine Probleme unter den Menschen. Derjenige, der das Problem erst geschaffen hat, ist der türkische Staat selbst. Unsere Aufgabe als Bevölkerung der Region und der Verteidigungskräfte war es, die Grenztruppen zu mobilisieren, die Region zu schützen und Räte zu bilden. Unser Widerstand gegen diesen Krieg, der großes Elend über die Menschen gebracht hat, wird fortgesetzt.

Junge kurdische und arabische Frauen haben sich in lebendige Schutzschilde verwandelt. Obwohl die Panzer des Feindes über die Leichen unserer Freundinnen rollten, haben sie ihre Stellungen nicht aufgegeben. Sie haben ihr Land verteidigt. Ihre Haltung war ethisch und kulturell. Das Prinzip der Welatparêzî (Liebe und Schutz des Landes) bedeutete, Widerstand zu leisten, ohne den Tod zu fürchten. Junge kurdische Frauen kämpften bis zum letzten Atemzug für die Würde dieses Landes. Sie sagten ‚Frauen sind nicht eure Ehre, unsere Ehre ist unser Land’. Hunderte von jungen Frauen wie Zin, Amara und Sara opferten sich und verließen ihre Positionen nicht. Als Freiheitskämpferinnen setzen wir unseren Widerstand bis zum Sieg fort, damit alle friedlich auf dem Land Rojavas leben können. Alle unsere Freundinnen und Freunde, Weggefährtinnen und Weggefährten, Genossinnen und Genossen stehen an der Front, um gegen diese illegitimen Angriffe Widerstand zu leisten.

Mit der Invasion des türkischen Staates soll der Willen rebellischer Frauen gebrochen werden, wie wir es bei den Angriffen auf die Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, Hevrin Xelef, und YPJ-Kämpferinnen wie Çîçek Kobanê und Amara Rênas gesehen haben. Wie sehen und bewerten Sie das?

Dieser Krieg wird gegen Frauen, Gesellschaft und Moral geführt. Um diesen Krieg zu beenden und den Sieg zu erringen, hatten wir nie einen Ansatz, der auf dem Konzept unseres Daseins als „Ehre” basiert. Denn als Frauen nehmen wir unsere Ehre als unser Land, unsere Kultur, unsere Ethik und unsere politische Identität wahr. Wir überwinden das feudale Konzept, das die Frau nur als Ehre ansieht. Mittlerweile stehen Hunderte von Frauen an der Front. Bei diesen brutalen Angriffen sind viele unserer Freundinnen gefallen, andere fielen in die Hände des Feindes. Sie wollen unseren Willen und unsere Würde brechen. Aber mit dem Mord an einer Frau geben Frauen nicht auf. Unser Körper kann gefangen genommen werden, aber sie werden niemals in der Lage sein, unsere Herzen und unseren Verstand zu erobern. Wir haben unseren Körper diesem Land geopfert. Das ist der Preis für die Freiheit, denn Freiheit kann nicht ohne einen Preis erreicht werden. Der Feind sagt: „Tötet zuerst die Frauen! Verletzt sie, nehmt sie gefangen!” Damit soll der Willen der Frauen und der Gesellschaft gebrochen werden. Denn Frauen sind die Identität der Gesellschaft und repräsentieren die Prinzipien des Lebens. Durch die Versklavung der Frauen will der Feind unsere Gesellschaft domestizieren und unsere Bevölkerung dazu bringen, den Kopf zu senken. Aber wir sagen zu den Menschen: „Geratet nicht in die Fallen des Feindes!“

Jetzt nehmen neue Kämpferinnen die Namen Hevrin und Amara an und schließen sich den Reihen der Verteidigungskräfte an. Dies ist auch eine starke Reaktion auf Erdogan, der den Willen der Bevölkerung und der freien Gesellschaft brechen will. Durch die Verstärkung der YPJ-Einheiten, die Stärkung und Ausbildung der YPJ-Kämpferinnen geben wir die stärkste Antwort auf diese Angriffe.

Wie reagiert die Bevölkerung der Euphrat-Region auf diese Angriffe?

Die Revolution in dieser Region ist noch nicht sehr alt. Minbic wurde 2016 und Tabqa 2017 befreit. Aber die arabische Bevölkerung in dieser Region wurde zu einem lebenden Schutzschild und übernahm ihre Rolle an der Seite der Freiheitskämpfer. Sie machte keinen Schritt zurück. Die arabische Bevölkerung und alle weiteren Menschen kamen zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen Erdogan zusammen.

Dieser Angriff ist das Ergebnis einer politischen Übereinkunft, denn der Vertrag von Lausanne wird damit beendet und das Staatssystem wird wieder aufgebaut. Aber wir akzeptieren diese politischen Vereinbarungen gegen uns nicht und wir werden uns auch nicht ihren Abmachungen und Geschäften unterwerfen.

Was sind Ihre Pläne für 2020?

Unser Plan für das neue Jahr ist es, unsere Ausbildungen zu stärken. Wir bereiten unsere Kräfte vor und bilden sie aus, damit sie in der Lage sind, diesen Angriffen zu widerstehen und unsere Gesellschaft politisch weiterzuentwickeln. So stärken wir unsere Kommunen und Volksräte. Wir werden tun, was notwendig ist, um uns mit einer revolutionären Philosophie schützen zu können, damit die Revolution wieder aufgebaut und verteidigt werden kann.

Meine letzte Botschaft an die kurdische Bevölkerung ist, dass wir uns gegenseitig stärken, wenn wir uns an dem anhaltenden Widerstand beteiligen. Wir müssen aufhören, kleine Berechnungen in Bezug auf Familien- oder Stammesinteressen anzustellen. Wir müssen unsere nationale Einheit aktiv aufbauen und uns zusammenschließen, um einen gemeinsamen politischen und militärischen Willen zu schaffen.

Wir danken den Menschen auf der ganzen Welt, dass sie uns in unserem politischen, sozialen und ethischen Widerstand gegen diesen Besatzungskrieg begleitet haben. Als kurdische Frauen und Frauen des Mittleren Ostens werden wir weiterhin Schulter an Schulter gegen den Faschismus Widerstand leisten.

Die deutsche Übersetzung des TV-Interviews erschien erstmalig bei Women Defend Rojava.

Jahresbilanz der QSD 2019


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.

Fahne der QSD, 2019

Quelle: ANF, QSD stellen Jahresbilanz des Widerstands vor, 03.01.2020

Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) haben ihre Jahresbilanz zum Widerstand gegen die völkerrechtswidrige Invasion der Türkei in Nord- und Ostsyrien sowie zum Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) vorgestellt. Der Bericht enthält neben einer Übersicht zu den Kriegshandlungen der türkischen Armee und ihren dschihadistischen Verbündeten im Zuge des andauernden Angriffs auf die selbstverwalteten Gebiete in Rojava seit dem 9. Oktober 2019 auch Details zur Offensive gegen den sogenannten IS, dessen Territorialherrschaft in Syrien im vergangenen März mit der Befreiung der letzten IS-Bastion al-Baghouz zerschlagen wurde.

Das gesamte Jahr 2019 war geprägt vom Widerstand der Völker Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Staat, den IS und andere Aggressoren und Invasoren, die Macht- und Territiorialansprüche stellen. Nach dem im Jahr 2011 ausgebrochenen „Bürgerkrieg“ leidet das Land heute unter einem Stellvertreterkrieg. Inmitten verworrener Konflikte angesichts der Akteurskonstellation führen die Menschen in Rojava seitdem einen unerbittlichen revolutionären Kampf, um ihre Würde und Freiheit zu verteidigen.

„Der Widerstand, den wir heute vorbringen, hat mit dem Willen der Menschheit, für gemeinsame freiheitliche Werte einzutreten, ein internationalistisches Niveau erreicht. Aufgrund dieser Haltung stellt der Angriff des Besetzerstaates Türkei ein nationales Problem dar.

Unseren Kräften ist es gelungen, die Territorialherrschaft des IS zu zerschlagen und das perfide System der Sklaverei zu beenden. Um den Frieden und die Sicherheit der Völker in der Region zu gewährleisten, haben die QSD ihre Verantwortung gegen alle Arten von Angriffen, Besetzungen und Terrorismus bedenkenlos auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung erfüllt. Der 23. März 2019 markierte den Zeitpunkt, an dem wieder Frieden einkehrte. An diesem Tag wurde al-Baghouz, die letzte Bastion der Terrororganisation IS in der ostsyrischen Region Deir ez-Zor, befreit. Damit wurde der Kampf gegen die verbleibenden IS-Schläferzellen beschleunigt“, erklären die QSD einleitend in ihrer Bilanz.

1.306 Islamisten in drei Monaten getötet

„Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten wurde die Kleinstadt Hajin sowie ihr Umland im Rahmen unserer Offensive ‚Gewittersturm Cizîrê‘ befreit. Im Zuge dessen konnte der Tod von 1.306 IS-Dschihadisten festgestellt werden. Mehr als 29.600 Mitglieder der Terrororganisation und Angehörige wurden gefangengenommen. Insgesamt ist ein etwa 7.000 km² großes Gebiet vom Terror befreit worden.

Während der Offensive sind große Mengen an militärischem Rüstungsgut und Munition, Dokumenten und Kommunikationsgeräten sichergestellt worden. Bei mehr als 40 Spezialeinsätzen unserer Antiterror-Einheiten konnten zudem zahlreiche Anschläge und Massaker vereitelt werden. Außerdem sind weitere vier Operationen gegen Schläferzellen, die vom türkischen Geheimdienst MIT koordiniert wurden, durchgeführt worden.

Eigene Verluste

Im Rahmen unseres Kampfes gegen den Terror sind insgesamt 256 unserer Freundinnen und Freunde im selbstlosen Widerstand gefallen. An der erfolgreichen Operation, die zum Tod von IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi führte, waren neben US-Truppen und Kräften der internationalen Koalition gegen den IS gleichermaßen unsere Kräfte beteiligt.“

Legitime Selbstverteidigung gegen die Invasion

Die QSD machen darauf aufmerksam, dass die Angriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien nach dem Sieg über den IS zunahmen und schließlich in der Invasion mündeten, die mit Hilfe islamistischer Proxys im Dienste Ankaras seit knapp drei Monaten andauert. Zu den Geschehnissen seit Beginn des Angriffskrieges teilen die QSD mit: „Der türkische Besatzungsstaat führt gemeinsam mit seinen Dschihadistenmilizen und unter Einsatz von Panzergeschützen, Bodenartillerie, Kampfdrohnen und Kriegsflugzeugen entlang der gesamten Grenze zu Nordsyrien und Nordostsyrien genozidale Angriffe durch. Infolge dieser Angriffe sind knapp 400.000 Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. 522 Zivilist*innen wurden getötet, weitere 2.757 verletzt.

Die türkische Armee setzt auf unterschiedslose Kriegführung. Insbesondere entlang der Grenzlinie wurden und werden zivile Siedlungsbiete intensiv bombardiert. Die QSD erwidern jegliche Art von Angriff auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung.“

Zahlen und Fakten zum Krieg der NATO-Partners Türkei in Rojava

Nach QSD-Angaben hat die Türkei seit Beginn des Krieges gegen Nordsyrien insgesamt 379 Luftangriffe durchgeführt. Weitere 1.021 Angriffe erfolgten mit Panzern, schweren Waffen und weiterer Bodenartillerie. Im Zuge der Verteidigung wurden 1.534 türkische Soldaten und islamistische Proxys getötet. Weitere 294 Angehörige der Invasionstruppen wurden verletzt.

Bilanz über vernichtetes Rüstungsgüter

Panzer (7), gepanzerte Truppenfahrzeuge (17), Schützenpanzer vom Typ BMP-1 (11), sonstige militärische Fahrzeuge (69), Fahrzeuge mit aufmontierter Flugabwehr (11), Arbeitsmaschinen (2), Motorräder (2).

Plädoyer

Wie es abschließend in der Bilanz heißt, greifen die Besatzungstruppen trotz angeblichem Waffenstillstandsabkommen weiterhin großflächig die selbstver- walteten Gebiete in Rojava an. Infolge dieser Verstoße ist es bisher zu 508 Verlusten in den Reihen der Demokratischen Kräfte Syriens gekommen. 1.547 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt, weitere 73 Angehörige sind in Gefangenschaft geraten. Die Städte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) sind durch die Absegnung Russlands und der USA vollständig von der Türkei besetzt worden. Die QSD unterstreichen die besondere Rolle der Frauen- verteidigungseinheiten YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) beim Widerstand in Rojava.

Der türkische Faschismus als politische Strategie


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Quelle:
Civaka Azad – Faschismus als Strategie

Wer heute Türkei sagt, muss auch Faschismus sagen. Auf den tiefgreifenden Wandel des Mittleren Ostens reagiert der türkische Staat mit der Bündelung all seiner Kräfte. Denn seine Ideologen und Staatseliten haben „Großes“ vor. Sie möchten den Zerfall von Ländern wie Syrien, dem Irak oder Libyen nutzen, um
den eigenen Einfluss – im Falle Nordsyriens und des Nordiraks sogar das
eigene Staatsgebiet – auszuweiten.

Mit dem seit 2017 eingeführten Präsidialsystem hat sich die Türkei ganz
offiziell eine autoritäre Ordnung gegeben, die alle verfügbaren Kräfte in Büro-
kratie, Militär, Medien und Wirtschaft bündeln soll. Was in deutschen Medien
gern als schwer zu verstehender Wahnsinn des verrückten Autokraten Erdoğan dargestellt wird, ist jedoch eine wohl überlegte strategische Ausrichtung des türkischen Staatsapparates.

Der deutsch-türkischen strategischen Partnerschaft hat all das keinen Abbruch getan. Ganz im Gegenteil scheinen Bundesregierung und Staatsbürokratie in Deutschland entschlossen zu sein, der Türkei mit aller Kraft beizustehen. Immer wenn der türkische Partner gefährlich ins Straucheln gerät, springt man ihm mit Flüchtlingsabkommen oder pompösen Staatsbesuchen bei.


Präsidialsystem statt Republik in der Türkei

Wer die tagespolitischen Manöver eines Akteurs verstehen möchte, muss sich mit dem Charakter des Akteurs selbst beschäftigen. In unserem Falle also mit dem türkischen Staat und der AKP-MHP-Regierung. In seiner fünften Verteidigungs-schrift setzt sich Abdullah Öcalan sehr ausführlich mit den historischen Wurzeln, den Gründungsumständen und verschiedenen Machtzirkeln des türkischen Staates auseinander. In Bezug auf die Machtergreifung der AKP im Jahr 2002 und die seit dem andauernde Strategie des türkischen Staates macht Öcalan in dem Buch u.a. folgende Beobachtungen:

„Die AKP wurde vom amerikanisch-englisch-israelischen Dreiergespann aufge-baut, um der Hegemonie dieser drei Länder im Mittleren Osten zu dienen. Die AKP fordert als Gegenleistung für ihre Dienste, einen größeren Anteil zu erhalten. Dafür sollen der Druck der Armee auf sie abgeschwächt, in Zukunft von Putschen gegen sie abgesehen und ihr ein größerer Anteil an der Ausbeutung des Mittleren Ostens zugesprochen werden. Israel hält die noch in ihren Jugendjahren begriffene anato-lische Bourgeoise für etwas exzentrisch und erwartet daher, dass sie demütigere Forderungen stellt. Das türkische Mantra, man sei eine `regionale bzw. globale Macht`, betrachtet Israel als überzogen und fordert von der Türkei realistisch anzu-erkennen, wer in der Region und weltweit wirklich eine hegemoniale Position ein-nimmt. Die der AKP zugesprochene Rolle ist es, den schiitischen Nationalismus des Iran, den arabischen radikalen Islamismus und den laizistischen Nationalismus abzuschwächen und in das hegemoniale System zu integrieren. Es ist offensicht-lich, dass der Türkei auf Ebene von Armee und Außenpolitik eine derartige Rolle gegeben wurde. Die AKP wird dieser Rolle auch gerecht. Während in Verbindung mit diesen Themen öffentlich der Eindruck erweckt wird, man befinde sich im Konflikt miteinander, handelt es sich um ein abgekartetes Spiel. Die Widersprüche in der Frage nach dem Anteil an der Ausbeutung des Mittleren Ostens sind jedoch real. Es handelt sich aber auch hier um Widersprüche, die innerhalb des Systems gelöst werden können. Mittel- und langfristig betrachtet wird es unausweichlich sein, dass die AKP eine vollständige Synthese mit dem hegemonialen System eingeht. Sollte sie eigensinnig werden und ein Bündnis mit dem Iran und dem radikalen Islam, gar mit dem aufgeklärten Islam eingehen und dadurch dem hegemonialen System Schwierigkeiten bereiten, wird es ihr nicht anders
ergehen, als ihren Vorgängern oder der CHP.“

Demonstration „STOP ERDOGAN“ in Geneva, Dezember 2016

Die Worte Öcalans aus dem Jahr 2011 helfen uns die Türkei im Jahr 2020 besser zu verstehen. Mit der Machtergreifung der AKP hat die Türkei eine neue strategi-sche Ausrichtung übernommen. Sie positioniert sich damit innerhalb des grund-legenden Umbruchs, der im Mittleren Osten unter der Führung der USA angesto-ßen wurde. In einem Interview mit dem kurdischen Fernsehsender STERK TV vom 27. Dezember 2019 Jahres charakterisiert Murat Karayilan, Mitglied im Leitungs-komitee der PKK, die strategische Mission des AKP-MHP-Regimes folgenderma-ßen: „Der türkische Staat folgt heute einem neuen Konzept. Erdoğan ist stark geschwächt. Die AKP und die MHP sind ein Bündnis miteinander eingegangen, doch ist es ihnen dadurch nicht gelungen, die Situation wirklich zu stabilisieren. Was also haben sie daraufhin getan? Sie haben Erdoğan in die Doppelfunktion von Parteichef und Präsident des Landes erhoben – und zwar mithilfe eines an beiden Ohren herbeigezogenen Systems, für das es auf der Welt kein vergleichbares Beispiel gibt. Das faschistische Regime der AKP und MHP macht ihre Zukunft von dem Erfolg dieses Projekts abhängig. Wenn es dem AKP-MHP-Regime gelingt dieses Projekt erfolgreich in die Tat umzusetzen – also die Kurdinnen und Kurden auszulöschen und die Macht der Türkei zu vergrößern – dann ist seine Zukunft gesichert. Schafft das Regime es nicht, wird es verschwinden. Deshalb ist Erdoğan nicht mehr der alte Erdoğan. Dessen sollte sich jeder bewusst sein. Die Mentalität Erdoğans stand auch früher schon diesen Kräften nah, doch heute steht er voll-ständig unter ihrer Kontrolle. Denn er ist zu 100% eins geworden mit der Staatsrä-son.“ Spätestens seitdem die Türkei im Sommer 2015 wieder einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und die PKK begonnen hat, wurde dem Land eine faschistische Staatsordnung verliehen. Erdoğan als Staatspräsident, die AKP und die MHP als Regierungsparteien, die türkische Staatsbürokratie, Militär, Medien und Wirtschaft – die Großzahl der entscheidenden Akteure haben sich auf eine gemeinsame Linie zur kompromisslosen Durchsetzung ihrer Interessen geeinigt. Im Rahmen der NATO werden ihnen dafür die notwendigen militärischen, wirt-schaftlichen, geheimdienstlichen oder politischen Mittel zur Verfügung gestellt.


Imperialistische Ambitionen und Völkermord

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion werden die Grenzen im Mittleren Osten neu gezogen. Die amerikanische Intervention im Irak 1991 läutete diese Phase mit Nachdruck ein. Staaten wie der Irak, Syrien, Libyen, Libanon, Jemen, aber auch Ägypten, Tunesien und Algerien sind seither entweder größtenteils zerfallen oder können nur unter massivem Druck zusammen gehalten werden. Nur den beiden Regionalmächten Iran und Türkei ist es bisher gelungen, das Chaos im Mittleren Osten in gewissem Maße für sich zu nutzen. Die Zerschlagung ganzer Länder durch die Interventionen von NATO-Staaten oder Russland sieht die Türkei als Gelegenheit für die Umsetzung historisch weit zurückreichender eigener imperia-listischer Pläne. Murat Karayilan bringt die dahinter stehende Logik in dem oben erwähnten Interview folgendermaßen auf den Punkt:

„Die aktuelle türkische Staatsräson verfolgt in etwas diese Linie: `In den kommen-den zehn Jahren wird es im Mittleren Osten zu bedeutenden Veränderungen kom-men. Die politische Landkarte der Region wird neu gestaltet werden. Die USA und andere Staaten werden auf dieser Grundlage Veränderungen vornehmen. In die-sem Rahmen wird man den Kurd*innen einen Platz gewähren. Kurdis-tan wird gegründet werden. Die Gründung Kurdistans bedeutet die Verkleinerung der Türkei. Ein Drittel des türkischen Staatsgebietes wird verloren gehen. Um das zu verhin-dern, müssen wir die Dramatik der Lage anerkennen und eine Bewegung zur Neugründung der Türkei anstoßen.“ Die Machthabenden der Türkei haben den aktuellen Krieg wiederholt als neuen türkischen Befreiungskrieg und Überlebens-kampf des Landes bezeichnet. […] Das grundlegende Ziel dieser Logik ist die Vernichtung der kurdischen Errungenschaften. Dafür muss zu jedem Preis verhindert werden, dass sich die Kurdinnen und Kurden in Rojava einen Status erkämpfen. In der syrischen Verfassung soll das Wort „Kurdin bzw. Kurde“ nicht einmal erwähnt werden. „Wenn so etwas geschieht, werden wir eingreifen“, drohen sie. Indem sie ihre Position in Syrien derart stark ausbauen, möchten sie dafür sorgen, dass die syrische Verfassung unter ihrer Kontrolle neu geschrieben wird. […] Die neue faschistische Mentalität unter Führung Erdoğans betrachtet den Vertrag von Lausanne als eine Beleidigung. Ihr Ziel ist die Umsetzung des Misak-ı Milli. Genau mit diesem Ziel möchte Erdoğan jetzt Soldaten nach Libyen schicken. Die Pläne der Türkei bezüglich dem östlichen Mittelmeer, Libyen, Syrien, Irak und den anderen Bereichen des Misak-Milli beruhen alle darauf.“

Der Preis, den die Türkei bereit ist dafür zu zahlen, ist ein Völkermord an den Kurd*innen. Unterstützt von den NATO-Partnern, ohne deren Unterstützung der kriselnde türkische Staat nicht dazu in der Lage wäre, vertreibt, assimiliert und ermordet die Türkei aktuell die Dorfbevölkerung Südkurdistans (Nordirak), Hunderttausende in den nordsyrischen Regionen Efrîn, Girê Spî oder Serêkanîyê und die kurdische Bevölkerung auf türkischem Staatsgebiet. Seit 2015 führt die Türkei dafür erneut einen Krieg, der das Land mittlerweile militärisch, wirtschaftlich und politisch in eine schwerwiegende Krise geführt hat. Mit der Invasion in Efrîn im Januar 2018 begann die Phase der offenen Kooperation mit radikalislamistischen Gruppen, die bis heute andauert. Die Kriegs- und Menschen-rechtsverbrechen, die türkische Soldaten gemeinsam mit ihren dschihadistischen Verbündeten in Efrîn, Girê Spî und Serêkanîyê tagtäglich begehen, sind umfassend dokumentiert. Weniger bekannt ist, dass die türkische Armee dschihadistische Söldner aktuell auch in ihrem Krieg gegen die Guerilla in den Bergen Südkurdistans (Nordirak) einsetzt. In einem Interview vom 28. Dezember 2019 äußert sich ein Mitglied der Frauenguerilla YJA-STAR, die in Südkurdistan gegen die türkische Besatzung kämpft, dazu: „Der faschistische türkische Staat meint mithilfe der Söldner des Islamischen Staates (IS) die PKK vernichten zu können. Derzeit führen wir in Haftanin [Region in Südkurdistan bzw. Nordirak; hauptsächlich unter Kontrolle
der Guerilla] einen Krieg gegen Söldner des IS, anstatt gegen die Soldaten des türkischen Staates. Weil der türkische Staat sich vor dem Krieg fürchtet, bringt
er IS-Söldner in die Berge Kurdistans.“

https://vimeo.com/354355627
Links between Turkish State and jihadist groups (english)


Chaos mit deutscher Unterstützung

Krieg und Völkermord im Mittleren Osten werden nicht allein von der Türkei be-trieben. Es ist die Unterstützung strategischer Partner wie Deutschland, die all das in diesem Umfang erst möglich macht. Die mediale Auseinandersetzung mit den deutsch-türkischen Beziehungen bleibt leider oft oberflächig und greift Vorkomm-nisse isoliert voneinander auf. Besonders gerne wird der europäisch-türkische Flüchtlingsdeal diskutiert, wobei die deutschen Medienvertreter immer wieder zu dem Schluss kommen, er sei sinnvoll und müsse fortgesetzt werden. In einem ausführlichen Interview durfte das zuletzt noch einmal Gerald Knaus darlegen, der als „Architekt des Flüchtlingsdeals“ bezeichnet wird: „Das zu finanzieren ist im Interesse dieser Menschen [der Geflüchteten aus Syrien], der Türkei, der EU, und im Interesse Deutschlands. Es wäre verantwortungslos, das nicht weiter zu tun.“

Es ist wichtig zu verstehen, dass hier nicht nur über einen Flüchtlingsdeal geurteilt wird, sondern über die strategischen Dimensionen der deutsch-türkischen Partner-schaft. Dieses Abkommen zwischen der EU und der Türkei, das unter Leitung deutscher staatlicher Stellen ausgearbeitet und verhandelt wurde, sorgt nicht nur
für den Transfer von sechs Milliarden Euro in die Türkei. Es verschafft dem AKP-MHP-Regime und dem türkischen Präsidenten Erdoğan dringend notwendige politi-sche Anerkennung, präsentiert ihn als einen vertrauenswürdigen Gesprächspart-ner und hält dem türkischen Regime die Tür zu allerlei diplomatischen Foren offen. Der Flüchtlingsdeal wird insbesondere von der deutschen Regierung dafür genutzt, über etwas zu diskutieren und zu entscheiden, dass bei der Gesellschaft Deutsch-lands überhaupt nicht gut ankommt: die umfassende Zusammenarbeit Deutsch-lands mit der Türkei. Die geschürten Ängste vor einer erneuten Ankunft von Ge-flüchteten im Stil des Sommers 2015 nutzen Regierung, Staatsbürokratie und Medien in Deutschland, um die Auseinandersetzung mit der deutschen Beteiligung an türkischen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen zu verhindern und Proteste zu unterdrücken. Am 29. Dezember 2019 fand Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), dafür deutliche Worte: „All die Länder, die behaupten, sie seien gegen die Politik der Türkei, wollen die kurdische und die europäische Bevölkerung täuschen. Mit ihrem scheinheiligen Protest möchten sie den gesellschaftlichen Unmut und Widerstand behindern. Unter der Hand unterstützen sie Erdoğan auf jegliche erdenkliche Weise. Erdoğan wird dadurch ermutigt. Er benutzt die Beziehungen zur Europa und zur NATO. Merkel unterstützt Erdoğans Politik besonders stark. Sie macht sich dadurch mitverantwortlich für den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden. Das muss eindeutig verurteilt werden.“

„Operation Quelle des Friedens“ oder der Vernichtungsfeldzug der Türkei gegen Rojava (2019)

Ausführliche Informationen folgen in kürze.

BRD und Türkei – eine Langzeitbeziehung


Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


Der kurdisch-türkische Konflikt

Im Jahr 2013 keimte in der Türkei Hoffnung auf Frieden und demokratischen Wandel. Die Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und dem kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan führten zu einem Waffenstillstand zwischen der türkischen Armee und der PKK. Dieser wurde jedoch 2015 seitens der Regierung aufgekündigt, nachdem die AKP von Präsident Erdogan anfing, im politischen Prozess an Macht zu verlieren und die Gesellschaft demokratische Strukturen nach den Ideen Abdullah Öcalans in den kurdischen Städten errichtete.
Um diesen Prozess umzukehren wurde Abdullah Öcalan unter totale Isolation gestellt und die türkische Armee begann einen brutalen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, in dem tausende ZivilistInnen ihr Leben verloren und ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht wurden.

Die Repressionen Deutschlands zu Gunsten Erdogans

Auch in Deutschland machte sich der türkische Kurswechsel bemerkbar. Durch seinen unmoralischen „Flüchtlingsdeal“, bei dem Erdogan die europäische Angst vor der Einwanderung syrischer Kriegsflüchtlinge nutzte, um seinen Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung zu finanzieren, machte sich Deutschland erpressbar. Die türkische Politik gewann zunehmend Einfluss auf die deutschen Staatsorgane und die traditionelle Zusammenarbeit in der Unterdrückung kurdischer Freiheitsbestrebungen erreichte ein neues Level. Selbst kulturelle Institutionen, die jahrzehntelang für Vielfalt und Integration in Deutschland sorgten, wurden Opfer dieser Politik. Kurdische Presse, StudentInnen- und Kulturverbände und sogar ein Buch-verlag wurden nach türkischen Vorbild mit Repressionen überzogen. Jegliche Forderungen für die Freiheit von Abdullah Öcalan und sogar sein bloßes Abbild wurden kriminalisiert.

Deutschland – Türkei: Eine Langzeitbeziehung

Diese Zusammenarbeit gipfelte im völkerrechtswidrigen Überfall der türkischen Armee auf die kurdische Region Efrîn im benachbarten Syrien. Neben islamistischen Banden bestehend aus ehemaligen Kämpfern von Al-Qaida und dem IS, wurde die türkische Armee hierbei auch von deutschen Aufklärungsflügen und massiven Waffenlieferungen aus deutscher Produktion unterstützt. Die ganze Welt schaute zu wie hunderttausende Menschen vertrieben, Dörfer und Städte geplündert und Frauen und Mädchen versklavt und vergewaltigt wurden, doch statt Erdogan vor ein Kriegsgericht zu stellen oder zumindest Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen, wurde dem mittlerweile alleinigen Herrscher der Türkei noch im gleichen Jahr in Deutschland der rote Teppich ausgerollt und Tee serviert.
Schon wieder ließ die deutsche Regierung sich erpressen und verschloss die Augen deshalb vor der Realität. Denn wie schon vor 140 Jahren der Bau der Bagdadbahn durch deutsche Unternehmen die schwächelnde Wirtschaft des Osmanischen Reiches ankurbelte, soll heute deutsches Geld und Know-How dafür sorgen, dass das innertürkische Schienennetz komplett modernisiert wird. Bei der Vergabe des attraktiven 35 Mrd. Euro schweren Auftrag buhlen derweil deutsche Unternehmen gegen chinesi-sche Industriekonzerne. Um die Wirtschaftsgiganten im eigenen Land gnädig zu stimmen, sollte die Bundesregierung also auf Maßnahmen verzichten, die den launischen Präsidenten in Ankara beim Bau seiner Schienen gen China blicken lassen würden. Diese Rechnung sichert der Türkei freie Fahrt auf dem politischen Spielfeld, doch wurde diese Rechnung ohne die freiheitlichen Kräfte der jeweiligen Länder gemacht.

Erdogans Verzweiflung gegen den Widerstand

Der heldenhafte Hungerstreik der kurdischen HDP-Abgeordneten Leyla Güven und den Tausenden, die mit ihr bereit sind sogar ihr Leben für eine freie und gerechte Gesellschaft zu geben, bewegt schon heute die Massen – in der Türkei und auch in Deutschland. Kein Wunder, denn die Umsetzung der einzigen Forderung Leyla Güvens, nämlich die Aufhebung der menschenrechtsverachtenden Totalisolation von Abdullah Öcalan, würde die Aufnahme des 2015 abgebrochenen Friedensprozesses mit der kurdischen Freiheitsbewegung bedeuten.

Quelle: YXK/ JXK Deutschland

WEITERE INFORMATIONEN:

Civaka Azad: Freunde fürs Leben – die strategische Dimension der deutschtürkischen Partnerschaft in Zeiten des Umbruchs

Der Mittlere Osten befindet sich in einer Phase tiefgreifender Umgestaltung. In diesem Zusammenhang kommt den deutsch-türkischen Beziehungen aus der Sicht beider Länder eine besondere Bedeutung bei der Sicherung ihrer jeweiligen Interessen zu. Die gemeinsame Verfolgung politischer, wirtschaftlicher, militärischer und geostrategischer Interessen fußt auf einer mehrere Jahrhunderte alten Tradition deutsch-türkischer Beziehungen. Beide Länder verbindet eine strategische Partnerschaft. Vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen Verschränkung Deutschlands und der Türkei auf politischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Ebene erscheinen die Streitigkeiten um inhaftierte Deutsche in der Türkei und Nazi-Beschimpfungen durch türkische Regierungsvertreter als kurzweilige Unannehmlichkeiten. Der strategische Bündnispartner Türkei reagiert auf die Umbrüche in seiner unmittelbaren Nachbarschaft mit der Errichtung eines autokratischen Regimes und einer zunehmenden Verwicklung in die militärischen Konflikte der Region. Dabei sieht sich die Türkei selbst mit zunehmendengesellschaftlichen Widersprüchen und einem Krieg im Südosten des Landes konfrontiert. Für die deutsche Bundesregierung stellen sich in diesem Zusammenhang zwei zentrale Fragen: In wie fern wird Deutschland auch zukünftig in der Lage bleiben eigene Interessen im Mittleren Osten über den Bündnispartner Türkei durchzusetzen? Wie weit ist Deutschland bereit mit einem türkischen Regime zusammen zu arbeiten, das offen diktatorische Züge trägt und zunehmend nationales und internationales Recht missachtet?

Forderungen der Aktivist*innen im Rahmen der CDU-Besetzung

Diese Forderungen wurden während der Besetzung am 25.10.19 von den Aktivist*innen verlesen und von zahlreichen Medien aufgegriffen.

Internationalist*innen am Fenster des CDU-Büros

Zu allen Abkürzungen und Namen von Organisationen findet ihr eine kurze Beschreibung in der Übersicht zu kurdischen Organisationen und anderen Parteien in Kurdistan oder in der Übersicht zu faschistischen Organisationen in Kurdistan.


FORDERUNGEN AN DIE INTERNATIONALE GESELLSCHAFT

1. Wir fordern eine breite, intensive und weltbewegende Solidarität mit Rojava!
Wir rufen auf, zu einer umfangreichen Verteidigung der Menschen in Syrien
und einer einzigartigen Revolution in Rojava.

2. Wir fordern eine aktive militärische Intervention an der Seite der SDF gegen den Genozid Erdogans an den Völkern Nord- und Ostsyriens, sowie die sofortige Einrichtung einer permanenten Flugverbotszone über Nord- und Ostsyrien.

3. Wir fordern den sofortigen Abbruch jeglicher Maßnahmen zur Einrichtung einer türkisch-russischen Besatzungszone an der Grenze von Syrien zur Türkei.

4. Aufgrund der Bedrohung, welche der IS und verbündete jihadistische Milizen,
für die ansässige Bevölkerung und auch die internationale Gesellschaft darstellen, fordern wir die Verfolgung der sich in Händen der SDF befindlichen, sowie aufgrund der türkischen Invasion geflohenen IS Dschihadisten vor einem, einzig für diesen Zweck neu gegründeten, internationalen Gerichtshof.

5.
Wir fordern von allen Staaten und Rüstungsunternehmen weltweit die vollständige Einstellung des Exports von Waffen und Kriegstechnik an den türkischen Staat, sowie an dessen alliierte Kriegsparteien und Regierungen,
die den Jihad unterstützen.

6. Außerdem fordern wir den sofortigen Abbruch jeglicher politischen und wirtschaftlichen Kooperation, sowie Handelsbeziehungen mit dem türkischen
Staat und der AKP-MHP-treuen wirtschaftlichen Elite.

7. Wir fordern von der Bevölkerung den konsequenten Boykott türkischer
Produkte, Dienstleistungen und Institutionen. Demnach fordern wir die
Gesellschaft auf, Reisen in die Türkei zu unterlassen.

8. Wir fordern die Regierungen auf, die Türkei als unsicheres Reiseziel einzustufen.

9. Wir fordern internationale Akteure auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden
mit einer Sanktionierung des faschistischen AKP-MHP-Regimes aufgrund seiner kriegerischen Vernichtungswut gegen ethnische Minderheiten, Völkermord und Verstößen gegen internationale Konventionen.

10. Des Weiteren fordern wir die zeitnahe Verurteilung der Befehlshabenden der türkischen Invasion vor dem internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen wegen systematischer Vernichtung der Zivilbevölkerung in Rojava.

11. Wir fordern eine UN Resolution gegen die Türkei wegen Verstößen
gegen das Menschenrecht, gegen das Kriegsrecht, gegen das internationale
Völkerrecht und gegen die Genfer Konvention.

12. Wir fordern von der Europäischen Union die sofortige Einstellung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und damit einhergehende finanzielle Subventionen der EU an den türkischen Staat.

13.
Wir fordern die Aufhebung des „Flüchtlings-Deals“ der Bundesregierung mit
der Türkei mit all seinen Bedingungen und Leistungen, sowie die bedingungslose Aufnahme aller Geflüchteter aus der Türkei, Syrien und jedem anderen Land.

14. Wir fordern einen sofortigen Abschiebestopp der Bundesregierung und der
EU in die Herkunftsländer Türkei und Syrien, sowie alle anderen Länder.

15. Wir fordern eindringlich den Abzug der 3000 in Deutschland
stationierten MIT-Mitarbeiter*innen.

16.
Wir fordern die Aufhebung des 1994 erlassenen PKK-Verbots der Bundesregierung und die Entkriminalisierung kurdischer Fahnen und Symbole, kurdischer Kultur und Veranstaltungen!

17. Wir fordern die sofortige Einstellung und Revision der Verfolgung von Kurd*innen und anderen Personengruppen, welche sich der Befreiungs-
bewegung zugehörig fühlen.

18. Aus tiefstem Herzen fordern wir die sofortige Freilassung des 70-jährigen,
seit 21 Jahren in nahezu vollumfänglicher Isolation gefangen gehaltenen,
Vorreiters der Freiheitsbewegung in Kurdistan – Abdullah Öcalan!

19.
Wir fordern die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen
in der Türkei und überall!

20. Wir fordern von der CDU/CSU die sofortige Amtsenthebung und den Parteiausschluss für CDU/CSU-Mitglieder, welche in Vergangenheit und Gegenwart nachweislich türkische Faschist*innen unterstützt haben, in türkisch-nationalistischen Vereinen tätig waren oder Verbindungen zu anderen türkischen faschistischen Organisationen wie den Grauen Wölfen oder DITIB pflegen.

Stoppt die Massaker! Stoppt den Krieg! Stoppt den Genozid!

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